L 7 AS 887/10 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 9 (23) AS 106/09
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 887/10 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Aachen vom 14.04.2010 geändert. Der Klägerin wird für das Klageverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt I aus E beigeordnet. Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die 1980 geborene, im Leistungsbezug bei der Beklagten stehende Klägerin beantragte im Februar 2009 unter Hinweis auf eine Einstellungszusage der Firma S GmbH die Übernahme der Kosten für den Erwerb eines Führerscheins der Klasse D. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 22.4.2009 ab. Die Erlangung des Führerscheins Klasse D werde nicht gefördert, da auf diesem Arbeitsmarktsektor ein Überhang an Fachkräften bestehe. Mit E-Mail vom 23.04.2009 legte die Klägerin hiergegen Widerspruch ein. Die Beklagte wies diesen mit Widerspruchsbescheid vom 24.04.2009 mit der Begründung, der Widerspruch sei nicht unter Beachtung des Schriftformerfordernisses eingelegt worden, als unzulässig zurück. Zudem erteilte sie der Klägerin den Hinweis, dass bis zum Ende der Widerspruchsfrist am 27.05.2009 der Widerspruch formgerecht eingelegt werden könne. Die Zustellung erfolgte am 28.04.2009 im Wege der Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten.

Die Klägerin hat gegen den Widerspruchsbescheid am 12.06.2009 Klage beim Sozialgericht (SG) Aachen erhoben. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwaltes datiert vom 27.08.2009. Den am 05.10.2009 gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begründete die Klägerin damit, dass ihr der Widerspruchsbescheid von ihrem Ehemann erst am 03.06.2009 ausgehändigt worden sei. Ihr Ehemann habe den Widerspruchsbescheid am 28.04.2009 aus dem Briefkasten geholt, in seine Jackentasche gesteckt und das Dokument erst am 03.06.2009 wieder entdeckt, als er die Jacke wieder angezogen habe. Da ihr das Verhalten ihres Ehemann nicht zugerechnet werden könne, sei sie ohne Verschulden an der Einhaltung der Klagefrist gehindert gewesen.

Des Weiteren habe sie entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten sehr wohl rechtzeitig Widerspruch eingelegt. Ihren schriflichen Widerspruch habe sie als Brief mit eigenhändiger Unterschrift als Einschreiben mit Rückschein an die Beklagte geschickt. Der Brief sei von der Post mit dem Vermerk "nicht abgeholt" am 12.05.2009 zurück gekommen. Zum Nachweis legte die Klägerin die Kopie des schriftlichen Widerspruchs, den Nachweis über die Versendung mit Einschreiben/Rückschein und die Kopie des Briefumschlages mit den Vermerken "Abholbenachrichtigung 25.04.2009" und "nicht abgeholt 12.05.2009" vor. Somit sei der Widerspruchsbescheid vom 24.04.2009 rechtswidrig und aufzuheben. Sie habe Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung. Die im ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 22.04.2009 enthaltende Begründung für die Ablehnung der Förderung könne keinen Bestand haben. Denn trotz des dort angeführten Überhangs an Arbeitskräften sei die Stelle bei der Firma S GmbH nach wie vor unbesetzt. Es werde daher bestritten, dass damals oder heute ein Fachkräfteüberhang bestand bzw. besteht.

Das SG hat die Gewährung von Prozesskostenhilfe mit Beschluss vom 14.04.2010 abgelehnt. Die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) lägen nicht vor. Die Klägerin, die es dem Ehemann überlassen habe, den Briefkasten zu leeren, müsse sich dessen Verschulden, d. h. die unterlassene Aushändigung des Widerspruchsbescheides, zurechnen lassen. Zudem liege ein Organisations- und Überwachungverschulden vor. Denn das Überlassen der Leerung des Briefkastens durch Dritte müsse gekoppelt sein an Kontrollmaßnahmen wie das Durchsehen der Post oder die Nachfrage, ob und welche Post eingegangen sei.

Die Klägerin hat rechtzeitig Beschwerde eingelegt und vorgetragen, dass die Post aus dem Briefkasten stets auf den Schreibtisch bzw. die Garderobe im Flur gelegt werde. Dies sei stets zuverlässig entweder von ihr oder von ihrem Ehemann so gehandhabt worden. Daher erübrige sich eine Nachfrage oder Überwachung, zumal die Post und jedem zugänglich sei.

II.

Die zulässige Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des SG Aachen vom 14.04.2010 ist begründet. Das SG hat den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwaltes zu Unrecht abgelehnt.

Nach § 73a Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Für die Annahme einer hinreichenden Erfolgsaussicht genügt eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 9. Auflage 2008, § 73a Rn. 7, 7a).

Die Klägerin ist nach ihren wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage, die Kosten der Rechtsverfolgung aufzubringen. Bei der im Prozesskostenhilfeverfahren gebotenen summarischen Prüfung ist eine Erfolgswahrscheinlichkeit zu bejahen.

Die Klage ist entgegen der Rechtsauffassung des SG zulässig. Zwar hat das SG zutreffend ausgeführt, dass die Klage nicht binnen Monatsfrist nach § 87 Abs. 1 S. 1 SGG erhoben worden ist. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 SGG ist jedoch zu gewähren. Diese wird gewährt, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Der Antrag ist binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen. Ein Beteiligter muss sich hierbei auch das Verschulden eines Dritten, insbesondere seines Bevollmächtigten, also des gewillkürten Vertreters, zurechnen lassen (Zeihe, Kommentar zum SGG, § 67 Rn. 3a ff., 3b aa). Die Person, die anstelle des Beteiligten ein Schriftstück entgegen nimmt (Ersatzzustellung), ist nicht Prozessbevollmächtigter oder Vertreter. Deren Verschulden braucht der Beteiligte sich nicht zurechnen zu lassen, wenn die Sendung nicht an den Adressaten weitergegeben wird, sofern nicht der Adressat die Zustellung erwarten muss, Nachforschungen unterlässt oder mit einem Verschulden der Ersatzperson rechnen muss. (BSG, Urteil vom 21.05.1963 - 9 RV 294/60, Rn. 12 ff juris; Zeihe, a.a.O., Rn. 3e; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 9. Auflage 2008, § 67 Rn. 8). Die Klägerin muss sich das Verschulden ihres Ehemannes, der versehentlich den Widerspruchsbescheid in die Jacke steckte, somit nicht zurechnen lassen. Nach ihrem Vortrag gab es bisher keine derartigen Versäumnisse. Die Post wurde stets an einen für alle Beteiligten zugänglichen Ort deponiert. Zudem musste die Klägerin auch nicht mit der alsbaldigen Zustellung des Widerspruchsbescheides rechnen. Denn es war unwahrscheinlich und lebensfremd, dass auf den Widerspruch vom 23.04.2009 bereits am 24.04.2009 ein Widerspruchsbescheid erlassen werden würde.

Die Verneinung der Erfolgsaussicht kann auch nicht unter Hinweis auf die Gründe des Widerspruchsbescheides erfolgen. Zwar ist es zutreffend, dass im Zeitpunkt der Entscheidung der Beklagten am 24.04.2009 nur der als E-Mail übersandte Widerspruch der Klägerin vorlag und dieser dem Schriftformerfordernis des § 84 Abs. 1 SGG nicht entsprach. Die Klägerin hat jedoch nach ihrem Vortrag mit Einschreiben innerhalb der Widerspruchsfrist schriftlich Widerspruch eingelegt. Der Widerspruchsbescheid vom 24.04.2009 ist somit rechtswidrig. Das Vorverfahren ist durchzuführen nach § 78 Abs. 1 S. 1 SGG. In diesen Verfahrenskonstellationen ist das Verfahren nach § 144 SGG auszusetzen und der Klägerin bzw. dem Kläger die Möglichkeit zu geben, das Vorverfahren nachzuholen (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, § 78 Rn. 2a, 3a). Das SG darf die Beklagte nicht durch Endurteil zur Entscheidung über den Widerspruch verurteilen. Die Durchführung des Widerspruchsverfahrens ist nicht entbehrlich. Zum einen wird die Beklagte Ermessen ausüben müssen und den Vortrag der Klägerin insoweit in ihre Entscheidung einbeziehen müssen. Zum anderen liegt entgegen der früher verbreiteten Auffassung in der Klageerwiderung im anhängigen Streitverfahren kein Widerspruchsbescheid. Der Klageabweisungsantrag macht den Erlass eines Widerspruchsbescheides nicht entbehrlich (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 78 Rn. 3c).

Außergerichtliche Kosten sind im Prozesskostenhilfe-Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten (§ 127 Abs. 4 ZPO).

Der Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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