L 1 AS 5677/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
1
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 6 AS 2547/09
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 AS 5677/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 10. November 2010 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Im Streit steht die Rückforderung von überzahltem Arbeitslosengeld II (Alg II) in Höhe von 9.478,02 EUR.

Der 1948 geborene Kläger bezog ab 01. Juni 2006 Alg II von dem Beklagten. Die Monatsmiete in Höhe von 330,- EUR (265,- EUR Kaltmiete, 65,- EUR Nebenkosten) wurde direkt an den Vermieter überwiesen. Bis 31. Oktober 2007 erhielt der Kläger Leistungen für sich und seine Ehefrau (Bewilligungsbescheide vom 13. Juni 2006, 18. Oktober 2006, 26. Februar 2007, 2. Juni 2007, 4. Oktober 2007; zur Höhe: Juni 2006 - April 2007 1.036,35 EUR [2 x 311,- EUR Regelsatz; 61,35 EUR Mehrbedarf; 263,- EUR Zuschlag zum Alg II abzüglich 240,- EUR anzurechnendes Einkommen der Ehefrau; 330,- Kosten der Unterkunft]; Mai 2007 1001,35 EUR [Absenkung des Zuschlags auf 228,- EUR, im Übrigen wie zuvor]; Juni 2007 905,35 EUR [Absenkung des Zuschlags auf 132,- EUR, im Übrigen wie zuvor]; Juli 2007 - November 2007 907,35 EUR [nach Erhöhung des Regelsatzes je Person um 1,- EUR, im Übrigen wie zuvor]); nach der Trennung der Eheleute wurden ab 1. November 2007 allein dem Kläger Leistungen in Höhe von 844,79 EUR bewilligt (Änderungsbescheid vom 16. Oktober 2007; 382,79 EUR Grundsicherung inkl. Mehrbedarf; 330,- EUR Kosten der Unterkunft; 132,- EUR Zuschlag zum Alg II). Seit 1. Oktober 2009 erhält der Kläger Altersrente für schwerbehinderte Menschen (Rentenbescheid vom 30. November 2010) in Höhe von 695,55 EUR netto. Darüber hinaus erhielt der Kläger von der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG) seit 1. Juli 2005 wegen der Folgen eines am 30. September 2002 erlittenen Arbeitsunfalls Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v.H., die ab 1. Juli 2005 725,62 EUR und ab 1. Juli 2008 737,56 EUR betrug.

Weder im erstmaligen Antrag auf Gewährung von Alg II vom 12. April 2006 noch in den Weiterbewilligungsanträgen vom 12. Oktober 2006, 25. Februar 2007 und 4. Oktober 2007 gab der Kläger auf die Frage nach Einkommen die ihm gewährte Rente der BG an. Erst dem Weiterbewilligungsantrag vom 20. Februar 2008 waren Kopien der Kontoauszüge des Klägers beigefügt, denen die Rentenzahlung der BG entnommen werden konnte.

Nach Anhörung des Klägers wurden mit Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 29. Oktober 2008 die Entscheidungen vom 13. Juni 2006, 18. Oktober 2006, 26. Februar 2007, 2. Juni 2007, 4. Oktober 2007 und 16. Oktober 2007 teilweise zurückgenommen und 9.478,02 EUR erstattet verlangt. Die fehlerhafte Bewilligung sei erfolgt, weil der Kläger in seinem Antrag vom 12. April 2006 zumindest grob fahrlässig falsche Angaben gemacht habe.

Der dagegen erhobene Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 22. Juni 2009 zurückgewiesen. Dem Beklagten sei erstmals am 20. Februar 2008 bekannt geworden, dass der Kläger eine Rente von der BG erhalte. Weder bei der Erstantragstellung noch in den Folgeanträgen sei der Rentenbezug angegeben worden. Dem Kläger sei bekannt gewesen, dass er alle Einnahmen der Bedarfsgemeinschaft dem Beklagten mitteilen müsse; jedenfalls aber hätte er erkennen können, dass er keine Leistungen ohne Anrechnung der gezahlten Rente in Höhe von 729,54 EUR erhalten könne. Daher seien die Bescheide teilweise für die Vergangenheit aufgehoben und die überzahlten Leistungen erstattet verlangt worden.

Dagegen hat der Kläger durch seinen Bevollmächtigten am 21. Juli 2009 Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben und ausgeführt, ihm sei weder bewusst noch bekannt gewesen, dass er die BG-Rente hätte melden müssen. Er lebe unter dem Sozialhilfeniveau und unter dem Existenzminimum, wenn er nicht Geld bei Freunden leihen könnte. Da er das Geld für seinen Lebensunterhalt verbraucht habe, könne er nichts zurückzahlen. Im Übrigen habe der Beklagte auch gegenüber der getrennt lebenden Ehefrau Leistungen zurückgefordert, die diese auch begonnen habe zu begleichen. Dies werde von dem Beklagten nicht berücksichtigt.

Mit Gerichtsbescheid vom 10. November 2010 hat das SG die Klage abgewiesen und dem Kläger Kosten in Höhe von 150,- EUR auferlegt. Die Bewilligung von Leistungen sei von Anfang an teilweise rechtswidrig gewesen, da der Kläger wegen der als Einkommen zu berücksichtigenden BG-Rente insoweit nicht bedürftig gewesen sei. Der Kläger habe vorsätzlich falsche Angaben gemacht, da er in allen Anträgen die Frage nach der Gewährung von Renten wider besseren Wissens verneint habe. Der Beklagte habe auch innerhalb der Fristen des § 45 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) die Bescheide aufgehoben, da er erst am 20. Februar 2008 von der Rentengewährung Kenntnis erlangt habe. Verschuldenskosten seien aufzuerlegen, da nicht im Ansatz ersichtlich sei, weshalb die angegriffene Entscheidung rechtswidrig sein sollte. Der Klägerbevollmächtigte trage nichts vor, was Zweifel daran begründe. Das SG habe, vom LSG bestätigt, Prozesskostenhilfe für das Verfahren abgelehnt. Dennoch halte der Klägerbevollmächtigte an der Klage fest.

Gegen den dem Klägerbevollmächtigten am 16. November 2010 zugestellten Gerichtsbescheid hat dieser für den Kläger am 13. Dezember 2010 Berufung eingelegt.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 10. November 2010 sowie den Bescheid vom 29. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Juni 2009 aufzuheben, die Auferlegung der Strafgebühr aufzuheben und der Beklagten die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen.

Zur Begründung wird vorgetragen, der erstinstanzliche Richter habe unter Außerachtlassung der Belange des Klägers entschieden. Dieser habe die Unfallrente mit der LVA-Rente verwechselt, was entgegen der böswilligen Behauptung des Sozialrichters einen vorsätzlichen Tatbestand ausschließe. Der Kläger sei einer Verwechslung zum Opfer gefallen, was sich auch daraus ergebe, dass er bei dem Beklagten keine Leistungen mehr beantragt habe, sobald sich abgezeichnet habe, dass er von der Deutschen Rentenversicherung Rente bekomme. Der Kläger leide noch immer unter den Unfallfolgen von damals und extremsten Depressionen, so dass auch aus diesem Grund davon auszugehen sei, dass er die angeblich bestehende Anzeigepflicht schuldlos nicht verinnerlicht habe. Subjektiv habe der Kläger keinesfalls zu Unrecht Leistungen bezogen und diese restlos verbraucht. Auch deshalb scheide eine Rückforderung aus.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen,

und verweist zur Begründung auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidungen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten und die Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und nach § 151 SGG auch im Übrigen zulässige Berufung ist unbegründet. Der Beklagte hat zu Recht den Rücknahme- und Erstattungsbescheid erlassen und fordert zu Recht vom Kläger 9.478,02 EUR zurück.

Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, darf er, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden (§ 45 Abs. 1 SGB X). Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat (Nr. 1), der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (Nr. 2) oder er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (Nr. 3); grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Sätze 1 bis 3 SGB X).

Nach § 44 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) i.V.m. § 330 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) ist in den Fällen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist, sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten (§ 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Die einschränkende Vorschrift des § 40 Abs. 2 Satz 1 SGB II gilt im Fall des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X nicht (§ 40 Abs. 2 Satz 2 SGB II).

Nach Maßgabe dieser Vorschriften hat die Beklagte zu Recht die Bewilligungsbescheide vom 13. Juni 2006, 18. Oktober 2006, 26. Februar 2007, 2. Juni 2007, 4. Oktober 2007 und 16. Oktober 2007 nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 bzw. 3 SGB X teilweise zurückgenommen.

Die Bescheide waren jedenfalls teilweise rechtswidrig, weil die Beklagte mangels Kenntnis von der BG-Rente diese nicht nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II als Einkommen auf die dem Kläger gewährten Leistungen der Grundsicherung (Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der angemessenen Kosten der Unterkunft, § 19 Satz 1 SGB II) angerechnet hat (zur Anrechnung der Verletztenrente als Einkommen auch BSG vom 6. Dezember 2007 - B 14/7b AS 62/06 R).

Schutzwürdiges Klägervertrauen steht der Aufhebung nicht entgegen. Der Kläger hat weder im Erstantrag noch in den Folgeanträgen Angaben dazu gemacht, dass und in welcher Höhe er eine Rente von der Berufsgenossenschaft erhält. Nachdem im Antragsvordruck ausdrücklich auch nach Rentenzahlungen gefragt ist, ist dem Kläger vorzuwerfen, dass er jedenfalls grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtige Angaben gemacht hat, er also die ihm obliegende Sorgfaltspflicht auch unter Berücksichtigung seiner individuellen Einsichts- und Urteilsfähigkeit in besonderem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X; vgl. zum Sorgfaltsmaßstab v. Wulffen, Kommentar zum SGB X, § 45 Rn. 24 mwN). Der Kläger hat auch im Berufungsverfahren nichts vorgetragen, was Anlass geben könnte, von diesem erheblichen Sorgfaltsvorwurf abzuweichen.

Soweit der Bevollmächtigte vorbringt, der Kläger habe die Unfallrente mit der "LVA-Rente" verwechselt, was ein vorwerfbares Verhalten ausschließe, ist dieser Vortrag nicht nachvollziehbar. Denn ausweislich des im PKH-Verfahren vorgelegten Rentenbescheids vom 30. November 2010 erhält der Kläger erst seit 1. Oktober 2009 Altersrente für schwerbehinderte Menschen. Dieser Zeitpunkt liegt außerhalb des hier streitigen Rückforderungszeitraums, so dass eine "Verwechslung" die Nichtangabe gegenüber der Beklagten weder erklären noch rechtfertigen kann. Auch ist nicht nachvollziehbar, welcher "Verwechslung" der Kläger "zum Opfer gefallen" sein soll. Für die behaupteten schwersten Depressionen, die ihm die Mitteilung des Rentenbezugs gegenüber der Beklagten unmöglich gemacht haben sollen, liegen keine Nachweise vor.

Jedenfalls aber hat der Kläger nur infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt, dass die ihm vom Beklagten gewährten Leistungen in unzutreffender Höhe bewilligt worden sind (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X). Noch während des Zusammenlebens mit seiner Ehefrau wurde in den Bescheiden das von dieser erzielte Einkommen (400,- EUR) nach Abzug des Freibetrags in Höhe von 240,- EUR auf die Grundsicherungsleistung angerechnet. Jedenfalls daraus hätte der Kläger erkennen können, dass die ihm beinahe in Höhe des Doppelten gewährte Verletztenrente nicht anrechnungsfrei sein kann, jedenfalls aber als Einkommen gegenüber der Beklagten anzugeben ist. Auch insoweit wurde Nichts vorgetragen, was eine andere Bewertung rechtfertigen kann.

Der Beklagte hat auch zu Recht die Rückforderung der Leistung gegenüber dem Kläger auf das begrenzt, was ihm (anteilig) im Rückforderungszeitraum an Leistungen gewährt worden ist und die Rückforderung im Übrigen gegenüber der mittlerweile getrennt lebenden Ehefrau geltend gemacht (vgl. Link in Eicher/Spellbrink, SGB II, § 38 Rn 23 b). Die Rückforderung ist auch in der zutreffenden Höhe (vgl die zutreffenden Berechnungen im Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 29. Oktober 2008 unter Berücksichtigung der an den Kläger im Rückforderungszeitraum gezahlten Regelleistung sowie der auf ihn - anteilig - fallenden Kosten der Unterkunft) innerhalb des nach § 45 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 SGB X maßgeblichen Zehnjahreszeitraums und der Jahresfrist nach § 45 Abs. 4 SGB X erfolgt, denn Kenntnis vom Rentenbezug hatte der Beklagte erst mit dem 20. Februar 2008 erlangt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und, soweit das erstinstanzliche Verfahren betroffen ist, auch auf § 192 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
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