L 1 KR 285/10 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Neuruppin (BRB)
Aktenzeichen
S 9 KR 76/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 285/10 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 19. August 2010 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und sein Bevollmächtigter Rechtsanwalt Dr. Nanzka beigeordnet.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten im einstweiligen Rechtsschutzverfahren um Leistungen der häuslichen Krankenpflege (Medikamentengabe). Der 1955 geborene Antragsteller leidet unter anderem an Schizophrenie, geistiger Retardierung, Debilität und Anfallsleiden. Er benötigt deshalb -ärztlich verordnet- dreimal täglich Medikamente und ist nicht in der Lage, selbst für die Einnahme zu sorgen. Er wohnt in einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe, die von der Beigeladenen zu 2) betrieben wird. Die Medikamentengabe wird bislang durch den zugelassenen Pflegedienst Senio-Vital erbracht. Die Antragsgegnerin lehnte die Kostenübernahme für die Medikamentengabe mit der Begründung ab, die Antragstellerin sei in einer anerkannten Behinderteneinrichtung nach. § 43 a Sozialgesetzbuch Elftes Buch - SGB XI - untergebracht, weshalb diese Einrichtung die medizinische Behandlungspflege sicherzustellen habe. Am 23. Juni 2010 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Neuruppin den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Der Pflegedienst sehe sich wegen Nichterfüllung des Vertrages gezwungen, bei ausbleibendem Zahlungseingang den bestehenden Pflegevertrag zu kündigen und die Pflege einzustellen. Hieraus ergebe sich eine besondere Eilbedürftigkeit. Der Anordnungsanspruch ergebe sich aus § 37 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch -SGB V-. Das Sozialgericht hat den Antrag mit Beschluss vom 19. August 2010 abgelehnt und zur Begründung u. a. ausgeführt, dass einfachste medizinische Leistungen der medizinischen Behandlungspflege wie die Medikamenteneinnahme von der Beigeladenen zu 2) zu erbringen seien. Diese versuche, sich ihrer Verpflichtung aus §§ 43a, 42 Abs. 2 SGB Elftes Buch — SGB XI— zu entledigen, obwohl sie diese mittelbar durch die pauschalierte Kostenübernahme der zuständigen Pflegeklasse vergütet erhalte. Sie sei auch unter Zugrundelegung ihrer personellen Ausstattung, welche sich aus der zwischen ihr und der Beigeladenen zu 1) abgeschlossenen Vereinbarung gemäß § 75 Abs. 3 Sozialgesetzbuch 12. Buch ergebe, in der Lage, Behandlungspflege in Form der einfachen Medikamentengabe zu gewährleisten. Es seien drei volle Stellen für Krankenschwestern und eine 0,75 Stelle für einen Krankenpfleger ausgewiesen. Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde des Antragstellers vom 7. September 2010. Der Pflegedienst werde die ambulante Behandlung einstellen. Für die Gabe hochkomplexer Medikamente mit erheblichem Gefährdungspotenzial sei eine besondere Fachkunde erforderlich.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,

den Beschluss vom 19. August 2010 zu ändern und die Antragsgegnerin zu verpflichten, für den Antragsteller die Kosten der Medikamentenabgabe als häusliche Krankenpflege bis zur Entscheidung in der Hauptsache und mindestens drei Monate zu übernehmen bzw. den Antragsteller von diesen Kosten freizustellen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet.

Gemäß § 86 b Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Hierfür sind grundsätzlich das Bestehen eines Anordnungsanspruches und das Vorliegen eines Anordnungsgrundes erforderlich. Der Anordnungsanspruch bezieht sich dabei auf den geltend gemachten materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtschutz begehrt wird, die erforderliche Dringlichkeit betrifft den Anordnungsgrund. Die Tatsachen, die den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch begründen sollen, sind darzulegen und glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung).

Entscheidungen dürfen dabei grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Drohen ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, dürfen sich die Gerichte nur an den Erfolgsaussichten orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (ständige Rechtsprechung des Senats, siehe auch Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 -1 BvR 596/05-).

Ein Anordnungsanspruch ist zwar unter Berücksichtigung der überzeugenden Rechtsprechung des Landessozialgerichts Hamburg (Beschluss vom 12. November 2009, L 1 B 202/09 ER KR) grundsätzlich auch bei stationärer Unterbringung möglich. Ob dies hier aber der Fall ist oder nicht, wird abschließend im Hauptverfahren zu klären sein.

Es fehlt allerdings an der Notwendigkeit einer einstweiligen Regelung, weil nicht ersichtlich ist, dass der Antragsteller die von ihm benötigten Medikamente nicht mehr erhalten wird, wenn der Pflegedienst die Medikamentengabe nicht mehr durchführen wird. Es ist davon auszugehen, dass die Beigeladene zu 2) die nötige Hilfe als Maßnahme der medizinischen Behandlungspflege leisten wird. Der Antragsteller hat zwar eine eidesstattliche Versicherung der zuständigen Leiterin des Regionalverbundes der Beigeladenen zu 2) eingereicht, dass diese "als Einrichtung der Behindertenpflege" keine Leistungen der häuslichen Krankenpflege in Form der Medikamentengabe erbrächte, da sie dazu rechtlich nicht verpflichtet sei. Die Beigeladene zu 2) ist aber in bereits mehreren Verfahren vom Sozialgericht Neuruppin und vom hiesigen Landessozialgericht darauf hingewiesen worden, dass jedenfalls nach summarischer Prüfung im Eilverfahren dieser Rechtsstandpunkt irrig ist. Dass in dem Fall, dass der Pflegedienst die Medikamentengabe als häusliche Krankenpflege einstellt, die Beigeladene zu 2) ihren -mutmaßlichen- Pflichten gegenüber ihrem Auftraggeber, der Beigeladenen zu 1) nicht nachkommen wird und den Antragsteller sehenden Auges schweren Gesundheitsschädigungen aussetzen wird, ist nicht behauptet, geschweige denn glaubhaft gemacht. Der Senat teilt auch in diesem Verfahren des Eilrechtsschutzes den Rechtsstandpunkt des SO, dass die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Leistung häuslicher Krankenpflege in Form von Medikamentengabe durch die Pflicht der Beigeladenen zu 2), diese als medizinische Behandlungspflege zu leisten, verdrängt wird. Auf die Ausführungen wird nach § 142 SOG Bezug genommen. Es fehlt demnach auch an einem Anordnungsanspruch. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus entsprechender Anwendung von § 193 SOG. Dem Antragstellerin ist für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe nach § 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 114 Satz 1, 115, 119 Abs. 1 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) zu gewähren. Er ist ausweislich der eingereichten Unterlagen als Sozialhilfebezieher bedürftig gemäß § 73 a SGG i.V.m § 114 ZPO. Die Gewährung von Prozesskostenhilfe ist nach den genannten Vorschriften davon abhängig, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll jedoch nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Prozesskostenhilfe darf nur verweigert werden, wenn die Klage völlig aussichtslos ist oder ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine Entfernte ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. Juli 2005 - 1 BvR 175/05 - NJW 2005, 3849 mit Bezug u. a. auf BVerfGE 81, 347, 357f). Die Erfolgschancen des Eilantrages sind nicht nur ganz entfernt gewesen. Der Standpunkt des (Antragstellers, der sich auf die zitierte Entscheidung des LSG Hamburg bezogen hat, ist vertretbar. Die Hinzuziehung eines bevollmächtigten Rechtsanwaltes erscheint in diesem Einzelfall geboten (§ 121 Abs. 2 ZPO).

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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