S 1 KA 90/08

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Potsdam (BRB)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
1
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 1 KA 90/08
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit einer Auflage zur Durchsetzung der so genannten vertragsärztlichen Präsenz- und Residenzpflicht.

Die Klägerin ist eine Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) nach § 95 Abs. 1 Satz 2 Fünftes Buch/Sozialgesetzbuch (SGB V). Am 29.05.2007 beantragte sie die Anstellung von zwei Fachärzten für Strahlentherapie zum 01.07.2007 für 40 Stunden pro Woche. Dazu legte sie den jeweils vorgesehenen Arbeitsvertrag vor. Die Wohnsitze der anzustellenden Ärzte lagen in G. (230 km Entfernung) und in B. (69 km Entfernung).

Mit zwei Beschlüssen vom 26.09.2007 genehmigte der Zulassungsausschuss die Anstellung der beiden Strahlentherapeuten ab dem 01.10.2007 für 40 Stunden die Woche. Beide Beschlüsse enthielten jeweils die Auflage, dass der betroffene Arzt seinen Wohnsitz in die Nähe der Praxis zu verlegen habe.

Gegen diese Beschlüsse legte die Klägerin Widerspruch ein. Sie wandte sich ausschließlich gegen die Auflage zur Residenzpflicht der anzustellenden Ärzte. Diese Auflagen seien nicht rechtmäßig, da durch die besondere Versorgungsform der Klägerin, nämlich der eines MVZ, die Versorgung insgesamt gesichert sei. § 24 Abs. 2 der Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (Ärzte-ZV) sei daher hier nicht anwendbar.

Mit Beschluss vom 15.04.2008 wies der Beklagte beide Widersprüche zurück. Die Residenzpflicht nach § 24 Abs. 2 Ärzte-ZV gelte gem. § 1 Abs. 3 Nr. 2 Ärzte-ZV auch für das MVZ, so dass die Auflage zu Recht in beiden Fällen ergangen sei. Die von der Rechtsprechung vorgesehene Toleranzgrenze von 30 min. sei in beiden Fällen überschritten. Der von der Klägerin angeführte eine Vertreter vor Ort sei für eine zweifache Vertretung nicht ausreichend. Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer am 13.06.2008 vor dem Sozialgericht Potsdam erhobenen Klage. § 24 Abs. 2 Ärzte-ZV sei hier nicht anzuwenden, da dieser von einer Zulassung als Einzelpraxis ausgehe. Dies sei im Falle der Klägerin nicht zutreffend, da bei ihr mehrere Ärzte in einem Anstellungsverhältnis arbeiten, selbst keine zugelassenen Vertragsärzte sind. § 24 Ärzte-ZV gelte lediglich für das MVZ insgesamt, jedoch nicht für den Einzelnen angestellten Arzt, da dieser selbst kein zugelassener niedergelassener Vertragsarzt sei. Beide Ärzte seien vor der Anstellung bereits ermächtigt gewesen; eine Residenzpflicht sei nicht notwendig gewesen. Die Versorgung im Sinne des Urteils des Bundessozialgerichts vom 05.11.2003 (B 6 KA 2/03 R) sei durch die besondere Organisationsform eines MVZ gesichert. Diese Besonderheit habe der Beklagte bei den Auflagen nicht berücksichtigt. Darüber hinaus sei hier die Fachgruppe der angestellten Ärzte, Fachärzte für Strahlentherapie, zu berücksichtigen. Diese seien in keiner Weise mit einem niedergelassenen Facharzt für Allgemeinmedizin vergleichbar. Hinsichtlich der Behandlung von Notfällen verweist die Klägerin auf ein Schreiben der Kassenärztlichen Vereinigung, dass sie für den Bereitschaftsdienst nicht mehr einzelne Ärzte benennen müsse, sondern alternativ nur das jeweilige MVZ.

Die Klägerin beantragt,

den Beschluss des Beklagten vom 15.04.2008 insoweit abzuändern, dass die Anstellung der Beigeladenen zu 2) und 3) ohne Auflagen genehmigt wird.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist er auf den Inhalt seines Beschlusses. Er weise insbesondere darauf hin, dass es nicht um die Organisierung des Bereitschaftsdienstes gehe, sondern um die Erfüllung der vertragsärztlichen Pflichten der angestellten Ärzte während ihrer Arbeitszeit.

Das Gericht hat die Kassenärztliche Vereinigung Brandenburg sowie die beiden betroffenen Ärzte beigeladen. Die Beigeladene zu 1) schließt sich dem Vorbringen des Beklagten an. Es seien sicherlich Besonderheiten eines MVZ gegeben, jedoch seien auch die Fahrzeiten der angestellten Ärzte zu berücksichtigen. Der von der Klägerin benannte dritte Arzt als Vertretung sei hier nicht ausreichend. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Diese haben dem Gericht vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer hat in der Besetzung mit zwei ehrenamtlichen Richtern aus den Kreisen der Vertragsärzte und Krankenkassen entschieden, da es sich um eine Angelegenheit nach § 12 Abs. 3 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) handelt.

Die Klage ist zulässig, jedoch unbegründet. Der Beschluss des Beklagten ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Durch das GKV-Modernisierungsgesetz vom 14.November 2003 (BGBl. I S. 2190) ist seit dem 01.01.2004 entgegen der vorherigen Rechtslage der in einen MVZ angestellte Arzt als tragendes Versorgungselement eingeführt und die ärztliche Berufsausübung in der Rechtsform vom Kapital- und Handelsgesellschaften zugelassen (Wigge in: Schnapp/Wigge, Vertragsarztrecht, 2. Aufl., § 6 Rdnr. 62). Die MVZ nehmen an der vertragsärztlichen Versorgung nicht als eine ermächtigte Institution sondern vielmehr auf Grund einer Zulassung teil. Grundsätzlich sind nach § 72 Abs. 1 Satz 2 SGB V alle auf Vertragsärzte bezogenen Vorschriften des 4. Kapitels des SGB V auch für die MVZ anzuwenden, soweit nichts Abweichendes bestimmt ist. Dies gilt auch hinsichtlich der Regelungen der Ärzte-ZV. Nach § 1 Abs. 3 Nr. 2 Ärzte-ZV gelten die Regelungen der Ärzte-ZV für medizinische Versorgungszentren entsprechend. Dies hat zur Folge, dass auch § 24 Abs. 2 Ärzte-ZV gilt. Danach hat der Vertragsarzt seine Wohnung so zu wählen, dass er für die ärztliche Versorgung der Versicherten an seinem Vertragsarztsitz zur Verfügung steht. Damit war der Beklagte grundsätzlich berechtigt, auch im Falle der Organisationsform der Klägerin die Genehmigung zur Anstellung der beiden Fachärzte für Strahlentherapie mit der Auflage zu verbinden, den Wohnsitz in die Nähe der Praxis zu verlegen. Wie das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 05.11.2003 (SozR 4-5520 § 24 Nr. 1) ausgeführt hat, darf die sog. Residenzpflicht im Sinne von § 24 Abs. 2 Satz 2 Ärzte-ZV von den Zulassungsgremien mit einer der Zulassung beigefügten Auflage im Sinne des § 32 Abs. 2 Nr. 4 Zehntes Buch/Sozialgesetzbuch (SGB X) durchgesetzt werden, weil insoweit die gesetzlichen Voraussetzungen des Verwaltungsaktes (hier der Zulassung) erfüllt werden sollen (§ 32 Abs.1 SGB X). Die Erteilung einer Genehmigung zur Anstellung von Ärzten in Verbindung mit einer Auflage ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig.

Der Klägerin geht es nur um die Frage, ob inhaltlich die Auflage und somit die Residenzpflicht nach § 24 Abs. 2 Ärzte-ZV auf ihre besondere Organisationsstruktur anzuwenden sei. Dieser Auffassung steht grundsätzlich die Regelung in § 1 Abs. 3 Nr. 2 Ärzte ZV entgegen, da hier eindeutig geregelt wird, dass die Ärzte-ZV auch für die medizinischen Versorgungszentren entsprechend gelte. Die Kammer geht davon aus, dass dem Gesetzgeber mit der Neuregelung zum 01.01.2004 und der Einführung der medizinischen Versorgungszentren als Leistungserbringer in die vertragsärztliche Versorgung durchaus die besondere Organisationsform eines MVZ bekannt war. Gleichwohl ist zeitgleich auch § 1 Abs. 3 Ärzte-ZV dahingehend geändert worden, dass die Regelungen der Ärzte-ZV auch für das MVZ anzuwenden sind.

Die von dem Beklagten in seinem Beschluss bestätigte Auflage wiederholt lediglich den Inhalt des § 24 Abs. 2 Ärzte ZV. Einen konkreten Hinweis auf hinnehmbare Entfernungen zwischen Wohnsitz und Arbeitsstelle oder auf einen zeitlichen Rahmen des Arbeitsweges enthält die jeweilige Auflage nicht, so dass die Kammer diese Auflagen als rechtmäßig ansieht. Denn der von der Klägerin zitierten o. g. Entscheidung des Bundessozialgerichtes lag ein anderer Sachverhalt zugrunde. Hier hatten die Zulassungsgremien auf der Grundlage des § 24 Abs. 2 Ärzte-ZV konkret die Entfernung bestimmt, in welcher der Arzt seinen Wohnsitz nehmen sollte. § 24 Abs. 2 Ärzte-ZV selbst gibt jedoch keine konkreten Vorgaben hinsichtlich der kilometermäßigen Entfernung oder der zeitlichen Erreichbarkeit.

Die Residenzpflicht nach § 24 Abs. 2 Ärzte-ZV hat zum Zweck, dass der Arzt die mit der Zulassung bzw. Anstellungsgenehmigung übernommenen Pflichten ausfüllen kann. Sie dient somit der Sicherung der Beratungs- und Behandlungstätigkeit in seiner Praxis während der Sprechstunden. Denn entgegen der Auffassung der Klägerin geht es dem Beklagten mit der Auflage nicht um die Absicherung des Notfall- und Bereitschaftsdienstes (allein darauf bezieht sich auch das von der Klägerin eingebrachte Schreiben der Kassenärztlichen Vereinigung) und somit um die Versorgung außerhalb der Sprechstunden. Es kommt daher auch nicht vordergründig auf das Fachgebiet der angestellten Ärzte an. Die grundsätzlichen Pflichten eines Arztes nach seiner Zulassung bzw. wie hier nach einer genehmigten Anstellung übernehmen die von der Klägerin angestellten Ärzte gegenüber der Klägerin selbst. Insofern wird ihr die Genehmigung zur Anstellung der Ärzte, ggf. mit Auflagen, erteilt, und es obliegt ihr die Verantwortung für eine ordnungsgemäße Versorgung der von ihren angestellten Ärzten behandelten Patienten. Das wird von der Klägerin auch nicht bestritten. Vielmehr trägt sie selbst vor, dass auf Grund der Organisationsform in einem MVZ die ärztliche Versorgung immer gesichert ist. Sie fungiert als Arbeitgeber für die angestellten Ärzte und haftet zunächst "auch für eine Schlecht- bzw. Nichtleistung" eines von ihr angestellten Arztes.

Das Bundessozialgericht hat in der bereits zitierten Entscheidung ausgeführt, dass § 24 Abs. 2 Ärzte ZV den Zweck hat, die sich in Satz 1 beschriebene Verpflichtung abzusichern, in der Praxis Sprechstunden abzuhalten und in dieser Zeit für die Versicherten erreichbar zu sein, ohne eine konkrete Vorgabe zu machen. In diesem eingeschränkten Verständnis erweist sie sich als zulässige Regelung der vertragsärztlichen Berufsausübung im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (BSG, a. a. O.).

§ 24 Abs. 2 Ärzte-ZV hat somit allein eine Sicherungsfunktion. Das beinhaltet nach Auffassung der Kammer auch, dass diese im Einzelfall konkret als Auflage in eine Zulassung oder wie hier in eine Genehmigung aufgenommen wird. Welche tatsächliche kilometermäßige Entfernung oder zeitliche Erreichbarkeit als angemessen gilt, ist gesetzlich nicht geregelt und darf grundsätzlich auch nicht vorgegeben werden. Allein im Fall von Belegärzten geht die Rechtsprechung von einem bis 30mintügem hinnehmbarem Anfahrtsweg aus, was sich aus seiner Verpflichtung der unverzüglichen und ordnungsgemäßen Versorgung der von ihm ambulant und stationär zu betreuenden Versicherten ergibt. Im Übrigen bedarf es einer Beurteilung im Einzelfall (BSG, a. a. O., m. w. N.). Eine schematische Kilometer- bzw. Minutenvorgabe ist nicht möglich, denn gerade in Großstädten oder Ballungsgebieten können bereits zehn Kilometer eine Fahrzeit von fast einer Stunde nach sich ziehen. Es muss vielmehr in jedem Fall u. a. durch einen angemessenen Anfahrtsweg zur Praxis gesichert sein, dass der Arzt in der gesundheitlich erforderlichen Form die Sprechstundenzeiten grundsätzlich pünktlich eingehalten kann. Diese Verantwortung trägt in einem MVZ wie die Klägerin diese selbst, ist die Auflage ihr gegenüber zu erteilen.

Im Fall des Beigeladenen zu 3) dürfte nach Auffassung der Kammer aufgrund einer Entfernung zwischen Wohnsitz und Praxis von 230 Kilometern eine tägliche Anreise ausgeschlossen sein bzw. zumindest eine ordnungsgemäße Durchführung täglicher Sprechzeiten gefährdet sein. Ob dies bei dem Beigeladenen zu 2) (Entfernung 69 Kilometer, Fahrzeit ca. 40 Minuten) auch der Fall ist, kann hier dahinstehen. Denn für keinen der beiden Ärzte enthält die Auflage eine konkrete Vorgabe. Letztendlich bedeutet die Auflage in den Genehmigungsbescheiden nur, dass die Klägerin ihre Verantwortung als Arbeitgeber für den angestellten Arzt wahrnimmt und auch unter dem Aspekt der Fürsorgepflicht daraufhin wirkt, dass ihre angestellten Ärzte in angemessener Zeit die Praxis zu den Sprechzeiten erreichen, was bspw. auch bereits durch einen Zweitwohnsitz gesichert werden kann. Wie nochmals im Termin zur mündlichen Verhandlung vom Beklagten angeboten, obliegt es der Klägerin damit nur, einen Organisationsplan für den Fall des nicht möglichen pünktlichen Beginns der Sprechzeiten vorzulegen. Sicherlich hat zwar nicht jeder niedergelassene Vertragsarzt einen derartigen Notfallplan. Zumindest ist es dann jedoch durchaus gängige Praxis, dass zumindest die Schwester weiß, an welchen Vertreter sie besonders dringende Fälle verweisen muss. Diese Aufgabe obliegt hier der Klägerin und zwar unabhängig von der Fachrichtung eines Arztes, da jeder Arzt grundsätzlich an bestimmte Sprech- und Behandlungszeiten gebunden ist und diese auch erfüllen muss.

Da die Auflage in dem angefochtenen Beschluss allein die Verpflichtung zur Beachtung der Residenzpflicht nach § 24 Abs. 2 Ärzte-ZV enthält, ohne eine konkrete kilometer- bzw. minutenmäßige Vorgabe zu bezeichnen, ist diese Auflage als rechtmäßig anzusehen, ist die Klägerin insofern ggf. nicht einmal beschwert.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Rechtskraft
Aus
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