L 27 P 21/10

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
27
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 111 P 132/08
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 27 P 21/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 24. Februar 2010 aufgehoben. Die Beklage wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 5. Dezember 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Februar 2008 verurteilt, der Klägerin mit Wirkung vom 13. Juli 2007 Pflegegeld nach der Pflegestufe III zu gewähren. Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die im Jahre 1933 geborene Klägerin erkrankte im Jahre 1938 an einer Poliomyelitis und leidet jetzt an folgenden gesundheitlichen Einschränkungen:

- Lähmung des gesamten Körpers nach Kinderlähmung (Postpoliomyelitissyndrom) mit Tetraparese nach Polio 1938),

- Anlage einer Kunstblase,

- Abnutzungserscheinungen des Skelettsystems,

- Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörungen, Bluthochdruck.

Seit dem Jahre 1991 bezog die Klägerin nach damaligem Krankenversicherungsrecht Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit, seit dem Jahre 1995 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe II. Am 13. Juli 2007 beantragte sie bei der Beklagten die Zuerkennung der Pflegestufe III. Nach Durchführung medizinischer Ermittlungen lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 5. Dezember 2007 und Widerspruchsbescheid vom 29. Februar 2008 den Antrag mit der Begründung ab, die zeitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Pflegestufe III würden nicht erfüllt.

Im anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht Berlin u. a. ein Gutachten der Sachverständigen Dr. B vom 3. Juli 2009 eingeholt. Darin ist die Sachverständige zu der Einschätzung gelangt, bei der Klägerin seien durchschnittlich täglich 206 min Pflegeaufwand im Bereich der Grundpflege und mehr als 60 min im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung anzusetzen. Im Einzelnen setzte sie folgende Werte an:

Körperpflege: 45 min Waschen: mehrmals täglich 9 min Duschen: Zeitmehrbedarf zum Waschen, 3x wöchentlich 6 min Mundpflege: 2x täglich 4 min Kämmen: 2x täglich 30 min Darm-/Blasenentleerung: mehrmals täglich

94 Minuten

Ernährung: 12 min Mundgerechte Zubereitung: 3x täglich 15 min Nahrungsaufnahme: 1x täglich füttern

27 Minuten

Mobilität: 30 min Aufstehen/Zubettgehen: je 2x täglich 20 min An-/Auskleiden: je 1x täglich 20 min Gehen/Stehen: 1 – 2x täglich (und zurück) 15 min Verlassen des Hauses: 3x wöchentlich

85 Minuten

Hauswirtschaftliche Verrichtungen: 60 min die maximal berücksichtigungsfähige Zeit wird überschritten

206 Minuten tägliche Gesamtpflegezeit

In einer durch das Sozialgericht veranlassten ergänzenden Stellungnahme vom 19. Dezember 2009 hat die Sachverständige darüber hinaus ausgeführt, es könnten bei der Klägerin weitere 5 min Pflegeaufwand für die nächtliche Umlagerung sowie 15 min täglicher Pflegeaufwand für die Ermöglichung einer Mittagsruhe angesetzt werden, so das sich der Grundpflegebedarf insgesamt auf 226 Minuten täglich durchschnittlich erhöhe. Dieser Pflegeaufwand habe bereits bei Antragstellung vorgelegen und entspreche ungefähren Schätzwerten entsprechend den Begutachtungsrichtlinien.

Mit Gerichtsbescheid vom 24. Februar 2010 hat das Sozialgericht die Klage nach vorangegangener Anhörung der Beteiligten abgewiesen, weil die zeitlichen Voraussetzungen für die Pflegestufe III nicht erfüllt seien.

Mit ihrer am 1. April 2010 bei dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg eingegangenen Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter, ab Antragstellung die Zuerkennung der Pflegestufe III und entsprechende Pflegeleistung zu erhalten. Sie macht geltend, die zeitlichen Grenzen für die Ernährung, für die Körperpflege und auch für die Mobilität seien falsch angesetzt. Es sei ein häufigeres Duschen und Baden möglich und auch medizinisch sinnvoll. Der zeitliche Aufwand für das Füttern müsse höher angesetzt werden, weil die normale Fütterung für die Klägerin sehr unangenehm und schmerzhaft sei. Auch seien häufige Besuche bei Ärzten, Physiotherapeuten und anderen Einrichtungen im Rahmen der Mobilität zu berücksichtigen.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 24. Februar 2010 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 5. Dezember 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Februar 2008 zu verurteilen, ihr ab dem 13. Juli 2007 Pflegegeld entsprechend der Pflegestufe III zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie auf die Verwaltungsakten der Beklagten, die im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG), sie ist auch in der Sache begründet. Die Klägerin hat für den gesamten streitbefangenen Zeitraum auf Leistungen nach der Pflegestufe III, weil die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Sozialgesetzbuch/Elftes Buch (SGB XI) in Verbindung mit § 15 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB XI erfüllt sind. Zwischen den Beteiligten steht fest, dass die Klägerin bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt sowie dass der Umfang des Bedarfs in der hauswirtschaftlichen Versorgung täglich durchschnittlich mehr als 60 Minuten beträgt; auch der Senat hat hieran nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 128 SGG) keinen Zweifel.

Streitig ist zwischen den Beteiligten lediglich noch, ob der Aufwand in der Grundpflege den nach § 15 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB XI erforderlichen Mindestbedarf von durchschnittlich 240 Minuten täglich erreicht. Das Sozialgericht hat insoweit – gestützt auf die Feststellungen der gerichtlichen Sachverständigen – lediglich einen Durchschnittsbedarf von 226 Minuten täglich zugrunde gelegt. Zur Überzeugung des Senats indessen beträgt der tägliche Bedarf in der Grundpflege durchschnittlich mindestens 247 Minuten, wodurch die Voraussetzungen des Anspruchs insgesamt erfüllt werden. Dies ergibt sich daraus, dass nicht – wie von der Sachverständigen zugrunde gelegt – täglich durchschnittlich neun Minuten für das Duschen oder Baden anzusetzen sind, sondern zur Überzeugung des Senats täglich durchschnittlich mindestens 30 Minuten für diesen Bereich angesetzt werden müssen. Die Sachverständige setzt hierbei dreimal wöchentlich den Aufwand für das Duschen an und ermittelt dann den täglichen Durchschnittswert von neun Minuten. Zur Überzeugung des Senats auf der Grundlage des Ergebnisses des gesamten Verfahrens indessen steht fest, dass der – tatsächlich den Erfordernissen entsprechende – Bedarf der Klägerin sich deswegen als höher darstellt, weil der Klägerin die Möglichkeit eröffnet werden muss, täglich gebadet zu werden.

Bei der Klägerin ist nämlich zu bedenken, dass sie nicht nur in weitreichendem Maße gelähmt ist, sondern dass bei ihr auch eine Kunstblase angelegt wurde. Der Senat hat keine Zweifel daran, dass die Herstellung der hygienischen Mindestbedingungen hier das Maß der Körperpflege über den sonst üblichen Aufwand hinaus erheblich steigert und angesichts der vorgenannten atypischen Einschränkungen den Erfordernissen einer angemessenen Körperpflege nur durch ein mindestens täglich stattfindendes Baden Rechnung getragen werden kann, für das auch keine medizinische Kontraindikation besteht.

Nach D 4.0/V./4.3 der Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI (Begutachtungs-Richtlinien – BRi) umfasst das Baden eine Ganzkörperwäsche in einer Badewanne, wobei der Antragsteller entweder sitzen oder liegen kann. Zum eigentlichen Waschvorgang gehören sowohl die Vor- und Nachbereitung, das Waschen des ganzen Körpers selbst sowie das Abtrocknen des Körpers. Ferner sind die Angaben zu Punkt D 4.0/III./4. zur Ermittlung des zeitlichen Umfangs des regelmäßigen Hilfebedarfs zu berücksichtigen. Hiernach bleibt die individuelle Pflegesituation für die Feststellung des zeitlichen Umfangs des Hilfebedarfs maßgeblich. Insbesondere ist zu prüfen, ob die Durchführung der Pflege durch besondere Faktoren wie z. B. verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen beeinflusst ist. Dies führt im vorliegenden Fall dazu, dass die vorgenannten besonderen gesundheitlichen Einschränkungen in der Person der Klägerin einen täglichen Aufwand für das Baden bedingen, der mindestens 30 Minuten im Durchschnitt beträgt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 SGG nicht ersichtlich sind.
Rechtskraft
Aus
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