L 7 AS 1549/10 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 36 AS 3059/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 1549/10 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 16.08.2010 wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers auch im Beschwerdeverfahren.

Gründe:

I.

Der Antragsgegner wendet sich gegen die vom Sozialgericht (SG) Duisburg im Beschluss vom 16.08.2010 ausgesprochene Verpflichtung, dem Antragsteller vorläufig Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu gewähren.

Bei dem 1986 geborenen Antragsteller ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Nachteilsausgleiche "G, B und H" festgestellt. Die Stadt I gewährte dem Antragsteller (Bescheide vom 27.06.2008 und 20.05.2009) von Juli 2008 bis Mai 2010 Eingliederungshilfe für eine vollstationäre Maßnahme nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII).

Seit Februar 2010 ist der Antragsteller Beschäftigter im Eingangs- und Berufsbildungsbereich der Werkstatt für behinderte Menschen zur beruflichen Eingliederung (WfbM) nach § 40 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) im Haus G GmbH. Ein Entgelt wird von der Werkstatt nicht gezahlt. Der Antragsteller erhält Ausbildungsbeihilfe (Bescheid vom 11.03.2010) nach § 97 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) in Höhe von derzeit monatlich 62,- EUR und Leistungen des ambulanten Betreuten Wohnens. Er bewohnt seit Juni 2010 eine eigene Wohnung in C, für die Kosten für Unterkunft und Heizung von monatlich 321,75 EUR entstehen.

Mit Bescheid vom 21.5.2010 hob die Stadt I die Eingliederungshilfe ab Juni 2010 auf.

Am 31.05.2010 beantragte der Antragsteller beim Antragsgegner Grundsicherung. Mit Bescheid vom 21.06.2010 lehnte der Antragsgegner den Antrag ab. Der Antragsteller befinde sich im Eingangsbereich der WfbM. Damit verliere der Behinderte den Anspruch auf Grundsicherung. Hiergegen hat der Antragsteller am 13.07.2010 Widerspruch eingelegt.

Den Antrag des Antragstellers auf Gewährung von Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) lehnte die Stadt I mit Bescheid vom 05.07.2010 ab. Zur Begründung wies sie darauf hin, dass derjenige, der sich im Eingangs- oder Berufsbildungsbereich einer WfbM befinde, eine Rehabilitationsmaßnahme durchlaufe. Daher habe der zuständige SGB II-Träger einzelfallbezogen zu prüfen, ob Erwerbsfähigkeit vorliege. Aus der Aufnahme in diesen Bereich folge nicht automatisch die Erwerbsunfähigkeit. Auf eine Nachfrage des Antragsgegners bei der Stadt I teilte diese im Schreiben vom 21.07.2010 mit, dass in Fallkonstellationen wie der des Antragstellers von der Arge Feststellungen zur Erwerbsfähigkeit zu treffen seien. Sollte der ärztliche Dienst des Antragsgegners nach Prüfung eine individuelle Aussage zur Erwerbsfähigkeit des Antragstellers treffen, könnte diese nach Vorlage akzeptiert werden.

Am 02.08.2010 hat der Antragsteller beim SG Duisburg einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt, gerichtet darauf, ab Juni 2010 Leistungen zu erhalten. Das SG hat den Antragsgegner mit Beschluss vom 16.08.2010 ab 02.08.2010 vorläufig verpflichtet, dem Antragsteller Grundsicherung zu gewähren.

Hiergegen hat der Antragsgegner am 10.09.2010 Beschwerde eingelegt. Er ist der Ansicht, es sei von der Erwerbsunfähigkeit des Antragstellers während der gesamten Tätigkeit des Behinderten in der WfbM auszugehen und zwar auch dann, wenn ein Übergang zum Arbeitsmarkt angestrebt wird. Erst mit Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung sei von Erwerbsfähigkeit auszugehen.

Der Antragsgegner beantragt,

die Stadt I zum Verfahren beizuladen, den Beschluss des Sozialgerichts Duisburg zu ändern und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Der Antragsteller beantragt,

die Stadt I zum Verfahren beizuladen und die Beschwerde zurückzuweisen.

Er verweist auf die Ausführungen des SG im angegriffenen Beschluss.

II.

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Duisburg vom 16.08.2010 ist zulässig, in der Sache jedoch unbegründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 -, BVerfGK 5, 237).

Das SG hat die Antragsgegnerin zu Recht einstweilen verpflichtet, dem Antragsteller ab dem 02.08.2010 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu gewähren. Dem Antragsteller steht bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung die Leistung zu. Der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht.

Der Anspruch folgt aus § 44a Abs. 1, § 7, § 19 S. 1 SGB II. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen nach diesem Buch Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben bzw. die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben.

Der Antragsteller ist Berechtigter im Sinne von § 7 Abs. 1 SGB II. Er hat das 15. Lebensjahr vollendet, noch nicht die Altersgrenze erreicht und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der BRD. Die Leistungspflicht des Antragsgegners ergibt sich aus § 44a SGB II. Entgegen der Ansicht des Antragsgegners ist bei dem Antragsteller auch nicht von vorne herein Erwerbsunfähigkeit ohne weitere Ermittlungen zu bejahen.

Die Voraussetzungen des § 44a SGB II liegen nach summarischer Prüfung vor. Danach stellt die Agentur für Arbeit fest, ob der Arbeitsuchende erwerbsfähig und hilfebedürftig ist. Sofern der kommunale Träger oder ein anderer Träger, der bei voller Erwerbsminderung zuständig wäre, der Feststellung widerspricht, entscheidet die gemeinsame Einigungsstelle. Bis zur Entscheidung der Einigungsstelle erbringen die Agentur für Arbeit und der kommunale Träger Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Denn § 44a SGB II enthält nicht die Anordnung einer vorläufigen Leistung, sondern eine Nahtlosigkeitsregelung nach dem Vorbild des § 125 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III). Dies folgt aus dem Wortlaut und letztlich dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Danach soll zum einen ein Streit zwischen den Leistungsträgern der Grundsicherung und der Sozialhilfe gerade nicht "auf dem Rücken des Hilfebedürftigen" ausgetragen werden. Somit wird nach § 44a Abs. 1 S. 3 SGB II die Erwerbsfähigkeit fingiert und die Leistungspflicht des Grundsicherungsträgers besteht, bis die Einigungsstelle entschieden hat. Denn es soll zugunsten des Hilfebedürftigen sichergestellt werden, dass er nicht "zwischen den Stühlen" sitzt (BSG, Urteil vom 07.11.2006 - B 7b AS 10/06 R Rn. 19 f. zitiert nach juris; LSG NRW, Beschluss vom 17.02.2009 - L 7 B 326/08 AS ER; Blüggel in Eicher/Spellbrink, Kommentar zum SGB II, 2. Auflage 2008, § 44a Rn. 2, 29, 30). Zum anderen ergibt sich aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift des § 44a Abs. 1 S. 3 SGB II, der eine weite Auslegung gebietet, dass diese Regelung auch dann zur Anwendung kommt, wenn der Grundsicherungsträger von einer fehlenden Erwerbsfähigkeit ausgeht, sich aber nicht um eine Klärung der Angelegenheit mit dem zuständigen Leistungsträger des SGB XII bemüht hat (BSG, a.a.O., Rn. 20 zitiert nach juris; Blüggel, a.a.O., Rn. 23). Der Hilfebedürftige ist nicht nur bei einem schon bestehenden Streit zwischen den Leistungsträgern bis zu einer Entscheidung der Einigungsstelle nach deren Anrufung, sondern bereits im Vorfeld so zu stellen, als wäre er erwerbsfähig (vgl. BSG, a.a.O.).

In Anwendung dieser Grundsätze hat es der Antragsgegner versäumt, Ermittlungen zur Erwerbsfähigkeit des Antragstellers durchzuführen und nach deren Abschluss für den Fall, dass der Antragsgegner von der Erwerbsunfähigkeit des Antragstellers ausgeht, bei der Stadt Heidelberg anzufragen, wie diese die Erwerbsfähigkeit des Antragstellers beurteilt und dann ggf. die Entscheidung der gemeinsamen Einigungsstelle herbeizuführen. Daraus folgt, dass der Antragsgegner bis zum Abschluss des von § 44a SGB II eindeutig vorgeschriebenen Verfahrens dem Antragsteller Grundsicherung für Arbeitsuchende zu gewähren hat.

Schließlich kann sich der Antragsgegner auch nicht darauf berufen, dass die Erwerbsfähigkeit des Antragstellers bereits nach § 8 Abs. 2 SGB II wegen § 43 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 i.V.m. § 1 S. 1 Nr. 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) zu verneinen ist. Denn zum einen ist der Begriff der Erwerbsunfähigkeit im SGB VI und im SGB II inhaltlich keinesfalls deckungsgleich. Das SG hat zu Recht unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BSG (BSG, a.a.O) festgestellt, dass die Erwerbsfähigkeit nach § 8 Abs. 2 SGB II eigenständig zu interpretieren ist, wobei die vorhandenen Erkenntnisse aus dem Rentenversicherungsrecht als erste Anhaltspunkte Verwertung finden. Zum anderen kann die Antragsgegnerin auch nicht auf § 43 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 i.V.m. § 1 S. 1 Nr. 2 SGB VI verweisen, wonach erwerbsunfähig Versicherte nach § 1 S. 1 SGB VI sind, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können. Denn bei Behinderten, die in einer Werkstatt für Behinderte arbeiten, kann nicht zwangsläufig ohne weitere Prüfung von einer Erwerbsunfähigkeit des Betroffenen ausgegangen werden (BSG, Urteil vom 24.04.1996 - 5 RJ 34/95 Rn. 18; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 29.09.2009 - L 3 AS 24/08 Rn. 45 zitiert nach juris). Bereits zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit im rentenrechtlichen Sinn bedarf es eigenständiger Ermittlungen, wobei nicht die Wertigkeit der verrichteten Tätigkeit in der Werkstatt für Behinderte, sondern die wirtschaftliche Verwertbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Vergleichsmaßstab ist. (BSG, a.a.O., Rn. 18 f.). Individueller Ermittlungen der Antragsgegnerin bedarf es somit auch im Fall des Antragstellers.

Der Anordnungsgrund ist ebenfalls glaubhaft gemacht. Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass ohne die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Nach einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Umständen des Einzelfalls ist es für den Antragsteller nicht zumutbar, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Er verfügt außer der Ausbildungsbeihife nach § 97 SGB III über keine finanziellen Mittel. Er hat nach seinem glaubhaften Vortrag neben dem Bedarf für die Dinge des täglichen Lebens vor allem den Bedarf für die Kosten der Unterkunft und Heizung, um seinen mietvertraglichen Verpflichtungen nachzukommen, damit die aus medizinischer Sicht notwendige Maßnahme des ambulant Betreuten Wohnens nicht gefährdet wird.

Die Anträge auf Beiladung der Stadt I waren abzulehnen. Eine notwendige Beiladung nach § 75 Abs. 2 SGG kommt nicht in Betracht, da die Antragsgegnerin nach § 44a SGB II als primär Leistungsverpflichtete dem Antragsteller vorläufig Grundsicherung zu gewähren hat. Eine einfache Beiladung nach § 75 Abs. 1 SGG konnte unterbleiben. Die Stadt I wird von der Antragsgegnerin nach medizinischer Abklärung der Erwerbsfähigkeit des Antragstellers in das Verfahren einbezogen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG analog.

Der Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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