L 20 AS 21/09

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
20
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 22 AS 281/07
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 20 AS 21/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 AS 67/11 R
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 19.03.2009 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten noch, ob der Klägerin für den Monat Juli 2007 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu erbringen sind.

Die am 00.00.1994 geborene Klägerin lebte im streitigen Zeitraum mit ihrer Mutter (gesetzliche Vertreterin) sowie deren Ehemann, Herrn T1, in einem gemeinsamen Haushalt in einer Mietwohnung. Die Mutter und ihr Ehemann haben keine gemeinsamen Kinder. Der Ehemann überwies im Juli 2007 seinem nicht im gemeinsamen Haushalt wohnenden Sohn T ohne Vorliegen eines Unterhaltstitels Unterhalt in Höhe von 200,00 EUR. Der Klägerin überwies er ein Taschengeld von 50,00 EUR. Der leibliche Vater der Klägerin, Herr T, war zwar aufgrund eines entsprechenden Titels zur Zahlung von monatlich 337,00 EUR Unterhalt an die Klägerin verpflichtet; er war jedoch nicht leistungsfähig. Die Mutter der Klägerin erhielt für die Klägerin 154,00 EUR Kindergeld. Sie erzielte selbst ein Nettoeinkommen von 303,28 EUR. Ihr Ehemann erzielte im Juli 2007 ein Nettoeinkommen von 2.351,98 EUR; am 12.07.2007 wurde ihm zudem Einkommensteuer i.H.v. 3.312,68 EUR erstattet. Die Kosten für Unterkunft und Heizung trug er vollständig allein.

Die Mutter der Klägerin beantragte am 05.07.2007 die Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II. Dabei gab sie an, mit ihrem Ehemann sowie ihrer Tochter in einem gemeinsamen Haushalt zu leben. Die Netto-Miete inkl. Betriebskosten betrage 340,00 EUR. Zu Heizkosten machte sie keine Angaben. Für ihre Tochter beziehe sie Kindergeld. Es seien keine Spar- und Bankguthaben vorhanden; dies gelte nur für sie und die Klägerin.

Mit Bescheid vom 20.08.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2007 lehnte die Beklagte die beantragte Leistungsgewährung ab. Dabei war im Widerspruch vom 11.09.2009 ausgeführt worden, es werde (allein) Sozialgeld nach § 28 Abs. 2 SGB II für die Klägerin begehrt. Leistungen nach dem SGB II setzten Hilfebedürftigkeit voraus. Zur Bedarfsgemeinschaft gehörten neben der Klägerin auch ihre Mutter sowie deren Ehemann. Der Bedarf dieser Bedarfsgemeinschaft im Sinne des SGB II setze sich aus jeweils 312,00 EUR für die Mutter und den Ehemann sowie aus 208,00 EUR für die Klägerin zusammen, ferner aus Aufwendungen für Miete und Nebenkosten, die ausweislich der Angaben im Antrag 331,69 EUR monatlich betrügen. Damit ergebe sich einen Gesamtbedarf der Bedarfsgemeinschaft von 1.163,69 EUR. Anzurechnen sei insoweit jedoch das bereinigte Einkommen der Mutter der Klägerin von 162,62 EUR, das bereinigte Einkommen des Ehemannes der Mutter (ausgehend von einem durchschnittlichen Nettoeinkommen der letzten drei Monate von monatlich 2.321,20 EUR) von 1.811,20 EUR sowie das für die Klägerin gezahlte Kindergeld von 154,00 EUR. Das anzurechnende Einkommen von insgesamt 2.127,82 EUR übersteige den Bedarf der Bedarfsgemeinschaft, so dass keine Leistungen gewährt werden könnten. Wegen der Einzelheiten wird den Bescheid vom 20.08.2007 sowie dem Widerspruchsbescheid vom 21.11.2007 Bezug genommen.

Hiergegen hat die Klägerin am 21.12.2007 Klage erhoben. Sie hat vorgetragen, die von der Beklagten angewandten Vorschriften (§ 7 Abs. 3 i.V.m. § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II) seien verfassungswidrig. Durch willkürliche Zusammenfassung nicht miteinander verwandter Mitglieder einer Wohngemeinschaft in eine Bedarfsgemeinschaft werde das Unterhaltsrecht ausgehöhlt. Zudem werde gegen das Sozialstaatsprinzip verstoßen. Sie habe weder gegen ihre Mutter noch gegen deren Ehemann einen einklagbaren bzw. durchsetzbaren zivilrechtlichen Unterhaltsanspruch. Durch die Berücksichtigung des Einkommens des Ehemannes ihrer Mutter würden sowohl sie als auch die Mutter und deren Ehemann in ihren Rechten aus Art. 3 Grundgesetz (GG) verletzt. Während sich ihr leiblicher Vater auf Pfändungsfreigrenzen nach der Zivilprozessordnung (ZPO) berufen könne, würden ihre Mutter und deren Ehemann auf Sozialhilfeniveau verwiesen. Es bestehe im Übrigen keine Vermutung, dass der Ehemann ihrer Mutter ihr Unterhalt leiste. Dass er sämtliche Wohnungs- und Heizkosten alleine trage, ergebe sich allein aus einer vertraglichen Verpflichtung gegenüber dem Vermieter. Dass er ihr monatlich ein Taschengeld zahle, solle nur verhindern, dass sie im Verhältnis zu Freunden und Schulkollegen ins soziale Abseits gestellt werde. Es handele sich ohnehin um eine freiwillige Leistung, die der Ehemann ihrer Mutter jederzeit einstellen könne. Ihr verfassungsrechtlich garantiertes Existenzminimum werde ihr vorenthalten. Im Übrigen würden die Rechte ihrer Mutter und des Ehemannes aus Art. 6 GG verletzt; ihre Mutter sei praktisch verpflichtet, sich von ihrem Ehemann zu trennen, wolle sie das Existenzminimum ihrer Tochter sicherstellen. Auch wenn im Übrigen ihre Mutter durch eigenes Einkommen sowie durch den ehelichen Unterhaltsanspruch ihren eigenen Unterhalt selbst sicherstellen könne, habe sie (die Klägerin) nach § 28 SGB II einen Anspruch auf Sozialgeld. Ein Anspruch auf Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz bestehe nicht.

Die Klägerin hat beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 20.08.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu bewilligen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat vorgetragen, der Gesetzgeber gehe in § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II davon aus, dass ein Ehepartner in Notzeiten der Kinder des anderen Ehepartners, die an sich sonst Ansprüche auf staatliche Fürsorgeleistungen haben könnten, für diese aufkomme, auch wenn er hierzu zivilrechtlich nicht verpflichtet sei.

Mit Urteil vom 19.03.2009 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Nach der zutreffenden und von der Klägerin auch nicht beanstandeten Berechnung der Beklagten sei die Klägerin bei Berücksichtigung des Einkommens des Ehemannes ihrer Mutter nicht hilfebedürftig im Sinne von § 9 Abs. 1 SGB II. Wenn die Klägerin verfassungsrechtliche Bedenken damit begründe, dass § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II eine Quasi-Unterhaltspflicht begründe, welche zivilrechtlich nicht bestehe, so sei zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber die Frage der tatsächlichen Unterstützung losgelöst von der Frage einer Unterhaltspflicht sehen wolle. Er gehe davon aus, dass sich eng miteinander verwandte oder verschwägerte, zusammenlebende Personen in der Regel tatsächlich unterstützten. In gleicher Weise habe das Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom 13.11.2008 - B 14 AS 2/08 R zwar beachtenswerte verfassungsrechtliche Bedenken gesehen, sie aber letztlich nicht als durchgreifend angesehen. Es bestehe kein schützenswertes Interesse, bei Wahl eines Partners mit (fremden) Kindern die Kosten dieser Kinder auf die Allgemeinheit abzuwälzen, wenn innerhalb der Bedarfsgemeinschaft mit dem neuen Partner ausreichende Mittel aus bedarfsdeckendem Einkommen zur Verfügung stünden. So sei es aber im Falle der Klägerin; der Ehemann ihrer Mutter könne den gesamten Bedarf decken. Zwar gehe die Inanspruchnahme des leiblichen Vaters einer sozialrechtlichen Einstandspflicht voraus; der leibliche Vater der Klägerin sei jedoch nicht leistungsfähig. Der Ehemann ihrer Mutter werde auch nicht dadurch schlechter gestellt, dass ihm eine Unterhaltspflicht auferlegt werde. Denn § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II verändere nicht zivilrechtliche Ansprüche der Kinder gegenüber ihren Eltern, sondern knüpfe für die Gewährung staatlicher Leistungen an den sozialtypischen Umstand an, dass auch sog. Patchworkfamilien in der Regel "aus einem Topf" wirtschafteten. Es werde damit die zivilrechtliche Unterhaltsebene verlassen und auf eine öffentlich-rechtliche Einstandspflicht abgestellt; § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II knüpfe gerade nicht an das Bestehen durchsetzbarer Unterhaltsansprüche an. Die Klägerin müsse sich das Einkommen des Ehemannes ihrer Mutter deshalb entgegenhalten lassen.

Gegen das am 09.04.2009 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 11.05.2009 (Montag) Berufung eingelegt.

Nachdem sich im Laufe des gerichtlichen Verfahrens der Ehemann von der Mutter der Klägerin getrennt hat, erbringt die Beklagte mittlerweile seit dem 24.04.2009 der Klägerin und ihrer Mutter Leistungen nach dem SGB II (erstmals laut Bescheid vom 22.05.2009).

Im Erörterungstermin vom 10.11.2010 haben die Beteiligten im Wege des Teilvergleichs den streitigen Zeitraum auf den Monat Juli 2007 beschränkt und vereinbart, dass die Beklagte für den zuvor weiter streitigen Zeitraum vom 01.08.2007 bis 23.04.2009 den endgültigen Ausgang des vorliegenden Rechtsstreits unter Einschluss einer etwaigen Verfassungsbeschwerde entsprechend umsetzt.

Die Klägerin nimmt Bezug auf ihr bisheriges Vorbringen und trägt ergänzend vor, der Ehemann ihrer Mutter habe nicht eingesehen, dass die jahrelangen Bemühungen, über Zwangsvollstreckungmaßnahmen und Strafanzeigen die gegen ihren leiblichen Vater bestehenden Unterhaltsansprüche durchzusetzen, aufgrund von Schuldnerschutzvorschriften sowie der Auslegung strafrechtlicher Vorschriften fruchtlos verlaufen seien, und er nun für ihren Unterhalt aufkommen müsste. Wenn das BSG in seinem Urteil vom 13.11.2008 - B 14 AS 2/08 R der Ansicht sei, der Gesetzgeber dürfe davon ausgehen, dass ein solcher Konflikt innerhalb der Bedarfsgemeinschaft ausgetragen und gelöst werde, ohne dass das Kindeswohl gefährdet werde, so zeige dies, wie wenig das BSG die tatsächlichen Gegebenheiten in einem Familienverbund berücksichtigt habe. Ein Konflikt über Unterhaltszahlungen innerhalb der Bedarfsgemeinschaft gehe nicht spurlos an einem Kind vorbei. Im Übrigen könne man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das BSG fast schon krampfhaft versucht habe, die Verfassungswidrigkeit des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II durch eine sehr fragwürdige Auslegung des geltenden Unterhalts- und Sorgerechts zu verneinen. Mangels eines einklagbaren und somit durchsetzbaren Anspruchs auf Kindesunterhalt gegen den Ehemann ihrer Mutter habe sie im streitigen Zeitraum einen Bedarf an Regelleistung von 208,00 EUR sowie für anteilige Kosten der Unterkunft von 110,56 EUR gehabt, mithin einen Gesamtbedarf von 318,56 EUR. Der Ablehnungsbescheid der Beklagten liefere gegen den Ehemann ihrer Mutter keinen Vollstreckungstitel. Es komme deshalb sehr wohl darauf an, ob Mittel zum Lebensunterhalt tatsächlich zur Verfügung gestellt würden. Wenn das BSG insofern die Ansicht vertrete, der leibliche Elternteil habe in einem solchen Fall vor dem Hintergrund der Elternverantwortung die Belange des Kindes zu schützen und diesem ausreichende Mittel zukommen zu lassen, so sei dies graue Theorie. Auch der leibliche Elternteil könne aus einem Bescheid des Leistungsträgers nach dem SGB II nicht gegen ein anderes Mitglied der Bedarfsgemeinschaft vollstrecken. Auch einen zivilrechtlichen Anspruch auf Zahlung von Kindesunterhalt für das (allein) eigene Kind habe er gegen den neuen Partner nicht. Es bleibe daher nur die Hoffnung, dass der neue Partner des Elternteils das Kind schon nicht im Stich lassen werde. Die Hoffnung auf eine vom BSG bemühte "Einstandsgemeinschaft" könne sich jedoch zerschlagen, wie gerade ihr Fall zeige. Das BSG verkenne im Übrigen, dass auch ihre Mutter nicht - auch nicht über Art. 6 GG - zur Zahlung von Unterhalt verpflichtet sei, sondern ihrer Unterhaltsverpflichtung bereits durch die Betreuung nachkomme. Die Rechtsauffassung des BSG habe zur Folge, dass ihr leiblicher Vater sich auf Pfändungsfreibeträge berufen könne, während ihre Mutter verpflichtet sein solle, ihren eigenen Familienunterhalt ohne entsprechende gesetzliche Verpflichtung zur Sicherung des Kindesunterhalts zu verwenden. Dies führe in Bezug auf die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG zu einer Unverhältnismäßigkeit. Auch die Überlegungen des BSG zum Sozialstaatsprinzip könnten nicht überzeugen. Der Staat müsse im Rahmen seiner Sozialgesetzgebung die zuvorderst anzuwendenden Vorschriften des gesetzlichen Unterhaltsrechts berücksichtigen und immer dann Hilfe gewähren, wenn der Bedürftige nach den gesetzlichen Unterhaltsvorschriften seinen zivilrechtlichen Unterhaltsanspruch nicht durchsetzen könne. Der vom BSG herangezogene weite Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bestehe dann nicht mehr, wenn der Schutz minderjähriger Kinder betroffen sei. Der Gesetzgeber sei dann dazu verpflichtet, seine Prüfung an engere Maßstäbe anzuknüpfen als an ein "Man-kann-davon-ausgehen-dass ...". Ein Kind könne sein Existenzminimum nicht durch eigene Erwerbstätigkeit sichern. Dem Gesetzgeber sei es deshalb nicht gestattet, sich bei Ausübung seines Gestaltungspielraums auf bloße moralische Erwägungen zurückzuziehen.

Die Klägerin verweist ergänzend auf kritische Besprechungen des Urteils des BSG vom 13.11.2008 - B 14 AS 2/08 R von Münder/Geiger, in: NZS 2009, S. 593 ff., sowie von Großmann, in: NZS 2009, S. 634 ff. Auf diese Besprechungen wird Bezug genommen. Ergänzend weist die Klägerin auf einen Beschluss des Amtsgerichts Dorsten vom 30.12.2010 in der Zwangsvollstreckungssache 6 M 1174/05 hin; dieser zeige, dass eine sozialrechtliche Unterhaltsverpflichtung eines faktischen Stiefvaters bei der Festsetzung des pfandfreien Betrages nicht berücksichtigt werde. Auf den Beschluss wird Bezug ebenfalls genommen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 19.03.2009 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 20.08.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2007 zu verurteilen, der Klägerin für den Monat Juli 2007 Leistungen nach dem SGB II nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen ohne Anrechnung von Einkommen ihres Stiefvaters T1 zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

Die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Sie verweist darauf, dass das BSG (a.a.O.) § 9 Abs. 2 SGB II für verfassungsgemäß gehalten habe. Sie schließt sich dieser Auffassung an und nimmt auf die Ausführungen des BSG sowie auf ihren Widerspruchsbescheid und die erstinstanzliche Entscheidung Bezug.

Der Senat hat die Beteiligten darauf hingewiesen, dass gegen die Entscheidung des BSG vom 13.11.2008 - B 14 AS 2/08 R Verfassungsbeschwerde erhoben worden ist und das Verfahren beim Bundesverfassungsgericht unter dem Az. 1 BvR 1083/09 geführt wird. Ein übereinstimmender Antrag der Beteiligten auf ein Ruhen des vorliegenden Verfahrens bis zum Abschluss des Verfassungsbeschwerdeverfahrens ist trotz entsprechender Anfrage des Senats nicht zustandegekommen.

II.

1. Der Senat kann in Anwendung von § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss ohne Beteiligung ehrenamtlicher Richter entscheiden, weil er die Berufung der Klägerin einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind hierzu im Erörterungstermin vom 10.11.2010 gehört worden; sie haben sich im Übrigen mit einer solchen Vorgehensweise ausdrücklich einverstanden erklärt und in dem Termin ihre Anträge zu Protokoll des Senats gestellt.

Soweit die Beklagte zu Protokoll beantragt hat, die Klage der Klägerin abzuweisen, so beruht dies auf einem offensichtlichen Versehen. Dem Prozessziel der Beklagten entspricht vielmehr - wie für die vorliegende Entscheidung als Antrag der Klägerin angenommen - eine Zurückweisung der Berufung der Klägerin gegen das bereits klageabweisende Urteil des Sozialgerichts.

2. Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet.

Das Sozialgericht hat ihre Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid vom 20.08.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2007 verletzt die Klägerin nicht i.S.v. § 54 Abs. 2 SGG in ihren Rechten.

Denn die Klägerin hatte im streitigen Zeitraum Juli 2007 schon deshalb keinen Anspruch auf Sozialgeld nach § 28 SGB II, weil weder bei ihrer Mutter noch bei ihr selbst Hilfebedürftigkeit i.S.v. § 9 SGB II vorlag.

Nach § 9 Abs. 1 Nr. 2 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht aus dem zu berücksichtigenden Einkommen und Vermögen, sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält. Nach § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II in der im streitigen Zeitraum geltenden Fassung sind bei unverheirateten Kindern, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Bedarfsgemeinschaft leben und die die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus ihrem eigenen Einkommen oder Vermögen beschaffen können, auch das Einkommen und Vermögen der Eltern oder des Elternteils und dessen in Bedarfsgemeinschaft lebenden Partners zur berücksichtigen.

Angesichts des Einkommens des Ehemannes der Mutter der Klägerin ist offenkundig, dass jedweder grundsicherungsrechtliche Leistungsbedarf sowohl der Mutter der Klägerin als auch der Klägerin selbst in Anwendung der Vorschriften des SGB II aus dem streitigen Zeitraum ausgeschlossen ist. Der Senat nimmt insofern auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Widerspruchsbescheid Bezug, dem die Klägerin hinsichtlich der Berechnung auch nicht entgegen tritt.

Soweit die Klägerin allerdings die Berücksichtigung von Einkommen des Ehemannes ihrer Mutter nach § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II für unzulässig hält, weil diese Vorschrift verfassungswidrig sei, folgt der Senat dem nicht. Er schließt sich vielmehr der Entscheidung des BSG vom 13.11.2008 - B 14 AS 2/08 R (dort zu Rn. 33 ff.; im Ergebnis ebenso schon der erkennende Senat im Beschluss vom 18.07.2007 - L 20 B 64/07 AS ER zu Rn. 18 bei JURIS) an. Danach ist es jedenfalls bezogen auf minderjährige Kinder nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber mit § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II in Ausübung seines Gestaltungspielraums davon ausgeht, dass für Kinder in der Situation der Klägerin ausreichende und vorrangige eigene Mittel durch das Zusammenleben mit dem leistungsfähigen Partner ihres Elternteils zur Verfügung stehen und deshalb die Gewährung staatlicher Hilfe zu ihrer Existenzsicherung nicht erforderlich ist. Der Gesetzgeber geht im Falle solcher "faktischen Stiefkinder" in zulässiger Weise davon aus, dass der Elternteil innerhalb einer Gemeinschaft, in der er gleichberechtigt mit dem Partner "aus einem Topf" wirtschaftet und mit ihm über die Ausgaben entscheidet, die Belange des Kindes in erster Linie durch Gewährleistung des Naturalunterhalts ausreichend schützen und so seiner Pflicht zur elterlichen Sorge nachkommen wird. Der Gesetzgeber darf in diesem Zusammenhang auch davon ausgehen, dass bei Konflikten innerhalb der Bedarfsgemeinschaft über die Verwendung der vorhandenen Mittel dieser Konflikt in der Gemeinschaft selbst ausgetragen und gelöst wird, ohne dass das Kindeswohl gefährdet wird. Aufgrund solcher Konflikte zwischen den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft kann es zwar - wie es möglicherweise auch im Falle der Ehe der Mutter und ihres Ehemannes geschehen ist - zur Auflösung der Partnerschaft und damit der Bedarfsgemeinschaft kommen. Auch wenn diese Konsequenz sozialpolitisch nicht wünschenswert ist, wird damit jedoch die allgemeine Handlungsfreiheit der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft nicht in verfassungswidriger Weise eingeschränkt. Zwar wird mit § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II ein gewisser finanzieller Druck auf die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft in ihrer gemeinsamen Lebensgestaltung ausgeübt, auch wenn mit der Regelung keine Rechtspflichten zu gegenseitiger finanzieller Unterhaltsleistung statuiert werden. Die Rechtsordnung nimmt dabei jedoch Konflikte innerhalb der Bedarfsgemeinschaft in Kauf, ohne dass dies unverhältnismäßig erschiene. Auch der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht verletzt; ausreichendes Differenzierungskriterium ist insoweit, dass der Gesetzgeber nur solche Gemeinschaften erfasst, in denen die Bindungen der Partner so eng sind, das von ihnen ein gegenseitiges Einstehen in den Not- und Wechselfällen des Lebens erwartet werden kann. Schließlich verstößt die Regelung auch nicht gegen Art. 6 GG. Unbeschadet des Umstandes, dass die Mutter der Klägerin und ihr Ehemann von vornherein nicht Beteiligte des vorliegenden Verfahrens sind, erschwert § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II ohnehin weder die Eingehung einer Ehe (welche die Mutter der Klägerin überdies bereits vor Antragstellung geschlossen hatte) noch die Bildung von Familien. Der Vorrang von Unterhaltspflichten gegenüber eigenen Kindern ist mit § 11 Abs. 2 Nr. 7 SGB II gewahrt. Mögliche Elternrechte des neuen Partners aus Art. 6 Abs. 2 GG sind damit ausreichend geschützt. Durch die Regelung des § 32 Abs. 6 Satz 7 Einkommenssteuergesetz (EStG) ergibt sich für Ehegatten zudem eine erhebliche steuerliche Bevorzugung gegenüber den übrigen Lebensgemeinschaften, welche die Folgen der wirtschaftlichen Einbeziehung der (faktischen) Stiefkinder nach § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II weitgehend abmildert. Zur näheren Begründung nimmt der Senat auf die Entscheidung des BSG (a.a.O.) Bezug, die den Beteiligten bereits bekannt und von ihnen im Laufe des vorliegenden Verfahrens selbst angesprochen worden ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Der Senat lässt die Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zu. Zwar entspricht die vorliegende Entscheidung dem Urteil des BSG vom 13.11.2008 - B 14 AS 2/08 R. Insoweit ist jedoch zum einen beim Bundesverfassungsgericht das Verfassungsbeschwerdeverfahren 1 BvR 1083/09 anhängig, in dem verfassungsrechtliche Einwände gegen die Entscheidung des BSG überprüft werden. Zum anderen ist die Entscheidung des BSG in der Literatur auf deutliche Kritik gestoßen; ihr werden insbesondere eine nicht zulässige Sichtweise zu familienrechtlichen Unterhaltsvorschriften (vgl. Großmann, a.a.O., S. 641; Münder/Geiger, a.a.O., S. 597) sowie erhebliche methodische Mängel (Münder/Geiger, a.a.O., S. 598) vorgehalten. Aus diesem Grund erscheint eine nochmalige höchstrichterliche Befassung angezeigt. Ein Abwarten des bundesverfassungsgerichtlichen Verfahrens vor einer Entscheidung im vorliegenden Rechtsstreit kommt nicht in Betracht; weil ein übereinstimmender Antrag der Beteiligten auf ein Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Verfahren 1 BvR 1083/09 auch auf entsprechende Anfrage des Senats nicht herbeigeführt werden konnte; eine Aussetzung des Verfahrens ist zwar grundsätzlich zustimmungslos möglich, würde jedoch den Anspruch der Beteiligten auf gerichtliche Entscheidung des zur Entscheidung reifen Rechtsstreits missachten (vgl. hierzu auch Dollinger, in: Umbach/Clemens/Dollinger, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, § 80 Rn. 90 f.).
Rechtskraft
Aus
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