S 17 AS 627/07

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Neuruppin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
17
1. Instanz
SG Neuruppin (BRB)
Aktenzeichen
S 17 AS 627/07
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die gegenüber einem Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft verfügte Aufhebung als globale Gesamtaufhebung mit Bezug auf die sich insgesamt auf die Bedarfsgemeinschaft beziehenden Aufhebungen stellt sich nicht mehr als lediglich betragsmäßige Verfehlung sondern als ein Aliud dar. Eine geltungserhaltende Reduktion in Höhe des mit Bezug auf den Aufhebungsad-ressaten zutreffenden Anteils ist daher nicht möglich (Anschluss Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 7. Mai 2009 - L 28 AS 1354/08 - [juris]).
1. Der Teilaufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 14. Juni 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. Juni 2007 wird aufgehoben.

2. Der Beklagte hat der Klägerin zwei Drittel ihrer notwenigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen die Aufhebung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II) sowie gegen die diesbezügliche Erstattungsverpflichtung.

1. Der Klägerin und ihrem in Bedarfsgemeinschaft lebenden Ehemann wurden durch Bescheid des Beklagten vom 15. November 2005 SGB II-Leistungen für den Zeitraum Oktober 2005 bis März 2006 i. H. v. monatlich insgesamt 1.096,49 EUR bewilligt. Der Beklagte hob mit an die Klä-gerin gerichteten Bescheid vom 14. Juni 2006 diesen Bewilligungsbescheid mit Wirkung ab 1. Dezember 2005 wegen durch den Ehemann der Klägerin nachträglich erzielten Einkommens auf und ordnete mit Bezug auf die Leistungen für Dezember 2005 eine Erstattung i. H. v. 240,00 EUR an. Der Widerspruch der Klägerin vom 19. Juni 2006 gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid wurde durch Widerspruchsbescheid vom 5. Juni 2007 zurückgewiesen. Zugleich beschied der Beklagte mit diesem Widerspruchsbescheid zwei weitere Widersprüche der Klägerin vom 3. Mai 2007 und vom 16. Mai 2007.

2. Mit der am 18. Juni 2007 bei dem Sozialgericht Neuruppin erhobenen Klage wendet sich die Klägerin nunmehr noch gegen die Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung. Soweit die Klägerin sich mit ihrer Klage zunächst auch gegen die Zurückweisung ihrer weiteren Widersprüche gewandt hat, hat sie am 12. April 2011 Teilklagerücknahme erklärt. Die Klägerin beantragt,

den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 14. Juni 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. Juni 2007 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen,

und verweist auf den Inhalt der angegriffenen Bescheide, an denen er festhält.

Das Gericht hat die Sach- und Rechtslagen mit den Beteiligten am 25. September 2007 sowie am 8. Dezember 2009 erörtert.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie auf den Inhalt der Verwaltungsakte des Beklagten, die zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Die Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) - soweit nach teilweiser Klagerücknahme noch anhängig (§ 102 Abs. 1 Satz 2 SGG) - statthaft und auch sonst zulässig. Sie ist insbesondere nicht nur in dem Umfang zulässig, wie der Beklagte durch den Bescheid vom 14. Juni 2006 im Wege der Erstattung vorgegangen ist. Zwar hat der Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll erklärt, dass der Beklagte keine weiteren Erstattungsforderungen an die Klägerin richten werde. Der formale Entzug durch die (vollständige) Aufhebung der Rechtsposition, wie sie sich aus dem Bescheid vom 15. Novem-ber 2005 ergeben hat, ist jedoch für sich genommen eine Rechtsbeeinträchtigung der Klägerin, die in vollem Umfang zur Überprüfung durch das Gericht gestellt werden kann.

2. Die Klage hat in vollem Umfang Erfolg, da sich die angefochtenen Bescheide als rechtswidrig erweisen und die Klägerin in ihren Rechten verletzen. Dies ergibt sich bereits daraus, dass der Beklagte unter Verstoß gegen den Grundsatz der Individualisierung den Bewilligungsbe-scheid vom 15. November 2005 gegenüber der Klägerin in vollem Umfang gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Zehntes Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB X) aufgehoben hat. Dies hat zunächst jedenfalls zur Folge, dass der Teil der Rückforderung, der sich materiell gegen den Ehemann der Klägerin richtet, aufzuheben ist. Die Klägerin war insoweit durch die Leistungsbewilligung nicht Inhaberin der Leistungsansprüche und daher auch nicht zutreffender Aufhebungsadressat. Soweit die Klägerin mit Bezug auf die ihr bewilligten Leistungen formal zutreffend Aufhe-bungsadressat ist, erweist sich die Leistungsaufhebung jedoch auch insoweit als rechtswidrig, da eine geltungserhaltende Reduktion der Aufhebungsentscheidung nach Überzeugung des Gerichts nicht möglich ist.

Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg hat insoweit ausgeführt (Urteil vom 7. Mai 2009 - L 28 AS 1354/08 - [juris]):

"Der vom Beklagten zu Recht auf §§ 48 Abs. 1 Satz 3, 50 SGB X gestützte Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 21. Juli 2005 ist jedoch rechtswidrig, da er nicht hinrei-chend bestimmt ist. Gemäß § 33 Abs. 1 SGB X muss ein Verwaltungsakt inhaltlich hin-reichend bestimmt sein, was insbesondere den Adressaten und den Verfügungssatz be-trifft. Hierbei handelt es sich um eine Ausprägung des aus Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Rechtsstaatsprinzips, das der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit dient. Zur hinreichen-den Bestimmtheit muss eine behördliche Entscheidung so eindeutig formuliert sein, dass sich ohne Rückfrage ergibt, für wen was wie geregelt wird. Gegenstand, Ziel und Rege-lungsgehalt der Entscheidung müssen demgemäß für den Adressaten so eindeutig und vollständig sein, dass er sein Handeln danach ausrichten und die rechtlichen Konsequen-zen der Entscheidung in vollem Umfange abschätzen kann (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10. Oktober 2008 - L 25 B 1646/07 AS PKH - zitiert nach juris Rn. 7). Ob hinreichend konkrete Verfügungen vorliegen, ist durch Auslegung zu ermitteln. Maß-stab für die Auslegung des Verwaltungsaktes ist die Sicht eines verständigen Empfän-gers, der als Beteiligter die Zusammenhänge berücksichtigt, welche die Behörde nach ih-rem wirklichen Willen in ihre Entscheidung einbezogen hat, wobei Unklarheiten zu Las-ten der Behörde gehen (vgl. BSG, Urteil vom 14.08.1996 - 13 RJ 9/95 - zitiert nach juris Rn. 38 mwN).

...

Im Übrigen bestehen grundsätzliche Bedenken, eine pauschale Gesamtaufhebung im Sinne einer geltungserhaltenden Reduktion in dem jeweils rechnerisch und materiell zutreffenden Umfang hinsichtlich des oder der Adressaten bestehen zu lassen. Damit hätten es die Behörden in der Hand, durch eine auf jeden Fall zu hohe Aufhebung jedenfalls auch den richtigen Betrag als "Minus" mitzuerfassen. Die komplexe gesetzliche Kon-struktion der Bedarfsgemeinschaft mit den leistungs- und einkommensmäßigen Zuord-nungen der Einzelansprüche verbietet es nach Überzeugung des Senats, aus einer möglicherweise zutreffenden Gesamtsumme auf eine materiell richtige Einzelaufhebung ge-genüber dem Adressaten zu schließen. Globale Gesamtaufhebungen auch gegenüber einem Mitglied der Bedarfsgemeinschaft ohne konkrete Verfügungen im jeweiligen Leis-tungsverhältnis sind mangels Bestimmtheit in Gänze und nicht nur in ihrem überschie-ßenden - die anderen Mitglieder betreffenden - Teil aufzuheben (a.A. LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 13. November 2008 - L 6 AS 16/07 - zitiert nach juris Rn. 27; wie hier LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18. November 2007 - L7 SO 2899/06 - zitiert nach juris Rn. 19)."

Das erkennende Gericht schließt sich nach eigener Prüfung dieser Rechtsauffassung an und hält sie gegenüber der gegenteiligen Rechtsansicht anderer Landessozialgerichte (siehe vorste-hend) für vorzugswürdig. Der Aufhebungsverfügungssatz in dem Bescheid vom 14. Juni 2006 leidet nicht nur darunter, dass sich die Höhe der Aufhebungsentscheidung mit Blick auf die bzgl. der Klägerin vorzunehmende Berechnung als unzutreffend erweist. Eine lediglich be-tragsmäßig überhöht verfügte Aufhebung hätte in dem sich als rechtmäßig erweisenden Umfang Bestand. Der Aufhebungsverfügungssatz nimmt die Klägerin jedoch als in dieser Form insgesamt unzutreffende Adressatin bzw. Schuldnerin in Anspruch. Der Beklagte ist vorliegend im Wege einer "globalen Gesamtaufhebung" vorgegangen und somit in Verkennung der indi-viduellen Leistungs- und Aufhebungsverhältnisse. Er hat die Klägerin als Schuldnerin der die Bedarfsgemeinschaft insgesamt betreffenden Aufhebungen angesehen und dabei nicht hinreichend auf die einzelnen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft abgestellt. Die Grundstruktur der individuellen Leistungsansprüche innerhalb der Bedarfsgemeinschaft und der aus dieser Grundstruktur folgenden Aufhebungsverhältnisse wurde nicht beachtet. Die Klägerin wurde nicht als Adressatin individueller Aufhebungsansprüche sondern als Adressatin der Gesamtheit aller Aufhebungen bzgl. der Bedarfsgemeinschaft in Anspruch genommen. Die gegenüber ei-nem Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft verfügte Aufhebung als globale Gesamtaufhebung mit Bezug auf die sich insgesamt auf die Bedarfsgemeinschaft beziehenden Aufhebungen stellt sich nicht mehr als lediglich betragsmäßige Verfehlung sondern als ein Aliud dar. Dem steht nicht entgegen, dass in beiden Fällen der Verfügungssatz (übereinstimmend) die Aufhebung von in Euro bezifferten Leistungen anordnet. Denn in dem einen Fall liegt mit Bezug auf den rechtmäßigen Aufhebungsadressaten eine der Höhe nach unzutreffende Berechnung und nachfolgend eine überhöhte Aufhebung vor, in dem anderen Fall wird der Aufhebungsadressat - mangels Leistungsanspruchs der Bedarfsgemeinschaft und dementsprechend auch mangels rechtmäßiger Aufhebung gegenüber der Bedarfsgemeinschaft - in der geltend gemachten Ge-samtheit durch ihn noch nicht einmal anteilig betreffende Aufhebungsentscheidungen in Anspruch genommen. Es lässt sich dem Aufhebungsverfügungssatz vorliegend nicht entnehmen, dass der Beklagte die Aufhebungen als individualisierte (Teil-) Aufhebungen gewollt und lediglich formal fehlerhaft gegenüber der Klägerin - und nicht gegenüber der Klägerin einerseits und ihrem Ehemann andererseits - verfügt hat. Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn der Beklagte gegenüber der Klägerin zwei bereits dem Verfügungssatz nach individuelle Aufhebungsentscheidungen mit Bezug auf die Klägerin einerseits und mit Bezug auf ihren E-hemann andererseits in einem Bescheid erlassen hätte. Dann wäre die Klägerin mit Bezug auf die Aufhebung gegenüber ihrem Ehemann unrichtiger Adressat und insoweit formal beschwert, doch könnte die ihr gegenüber verfügte individualisierte Aufhebung unter formalen Gesichtspunkten Bestand haben.

Diese Sichtweise korrespondiert letztlich auch mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, dass eine für mehrere Monate erfolgende Aufhebung nach Monaten individualisiert sein muss und bereits aus formalen Gründen eine sich über mehrere Monate erstreckende Gesamtaufhebung rechtswidrig ist (vgl. Urteile vom 2. Juni 2004 - B 7 AL 58/03 R - [juris] und vom 15. August 2002 - B 7 AL 66/01 R - [juris]).

Da sich die Aufhebungsentscheidung als rechtswidrig erweist, stellt sich auch die darauf ge-gründete Erstattungsforderung (§ 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X) als rechtswidrig dar und war aufzuheben.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt die Teilklagerücknahme.

Rechtsmittelbelehrung:
( ...)

L
Richter am Sozialgericht
Rechtskraft
Aus
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