L 9 U 887/08

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 8 U 976/05
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 887/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 20. Dezember 2007 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beklagte wendet sich gegen ihre Verurteilung zur Gewährung einer Verletztenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls des Klägers vom 21.2.1995.

Der 1960 geborene und aus Vietnam stammende Kläger war seit Januar 1994 bei der H. & W. OHG Baustoffgroßhandel als Lagerist beschäftigt. Ausweislich des Durchgangsarztberichtes (DA-Bericht) vom 27.2.1995 (Montag) suchte der Kläger an diesem Tag den Unfallchirurgen Dr. J. auf und gab an, er habe am 21.2.1995 (Dienstag) während der Arbeit mit einem Kollegen einen Betonring getragen. Als sein Kollege losgelassen habe, habe er den Ring allein festhalten müssen und sich dabei die Wirbelsäule verdreht. Nach 3 Stunden habe er die Arbeit wegen Schmerzen unterbrechen müssen. Erstmalig sei er deswegen von Prof. Dr. A. am 27.2.1995 behandelt worden. Dr. J. erhob folgenden Befund: Schonhaltung der Lendenwirbelsäule (LWS), leicht gebückt. Spontan- und Klopfschmerz in der mittleren und unteren LWS. Röntgen der LWS: keine knöcherne Verletzung nachweisbar, normale Konturen. Er diagnostizierte eine Zerrung der LWS, injizierte eine Ampulle Voltaren i. m. und bejahte Arbeitsunfähigkeit. Weitere Behandlungen durch Dr. J. erfolgten in der Zeit vom 28.2.1995 bis 8.3.1995 (Liquidation vom 27.3.1995).

Am 9.3.1995 suchte der Kläger den Chirurgen Dr. M. auf, dem gegenüber er angab, als er einen Betonring zusammen mit einem Kollegen getragen habe, habe dieser plötzlich losgelassen. Dabei habe er Schmerzen im Bereich des Rückens verspürt. Dr. M. erhob folgenden Befund: Starke Druck- und Bewegungsschmerzhaftigkeit über den beiden ISG-Gelenken. Keine neurologische Ausfallerscheinung. Beim Provokationstest Zeichen von Blockierungen L3/4. Röntgen der LWS in zwei Ebenen 20/40/1: keine knöcherne Läsion. Er diagnostizierte ein LWS-Syndrom mit Blockierungen, verneinte einen Arbeitsunfall mangels eines entsprechenden Traumas und verordnete manuelle Therapie im Rahmen der kassenärztlichen Behandlung.

In der Unfallanzeige vom 27.3.1995 führte die H. & W. OHG aus, der Kläger habe zusammen mit einem Kunden ein Betonteil (Gewicht ca. 100 kg) angehoben. Der Kunde habe dann den Gegenstand abgesetzt, während der Kläger das Gewicht allein habe tragen müssen. Hierbei habe er sich die Zerrung der Wirbelsäule zugezogen.

Die Beklagte zog Unterlagen der AOK für den Kreis G. bei, in denen Behandlungen ab 25.8.1992 und wegen einer Lumbalgie erstmals ab 21.2.1995 dokumentiert sind.

Nachdem sich mit Schreiben vom 19.7.1996 Rechtsanwalt Dr. M. für den Kläger gemeldet und um Mitteilung des Sachstandes gebeten hatte, erklärte die Großhandels- und Lagerei-Berufsgenossenschaft (BG), Rechtsvorgängerin der Beklagten, am 20.9.1996, zusammenfassend gehe sie davon aus, dass sich der Kläger am 21.2.1995 eine Zerrung der LWS zugezogen habe. Knöcherne Verletzungen hätten nicht vorgelegen. Arbeitsunfähigkeit habe vom 21.2.1995 bis 19.3.1995 und Behandlungsbedürftigkeit vom 27.2.1995 bis 8.3.1995 bestanden.

Vom 3.4.1995 bis 11.6.1995 war der Kläger wegen eines LWS-Syndroms krankgeschrieben, wegen dessen er vom 11.4.1995 bis 5.5.1995 in der Orthopädischen Klinik am E. konservativ (Diagnosen: Großer Bandscheibenvorfall L4/5 paramedian rechts mit Wurzelkompressionssyndrom L5 rechts) behandelt wurde (Arztbrief vom 9.5.1995). Weitere Krankschreibungen wegen des LWS-Syndroms erfolgten durch Dr. M. für die Zeiträume vom 10.7.1995 bis 16.7.1995, 14.8.1995 bis 16.9.1995 sowie vom 18.9.1995 bis 31.7.1996. Vom 29.1.1996 bis 11.3.1996 befand sich der Kläger dabei zu einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme in der Rheintalklinik Bad K., in der eine persistierende Lumboischialgie rechts bei Bandscheibenprolaps L4/5 ohne Operationsindikation diagnostiziert wurde (Entlassungsbericht vom 19.3.1996), und vom 25.6.1996 bis 12.7.1996 erneut in stationärer Behandlung (Klinik am E.). Weitere Arbeitsunfähigkeitszeiten wegen einer Lumboischialgie bestanden vom 8.7.1997 bis 19.7.1997, 26.11.1998 bis 12.12.1998, 12.3.1999 bis 20.3.1999 sowie vom 24.11.1999 bis 26.11.1999 (Diagnose: Bandscheibenvorfall L5/S1), vom 13.1.2000 bis 14.1.2000 (Bandscheibenverlagerung) und vom 24.1.2000 bis 6.3.2000 (Bandscheibenvorfall L4/5).

Vom 11.5.2000 bis 26.5.2000 befand sich der Kläger zur stationären konservativen Behandlung in der Klinik am Eichert. Die dortigen Ärzte diagnostizierten eine Lumboischialgie beidseits, rechts mehr als links, mit Wurzelkompressionssyndrom L5 rechts bei Bandscheibenvorfall L4/5 medio-lateral rechts und L5/S1 medio-lateral links und rieten zur operativen Therapie. Am 26.5.2000 erfolgte in der Alpha-Klinik in München die Chemonukleolyse und eine endoskopische Bandscheibenoperation L4/5 von rechts mit Sequestrektomie. Vom 21.6.2000 bis 26.7.2000 befand sich der Kläger zu einem stationären Heilverfahren in der Klinik Bad Wimpfen.

Mit Schriftsatz vom 7.3.2000 meldete sich Rechtsanwalt Dr. M. erneut bei der BG und machte Ansprüche des Klägers geltend. Nach Beiziehung von Unterlagen der Radiologischen Praxisgemeinschaft Dr. C. u. a. über Kernspintomographien der LWS vom 24.4.1996, 26.4.1996 und 18.6.1999 sowie Leistungsauszügen der AOK und Einholung von Auskünften bei dem Orthopäden Dr. T. vom 25.4.2000, dem Internisten Prof. Dr. A. vom 26.4.2000, dem Chirurgen Dr. P. vom 29.4.2000, die weitere ärztliche Unterlagen vorlegten, beauftragte die Beklagte Prof. Dr. K., Ärztlicher Direktor der Chirurgischen Universitätsklinik U., mit der Erstattung eines Gutachtens.

In dem zusammen mit Oberarzt PD Dr. G. und Dr. S. erstatteten Gutachten vom 9.8.2001 gelangte Prof. Dr. K. zum Ergebnis, als Unfallfolgen bestünden ein neurologisches Defizit rechtsbetont L4/5 bei Zustand nach Chemonukleolyse und Sequestrektomie L4/5 im Juni 2000, ein Postnukleotomiesyndrom mit Dauerschmerz sowie eine deutliche schmerzbedingte Bewegungseinschränkung. Anlagebedingt bestünden degenerative Veränderungen der Brustwirbelsäule (BWS) und LWS. Bereits im MRT vom April 1995 seien erhebliche degenerative Veränderungen (Dehydratation der Bandscheiben) der gesamten LWS erkennbar. Bei dem Verhebe-trauma ("größer 100 kg") sei von einem adäquaten Trauma auszugehen, so dass der Unfall vom 21.2.1995 "als berufsbedingt zu werten" sei. Die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf unfallchirurgischem Gebiet betrage bei vorbestehendem anlagebedingtem Schaden 10 v.H. Zur Einschätzung der Gesamt-MdE werde eine neurologische und neurochirurgische Vorstellung sowie eine erneute kernspintomographische Abklärung empfohlen.

In der beratungsärztlichen Stellungnahme vom 23.10.2001 führte der Chirurg Dr. K. aus, bei dem Ereignis vom 21.2.1995 sei eine plötzliche Erhöhung einer axial einwirkenden Gewalt auf die Wirbelsäule anzunehmen, aber keine Fehlbelastung der Bandscheiben. Eine Scher- bzw. Rotationswirkung, Überbeugung oder Überstreckung lasse sich nicht erkennen, so dass der Unfallzusammenhang zu verneinen sei. Auch das Schadensbild spreche gegen einen Unfallzusammenhang, da Begleitschäden nicht nachgewiesen seien. Ferner sei eine Niederlegung der Arbeit erst nach 3 Stunden erfolgt. Aus den DA-Berichten von Dr. J. und Dr. M. ließen sich keine Zeichen eines Bandscheibenvorfalls ableiten.

Mit Bescheid vom 6.12.2001 anerkannte die Beklagte den Unfall vom 21.2.1995 als Arbeitsunfall, verneinte jedoch einen Anspruch auf Rente. Zur Begründung führte sie aus, für den durch Kernspintomographie am 13.5.1995 nachgewiesenen Bandscheibenvorfall L4/5 sei das Ereignis vom 21.2.1995 nicht die rechtlich wesentliche Ursache gewesen, da keine Verletzungen der angrenzenden Wirbelkörper bzw. des Bandapparates hätten festgestellt werden können. Als Folgen des Arbeitsunfalls habe eine vorübergehende Behandlungsbedürftigkeit wegen einer Zerrung der LWS bestanden. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 18.3.2002 zurück.

Am 5.12.2001 war bei der Beklagten ein DA-Bericht von Prof. Dr. U., Chefarzt der Unfallchirurgie der Kliniken am Eichert, vom 27.11.2001 eingegangen, in dem über einen Unfall des Klägers vom 26.11.2001 berichtet wurde. Bei der Arbeit sei der Kläger auf den Po und Rücken sowie zuletzt auf den Kopf gefallen. Er sei mit dem Notarztwagen gekommen. Bewusstlosigkeit, Erbrechen und Übelkeit hätten nicht vorgelegen. Prof. Dr. U. diagnostizierte eine LWS/BWS- sowie Schädelprellung und veranlasste eine stationäre Aufnahme zur Abklärung der sensiblen Ausfälle nach Nukleotomie L4/5 in der Orthopädischen Abteilung zu Lasten der Krankenkasse.

Am 25.8.2004 teilte der Kläger, vertreten durch seine jetzigen Bevollmächtigten, der BG mit, sein Gesundheitszustand habe sich seit der letzten Begutachtung verschlechtert. Diese Verschlechterung sei auf den Unfall vom 21.2.1995 zurückzuführen. Es werde eine Überprüfung beantragt. Ferner möge geprüft werden, ob wegen der unfallbedingten Beschwerden Umschulungsmaßnahmen in Betracht kämen.

Die Beklagte zog Unterlagen des Orthopäden Dr. T und der Chirurgen Drs. P./S. bei.

Mit Bescheid vom 25.11.2004 teilte die BG dem Kläger mit, ein Anspruch auf Rente bestehe weiterhin nicht. Zur Begründung führte sie aus, die erneute Überprüfung habe ergeben, dass die Folgen des Arbeitsunfalls weiterhin eine MdE unter 20 v.H. bedingten.

Hiergegen legte der Kläger am 23.12.2004 Widerspruch ein und trug vor, die früheren Gutachten gingen von einem unzutreffenden Sachverhalt aus. Bereits im Jahr 2001 habe Herr H. (H.) von der Firma H. & W. OHG mit Hilfe von zwei Kollegen den tatsächlichen Unfallhergang recherchiert. Auf die beigefügte Bestätigung der Kollegen vom 26.3.2001 werde Bezug genommen. Darin führen Artur E. (E.) und Remiguez W. (W.) aus, der Kläger habe am 21.2.1995 um ca. 10:00 Uhr mit einem Kunden einen Betonring (ca. 100 kg Gewicht) getragen. Da der Kunde diesen Betonring plötzlich und für den Kläger unvorhersehbar losgelassen habe, sei dieser ruckartig mit dem vollen Gewicht belastet worden und habe den Betonring ebenfalls fallen gelassen. Der Kläger habe hierbei das Gleichgewicht verloren und sei rückwärts von der Ladefläche des Lkws gestürzt. Danach habe der Kläger über starke Rückenschmerzen geklagt.

Den Widerspruch gegen den Bescheid, mit dem die Neufeststellung einer Rente abgelehnt worden war, weil weiterhin keinen rentenberechtigende MdE vorliege, wies die BG mit Widerspruchsbescheid vom 7.3.2005, zugegangen am 9.3.2005, zurück.

Hiergegen hat der Kläger am Montag, den 11.4.2005 Klage zum Sozialgericht (SG) Ulm erhoben und zuletzt beantragt, den Bescheid vom 6.12.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.3.2002 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 25.11.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7.3.2005 zu verurteilen, wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 21.2.1995 Verletztenrente nach einer MdE um 30 v.H. zu bewilligen. Er hat vorgetragen, der Unfall habe sich so zugetragen, wie er in der Bescheinigung vom März 2001 geschildert werde. Nachdem sich seine gesundheitlichen Probleme verstärkt hätten, habe sein Arbeitgeber im Jahr 2001 mit zwei Arbeitskollegen über den damaligen Unfall gesprochen. Hierbei habe sich herausgestellt, dass er seinerzeit nicht nur ruckartig mit dem vollen Gewicht des ca. 100 kg schweren Betonrings belastet worden sei, sondern dass sich der gesamte Vorfall nicht auf ebener Erde, sondern auf der Ladefläche eines Lkws abgespielt habe und er infolge der Belastung mit dem Gewicht des Betonrings das Gleichgewicht verloren habe und rückwärts von der Ladefläche des Lkws abgestürzt sei. Auch H. könne dies als Zeuge bestätigen.

Das SG hat H., E. und W. im Termin vom 2.8.2007 als Zeugen vernommen und den Kläger persönlich angehört.

H. hat erklärt, konkrete Angaben könne er nicht machen. Die Unfallanzeige sei von seiner Schwester unterschrieben worden. Die Bescheinigung vom 26.3.2001 habe er veranlasst. E. hat angegeben, am Unfalltag habe der Kläger mit einem Stapler einen Schachtring auf die Ladefläche eines Lkws gehoben. Der Schachtring habe gestanden und umgelegt werden müssen. Beim Umlegen habe der Kunde den Schachtring losgelassen, so dass der Kläger das ganze Gewicht hätte halten müssen. Da er dies nicht habe halten können, habe er losgelassen und sei einen Schritt zurückgetreten, wobei er aus etwa 1,50 m Höhe von der Ladefläche auf den Rücken gestützt sei. Er sei zufällig mit dem Stapler vorbeigefahren, als sich der Unfall ereignet habe. W. hat ebenfalls ausgesagt, der Kläger sei nach Loslassen des Ringes von der Ladefläche des Lkws rücklings herunter gestürzt. Er habe den Unfallhergang beobachtet, weil er in der Nähe mit der Vorbereitung einer Tour beschäftigt gewesen sei. Dabei müsse er sich nicht so konzentrieren, dass er Vorgänge in der Nähe nicht beobachten könnte. Auf die Niederschrift vom 2.8.2007 wird Bezug genommen.

Das SG hat versucht, bei Prof. Dr. A. (angegebener erstbehandelnder Arzt) eine sachverständige Zeugenaussage einzuholen; seine Anschrift war jedoch nicht zu ermitteln. Nach Beiziehung von Röntgen- und MRT-Bildern hat das SG den Orthopäden Dr. B. mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Dieser ist im Gutachten vom 17.10.2007, ausgehend von den Vorgaben des SG, dass der Kläger entsprechend seinen Angaben und denen der Zeugen, rücklings von der Ladefläche des Lkws gestürzt sei, zum Ergebnis gelangt, der Bandscheibenvorfall L4/5 rechts dorsal medio-lateral sei zumindest teilursächlich auf das Ereignis vom 21.2.1995 zurückzuführen, da das Unfallereignis schwer genug gewesen sei, Rissbildungen in der Bandscheibe bzw. im Faserring zu verursachen. Der Sturzereignis erkläre die Rissbildung. Im unmittelbaren Anschluss an den Unfall hätten sich schmerzhafte Funktionsstörungen eingestellt, die zur Arbeitsniederlegung nach ca. einer Stunde geführt hätten. Zuvor habe Beschwerdefreiheit bestanden. Die Symptome sprächen für einen hinteren Bandscheibenvorfall. Die ausgeprägte und schmerzhafte Funktionseinschränkung der LWS und die persistierenden Nervenwurzelbeeinträchtigungen bedingten ab 1.1.2000 eine MdE um 30 v.H.

In der beratungsärztlichen Stellungnahme vom 20.11.2007 hat Dr. K. ausgeführt, prinzipiell sei der Sturz auf das Gesäß und den Rücken geeignet, strukturelle Schäden zu verursachen. Dies reiche jedoch nicht aus, um einen Kausalzusammenhang zu bejahen. Wesentlich sei auch das Schadensbild. Die unfallnah durchgeführte Kernspin-Untersuchung der LWS habe zwar einen Bandscheibenvorfall, jedoch keine Begleitschäden nachgewiesen; ebenso wenig wie die zahlreichen später durchgeführten Kernspintomographien. Eine unphysiologische Belastung der Bandscheiben könne nur durch Veränderungen benachbarter Strukturen belegt werden. Dies sei vorliegend nicht der Fall, weswegen es bei der bisherigen Beurteilung verbleiben müsse.

Der Kläger hat einen Auszug aus der Karteikarte von Prof. Dr. A. vorgelegt, in der Vorstellungen am 21.2.1995 (u. a. akute Lumboischialgie und Arbeitsunfähigkeit 21.2. bis 24.2.1995), 24.2.1995 (Facharztüberweisung) und 27.2.1995 dokumentiert sind.

Mit Urteil vom 20.12.2007 hat das SG die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 6.12.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.3.2002 verurteilt, den Bescheid vom 25.11.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7.3.2005 aufzuheben und dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 21.2.1995 Verletztenrente als Dauerrente nach einer MdE um 20 v.H. ab 1.1.2000 zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Voraussetzungen des § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) seien erfüllt. Der Bandscheibenschaden des Klägers im Bereich der LWK 4/5 sei Folge des Arbeitsunfalls vom 21.2.1995. Ihm stehe deswegen Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. zu. In Bezug auf den Unfallmechanismus halte das SG die ursprüngliche Schilderung des Klägers, die Dr. J., Dr. M. und die Gutachter der Chirurgischen Universitätsklinik Ulm festgehalten hätten, für glaubhaft. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger beim Auffangen der plötzlich aufgetretenen Mehrbelastung den Rumpf gedreht bzw. gebeugt habe oder sich beim Anheben der schweren Last schon in gebeugter Haltung befunden habe. Es sei deshalb von einer ungewöhnlichen, überraschenden und daher unkoordinierten Kraftanstrengung bzw. von einer plötzlichen Mehrbelastung in vorbeugender oder verdrehter Stellung auszugehen. Der für einen traumatisch bedingten isolierten Bandscheibenvorfall erforderliche Mechanismus liege hiernach vor. Die übrigen Voraussetzungen seien ebenfalls erfüllt. Unter Berücksichtigung, dass beim Kläger 1996 und 1999 weitere Bandscheibenschäden im Bereich L5/S1 und L3/4 festgestellt worden seien, die nicht mit Wahrscheinlichkeit im Zusammenhang mit den Unfall gebracht werden könnten, sei von einer unfallbedingten MdE um 20 v.H. auszugehen. Der gerichtliche Sachverständige habe bei der Einschätzung der MdE mit 30 v.H. die unfallunabhängigen Gesundheitsstörungen nicht von den unfallbedingten Schäden abgegrenzt. Die Verletztenrente sei unter Berücksichtigung der "vierjährigen Verjährung" nach § 44 Abs. 4 SGB X ab 1.1.2000 zuzusprechen, weil der Kläger den neuen Feststellungsantrag erst im August 2004 gestellt habe. Dieser Beginn entspreche seinem Klageantrag. Auf die Entscheidungsgründe im Übrigen wird Bezug genommen.

Gegen das ihr am 7.2.2008 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 22.2.2008 Berufung eingelegt und vorgetragen, das Urteil des SG könne keinen Bestand haben. Zu Recht sei das SG zwar von der ursprünglichen Schilderung des Unfalls ausgegangen. Nicht zuzustimmen sei jedoch den weiteren Entscheidungsgründen. Eine mögliche Aufhebung des Bescheids vom 6.12.2001 richte sich nach § 44 SGB X, worauf das SG hinweise. Die vom SG vorgenommene andere medizinische Kausalitätsbeurteilung stelle keinen unrichtigen Sachverhalt und keine unrichtige Rechtsanwendung dar. Unabhängig davon könne sich das SG auch nicht auf das Gutachten von Dr. Bülow stützen, da dieser gemäß den richterlichen Vorgaben von einem Sturz von der Ladefläche ausgegangen sei. Von diesem Hergang sei das SG jedoch nicht ausgegangen. Das Gutachten stütze die Klage nicht, sondern bestätige im Umkehrschluss das zu Grunde liegende Gutachten von Prof. Dr. K ... Das SG habe eine eigene medizinische Beurteilung vorgenommen, die ausschließlich auf einen einzigen Fachkommentar verweise und von keinem Sachverständigen vertreten werde. Der bindende Bescheid vom 6.12.2001 sei weder aufzuheben noch abzuändern und der Folgebescheid vom 25.11.2004 sei rechtmäßig.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 20. Dezember 2007 abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er erwidert, das SG habe im angefochtenen Urteil zutreffend festgestellt, dass der Bandscheibenschaden im Bereich der LWK 4/5 Folge des Arbeitsunfalls vom 21.2.1995 sei und ihm demzufolge eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. zustehe. Den Ausführungen der Beklagten zu § 44 SGB X könne nicht gefolgt werden. Es komme nicht auf den Unfallhergang an; vielmehr sei der gesamte Verwaltungsakt zu überprüfen. Dies umfasse auch die Frage, ob die Beklagte von richtigen medizinischen Voraussetzungen ausgegangen sei. Entgegen der Auffassung der Beklagten habe sich das SG auch auf das Gutachten von Dr. Bülow stützen können. Dieser gehe zwar von dem vom SG vorgegebenen Unfallhergang aus, nenne als geeignetes Unfallereignis für Bandscheibenschäden auch Bewegungen mit Scher- und Rotationswirkung.

Der Senat hat Prof. Dr. S. mit der Erstattung eines Gutachtens nach Aktenlage beauftragt. Im am 14.8.2009 eingegangenen Gutachten führt Prof. Dr. S. aus, gehe man von den Erstangaben des Klägers, der Ärzte, des Arbeitgebers und der früheren Bevollmächtigten aus, sei es wahrscheinlich, dass das Unfallereignis geeignet gewesen sei, zu einer Zerreißung der Bandscheibe zu führen. Ginge man von einem isolierten Sturz - ohne Versuch, den Ring allein zu halten und ohne Verdrehung der gebeugten LWS - aus, wäre eine traumatische Verletzung der Wirbelsäule nicht wahrscheinlich. Ausweislich der Unterlagen habe der Kläger am 21.2.1995 Prof. Dr. A. aufgesucht, der eine akute Lumboischialgie und Arbeitsunfähigkeit vom 21.2.1995 bis 24.2.1995 dokumentiert habe. In beiden DA-Berichten vom 27.2.1995 vom 9.3.1995 werde eine Schmerzhaftigkeit im Bereich der LWS dokumentiert, ohne Angaben über Überprüfungen der Nervenwurzelreizungen und ohne neurologische Untersuchungen. Im Entlassungsbericht der Orthopädischen Klinik G. fänden sich dezidierte Angaben über starke Schmerzen im Bereich der LWS nach einem Verhebetrauma Ende Februar 1995 mit Ausstrahlung in die rechte dorsale Wade. Zusätzlich seien ein Nervenwurzelreizzeichen (Lasèque`sches Zeichen) aktenkundig sowie Gefühlstörungen im Bereich des rechten Beines mit Muskelschwäche. Kernspintomographisch werde ein Bandscheibenvorfall des Bewegungssegmentes L4/5 sowie eine Bandscheibenschädigung (Protrusion) des Bewegungssegmentes L5/S1 dokumentiert. Somit sei im April 1995 ein Bandscheibenvorfall mit akuter Symptomatik, welche seit Februar nach Verhebetrauma bestehe, dokumentiert. Als Unfallfolgen (ausgehend von der ersten Alternative) lägen eine schmerzhafte Belastungs- und Funktionseinschränkung der LWS mit Gefühlsstörungen im Bereich der Beine und Muskelschwäche im linken Bein bei Zustand nach Bandscheibenvorfall L4/5 der LWS nach operativer Entfernung des Bandscheibenvorfalls vor. Diese Unfallfolgen bedingten eine MdE um 20 v.H.

Zur weiteren Darstellung des Tatbestandes wird auf die Akten der Beklagten, des SG sowie des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgemäß eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe gemäß § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegen nicht vor.

Die Berufung der Beklagten ist jedoch nicht begründet, da der Kläger Anspruch auf eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. ab 1.1.2000 hat.

Die Klage ist auch nicht deshalb ganz oder teilweise unzulässig, weil die Beklagte durch den Bescheid vom 6.12.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.2.2002 bereits bindend die Gewährung von Verletztenrente abgelehnt hat. Zwar hat die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid vom 25.11.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7.3.2005 über den Antrag des Klägers vom 25.8.2004 das Begehren des Klägers nicht ausdrücklich unter dem Gesichtspunkt des § 44 SGB X geprüft und diese Vorschrift nicht genannt. Aus Sicht des Klägers hat die Beklagte jedoch ihre bindend gewordene Entscheidung vor Erlass des Bescheides vom 25.8.2004 umfassend geprüft (wozu sie auch verpflichtet war), zumal der Kläger mit seinem Widerspruch verdeutlicht hat, dass die Beklagte aus seiner Sicht von einem unzutreffenden Unfallhergang ausgegangen war. Im Übrigen sind die Gerichte auch nicht gehindert, die Bestimmungen des SGB X anzuwenden und darüber zu entscheiden, ob die Beklagte dem Kläger unter Rücknahme des Bescheides vom 6.12.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2002 für den streitigen Zeitraum ab 1.1.2000 Verletztenrente zu gewähren hat. Denn macht der Betroffene einen Anspruch geltend, dessen Zuerkennung die Rücknahme eines früheren Bescheids voraussetzt, und sieht die Verwaltung hierin fälschlicherweise nur einen Neuantrag, ist vom Gericht dennoch über den Anspruch nach § 44 Abs. 1 SGB X mit zu entscheiden; eine Ergänzung des angefochtenen Bescheids oder gar Erhebung einer Untätigkeitsklage bedarf es nicht (BSG, Urteil vom 29.11.2007 - B 13 R 44/07 R - SozR 4-2600 § 236a Nr. 2 und Urteil vom 17.5.1989 - 10 RKg 19/88 - SozR 1200 § 30 Nr. 17 und in JURIS).

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.

Die Voraussetzungen für die Rücknahme des Bescheides vom 6.12.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2002 liegen vor, da die Beklagte mit diesem Bescheid zu Unrecht die Gewährung von Verletztenrente abgelehnt hat.

Entgegen der Ansicht der Beklagten ist es für die Anwendung von § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X unerheblich, ob die Beklagte bei Erlass des Bescheides vom 6.12.2001 von einem unrichtigen Sachverhalt hinsichtlich des Unfallereignisses oder von einer unrichtigen Kausalitätsbeurteilung ausgegangen ist. Der Normzweck ist die weitgehende Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit zu Gunsten des Bürgers auf Kosten der Bindungswirkung von zu seinen Ungunsten ergangenen Verwaltungsakt (BSG, Urteil vom 5.9.2006 - B 2 U 24/05 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 18 Rn. 12; Steinwedel in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, Stand Dezember 2010, SGB X § 44 Rn. 2). Dabei kann die Unvereinbarkeit von Bescheid und Rechtslage darauf zurückzuführen sein, dass entweder in der rechtlichen Beurteilung der zu entscheidenden Situation ein Fehler gemacht wurde oder die (tatsächliche) Sachlage nicht richtig gewertet wurde. In beiden Fällen liegt eine Fehlentscheidung seitens des Leistungsträgers vor (Vogelgesang in Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch, Stand Februar 2010 SGB X § 44 Rn. 6).

Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch richtet sich aufgrund der übergangsrechtlichen Regelungen nach den Vorschriften des am 1.1.1997 in Kraft getretenen Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII). Nach § 214 Abs. 3 Satz 1 SGB VII gelten die Vorschriften über Renten, Beihilfen, Abfindungen und Mehrleistungen auch für Versicherungsfälle, die vor dem Tag des Inkrafttretens des SGB VII eingetreten sind, wenn diese Leistungen nach dem Inkrafttreten erstmals festzusetzen sind. Dies ist bei der ab 1.1.2000 begehrten Verletztenrente des Klägers der Fall. Nach der neuesten Rechtsprechung des BSG sind Leistungen zu dem Zeitpunkt "erstmals festzusetzen" im Sinne des § 214 Abs. 3 Satz 1 SGB VII, zu dem die Voraussetzungen des jeweiligen Anspruchs erfüllt sind und der Versicherte daher einen Anspruch auf Feststellung des Leistungsrechts hat. Hingegen ist es unerheblich, ob und wann dieses Recht durch Verwaltungsakt festgesetzt wird (BSG, Urteil vom 21.9.2010 - B 2 U 3/10 R - in JURIS Rn. 13 m.w.N.). Aber selbst wenn man davon ausgehen könnte, dass die Voraussetzungen für eine Rentengewährung schon vor dem 1.1.1997 vorgelegen hätten und § 581 Abs. 1 Nr. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) Anwendung finden würde, würde sich hinsichtlich der Beurteilung des Kausalzusammenhangs und der Höhe der MdE kein anderes Ergebnis ergebe.

Der Kläger hat Anspruch auf Gewährung von Verletztenrente wegen der Folgen seines Arbeitsunfalls vom 21.2.1995.

Versicherungsfälle im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung sind nach § 7 Abs. 1 SGB VII Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründeten Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Gemessen hieran hat der Kläger am 21.2.1995 einen versicherten Arbeitsunfall erlitten, was zwischen den Beteiligten auch nicht streitig ist und von der Beklagten mit Bescheid vom 6.12.2001 anerkannt wurde.

Voraussetzung für die Anerkennung bzw. Feststellung einer Gesundheitsstörung als Folge eines Arbeitsunfalls und ihrer Berücksichtigung bei der Bemessung der MdE ist u. a. ein wesentlicher ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis bzw. dem dadurch eingetretenen Gesundheitserstschaden und der fortdauernden Gesundheitsstörung (sog. haftungsausfüllende Kausalität). Dabei müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen, zu denen - neben der versicherten Tätigkeit - der Gesundheitserstschaden und die eingetretenen fortdauernden Gesundheitsstörungen gehören, mit einem der Gewissheit nahekommenden Grad der Wahrscheinlichkeit erwiesen sein. Für die Bejahung eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen dem Gesundheitserstschaden und den fortdauernden Gesundheitsstörungen gilt in der gesetzlichen Unfallversicherung die Kausalitätstheorie der "wesentlichen Bedingung". Diese hat zur Ausgangsbasis die naturwissenschaftlich-philosophische Bedingungstheorie. In einem ersten Schritt ist zu prüfen, ob das Ereignis nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non). Auf Grund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachen für einen Erfolg ist für die praktische Rechtsanwendung in einer zweiten Prüfungsstufe die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden, bzw. denen der Erfolg zugerechnet wird, und anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen. Nach der Theorie der wesentlichen Bedingung werden als kausal und rechtserheblich nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben. Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens abgeleitet werden (vgl. die zusammenfassende Darstellung der Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung im Urteil des BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 17 = BSGE 96, 196-209 und JURIS).

Bei mehreren konkurrierenden Ursachen muss die rechtlich wesentliche Bedingung nach dem Urteil des BSG vom 9.5.2006 (aaO Rdnr. 15) nicht "gleichwertig" oder "annähernd gleichwertig" sein. Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die anderen Ursachen keine überragende Bedeutung haben. Kommt einer der Ursachen gegenüber den anderen eine überragende Bedeutung zu, ist sie allein wesentliche Ursache und damit allein Ursache im Rechtssinn.

Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls (Arbeitsunfall, der hier am 21.2.1995 eingetreten ist) über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, haben nach § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Anspruch auf eine Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nach § 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v. H. mindern.

Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperli¬chen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Die Bemessung der MdE hängt also von zwei Faktoren ab (vgl. BSG, Urteil vom 22.6.2004, B 2 U 14/03 R in SozR 4-2700 § 56 Nr. 1): Den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermö¬gens und dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust un¬ter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Ärztliche Meinungsäuße¬rungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit aus¬wirken, haben keine verbindliche Wirkung, sie sind aber eine wichtige und vielfach unent¬behrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich dar¬auf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletz¬ten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswir¬kungen bestimmter körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE im jeweiligen Einzelfall geschätzt werden. Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtli¬chen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel.

Der Senat geht - ebenso wie das SG - davon aus, dass sich der Arbeitsunfall des Klägers vom 21.2.1995 so zugetragen hat, wie er zeitnah von den behandelnden Ärzten des Klägers Dr. J. (27.2.1995), Dr. M. (9.3.1995) und dem Arbeitgeber (27.3.1995) geschildert wurde. Danach hat der Kläger mit einer weiteren Person einen ca. 100 kg schweren Schachtring getragen, den diese plötzlich und für den Kläger unvorhersehbar losgelassen hat. Bei dem Versuch, den Schachtring allein zu halten, hat sich der Kläger die Wirbelsäule verdreht, und es sind unmittelbar Schmerzen aufgetreten, weswegen der Kläger nach drei Stunden die Arbeit schmerzbedingt einstellte und am selben Tag Prof. Dr. A. aufsuchte. Bestätigt werden diese Angaben durch den Arztbrief der Klinik am Eichert vom 8.5.1995, worin unter Anamnese und Befund "starke Schmerzen im Bereich der LWS mit Ausstrahlung in die rechte dorsale Wade seit Ende Februar nach Verhebetrauma" angegeben werden sowie durch das Gutachten von Prof. Dr. K. vom 9.8.2001, worin der Unfallhergang, der sich nach Aktenlage ergab, vom Kläger bestätigt wurde.

Die Angaben der Zeugen E. und W. im Termin vor dem SG am 2.8.2007, über 12 Jahre nach dem Unfallereignis, hält der Senat - wie schon das SG - nicht für glaubhaft. Zum einen stehen sie im Widerspruch zu den zeitnäheren Angaben des Klägers und zum anderen ist nicht auszuschließen, dass das Unfallereignis im Laufe der Jahre ausgeschmückt und mit anderen Unfallereignissen verknüpft wurde. Nach dem DA-Bericht von Prof. Dr. U. vom 5.12.2001 hat der Kläger nämlich wesentlich später einen weiteren Unfall erlitten, als er am 27.11.2001 auf den Po und Rücken sowie zuletzt auf den Kopf gefallen und mit dem Notarztwagen in die Klinik am Eichert gekommen ist. Soweit der Kläger die fehlenden Angaben über einen Sturz vom Lkw mit mangelnden Sprachkenntnissen zu erklären versucht, ist dies nicht nachvollziehbar, zumal er in der Lage war, das wesentlich komplexere Geschehen (Tragen eines Schachtringes mit einem Kollegen) zu schildern und auch der Arbeitgeber im Termin vor dem SG bestätigt hat, dass der Kläger zwar nicht gut deutsch konnte, aber in der Lage war, sich verständlich zu machen und beispielsweise zu sagen, dass er vom Lkw hinunter gestürzt sei. Auch wäre zu erwarten gewesen, dass ein Sturz vom Lkw in der Unfallanzeige des Arbeitgebers erwähnt wird.

Die auf den 26.3.2001 datierte Bestätigung belegt für den Senat keinen von den Erstangaben des Klägers abweichenden Unfallhergang. Sie wurde schon nicht von E. und W. persönlich, sondern von H. verfasst, der selbst nicht Zeuge des Unfalls war. Darüber hinaus ist auch nicht erkennbar, zu welchem Zweck und ob sie tatsächlich am 26.3.2001 sie erstellt wurde, da sie erst im Dezember 2004 der Beklagten vorgelegt wurde und der Kläger selbst bei der gutachterlichen Untersuchung durch Prof. Dr. K. im Mai 2001 keinen Sturz vom Lkw geschildert hat und die früheren Bevollmächtigten des Klägers ebenfalls nicht.

Als Erstschaden ist beim Kläger ab dem Unfalltag eine Schmerzhaftigkeit im Bereich der LWS dokumentiert, wie sich aus dem Krankenblatt von Prof. Dr. A. (21.2.1995: Lumboischialgie), den DA-Berichten von Dr. J. (27.5.1995: Schonhaltung der LWS, leicht gebückt, Spontan- und Klopfschmerz in der mittleren und unteren LWS) und Dr. M. (9.3.1995: starke Druck- und Bewegungsschmerzhaftigkeit über den beiden ISG) ergibt. Aus dem Arztbrief der Klinik am Eichert vom 9.5.1995 über einen stationären Aufenthalt des Klägers vom 11.4. bis 5.5.1995 ist zu entnehmen, dass seit dem Verhebetrauma Ende Februar starke Schmerzen im Bereich der LWS mit Ausstrahlung in die rechte dorsale Wade bestehen und ein großer Bandscheibenvorfall L4/5 paramedian rechts mit Wurzelkompressions-Syndrom L5 rechts diagnostiziert wurde, wobei ein MRT und ein neurologisches Konzil berücksichtigt wurden.

Der Bandscheibenvorfall L4/5 bzw. das neurologische Defizit rechtsbetont im Bereich L4/5 bei Zustand nach Chemonukleolyse und Sequestrektomie im Juni 2000, das Postnukleotomiesyn-drom mit Dauerschmerz sowie die deutliche schmerzbedingte Bewegungsstörung sind mit Wahrscheinlichkeit Folgen des Arbeitsunfalls vom 21.2.1995. Zu dieser Überzeugung gelangt der Senat insbesondere aufgrund der im Wesentlichen übereinstimmenden Beurteilungen von Prof. Dr. K., dessen Gutachten im Wege des Urkundenbeweises verwertet wird, der Sachverständigen Dr. Bülow und Prof. Dr. S. sowie der unfallmedizinischen Literatur.

Danach (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl., Seite 435) sprechen folgende Umstände für einen Kausalzusammenhang zwischen Bandscheibenvorfall und Unfall • ein Unfallereignis, das schwer genug ist, um Rissbildungen in der Bandscheibe zu verursachen, • dass das Unfallereignis in seiner Mechanik so abgelaufen ist, dass es derartige Rissbildungen erklärt, • dass im Anschluss an den Unfall schmerzhafte Funktionsstörungen an der LWS aufgetreten sind, • dass vor dem Unfall Beschwerdefreiheit, zumindest Beschwerdearmut, vorgelegen hat, • dass klinische Symptome für einen hinteren Bandscheibenvorfall sprechen. Bei dem plötzlichen Loslassen des ca. 100 kg schweren Schachtrings durch den Kunden und die unerwartete Belastung des Klägers und seiner Wirbelsäule handelte es sich um ein Unfallereignis, das schwer genug war, Rissbildungen in der Bandscheibe zu verursachen bzw. zu erklären, wie Prof. Dr. S. für den Senat nachvollziehbar und überzeugend dargelegt hat und wovon auch Prof. Dr. K. ausgegangen ist. Dr. B., der einen anderen Unfallhergang zugrundegelegt hat, hat ebenfalls als ein geeignetes Unfallereignis für einen Bandscheibenschaden eine Verdrehung des Rumpfes unter gleichzeitigem Heben und Bewegen schwerer Lasten genannt. Damit belegen alle drei Gutachten, dass das Unfallereignis vom 21.2.1995 geeignet war, einen Bandscheibenvorfall zu verursachen. Wie oben dargelegt und von den Sachverständigen Dr. Bülow und Prof. Dr. S. bestätigt, sind im Anschluss an den Unfall - schon am Unfalltag - Lendenwirbelsäulenbeschwerden belegt, wie sich aus der Karteikarte von Prof. Dr. A. und den DA-Berichten von Dr. J. und Dr. M. sowie dem Arztbrief der Klinik am Eichert vom 9.5.1995 ergibt. Vor dem Unfall bestand hinsichtlich der Wirbelsäule Beschwerdefreiheit, wie die Leistungsauszüge der AOK, die Zeiten ab 30.4.1991 dokumentieren, belegen und die Auskunft der Praxis von Prof. Dr. A. zeigt, wo sich der Kläger, der seit 1993 dort behandelt wurde, nicht wegen Wirbelsäulenbeschwerden in Behandlung befand. Ferner haben die Röntgen- und MRT-Aufnahmen auch keine wesentlichen degenerativen Vorschäden im Bereich der Wirbelsäule gezeigt. So ergab die Röntgenuntersuchung der LWS durch Dr. J. am 27.2.1995 eine steil gestellte Wirbelsäule ohne fortgeschrittene degenerative Veränderungen, wie Prof. Dr. S. nachvollziehbar dargelegt hat.

Der Beurteilung von Dr. K. in den Stellungnahmen vom 23.10.2001 und 20.11.2007 vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Soweit er ausführt, dass das Verheben bei Personen mit gesunder Wirbelsäule nicht geeignet sei, zu einer Zerreißung der Bandscheibe zu führen, berücksichtigt er nicht, dass es sich vorliegend nicht um ein klassisches Verhebetrauma gehandelt hat, sondern um ein Verdrehtrauma durch eine plötzlich von außen einwirkende Kraft eines Betonrings von 100 kg, wie Prof. Dr. S. überzeugend ausführt. Zu Unrecht geht Dr. K. auch davon aus, dass es im unmittelbaren Anschluss an den Unfall zu keiner schmerzhaften Funktionsstörung gekommen sei. Denn ausweislich der Erstangaben hat der Kläger wegen Schmerzen nach 3 Stunden seine Arbeit eingestellt und Prof. Dr. A. aufgesucht. Auch sein Argument, dass ein Kausalzusammenhang zu verneinen sei, weil keine Begleitschäden nachgewiesen seien, schließt, wie Prof. Dr. S. nachvollziehbar dargelegt hat, einen Kausalzusammenhang nicht aus, zumal das Kernspintomogramm erst ca. acht Wochen nach dem Unfallereignis erstellt wurde. Darüber hinaus sprechen jedenfalls mehr Gründe für einen Kausalzusammenhang als dagegen.

Die schmerzhafte Belastungs- und Funktionseinschränkung der LWS mit Gefühlstörungen im Bereich der Beine und mit Muskelschwäche im linken Bein bei Zustand nach Bandscheibenvorfall und Entfernung des Bandscheibenvorfalls L4/5 bedingt eine MdE um 20 v.H. Zu dieser Überzeugung gelangt der Senat aufgrund der nachvollziehbaren Beurteilung von Prof. Dr. S ... Er hat dargelegt, dass eine MdE von 10 v.H. - wie von Prof. Dr. K. im Gutachten vom 9.8.2001 eingeschätzt - angesichts der Nervenwurzelreiz- und Nervenwurzelausfallsymptomatik zu niedrig ist, während die von Dr. Bülow angenommene MdE von 30 v.H. im Hinblick darauf, dass maßgebend der allgemeine Arbeitsmarkt ist, zu hoch gegriffen ist. Angesichts der fast völlig aufgehobenen Beweglichkeit der LWS (Ott 30/32 cm, Schober 10/11 cm, Fußboden-Abstand bis Kniehöhe, Langsitz unmöglich, Seitneigung fast völlig aufgehoben, Reklination aufgehoben) und unter Berücksichtigung der Nervenwurzelreiz- und Nervenwurzelausfallsymptomatik, derentwegen Prof. Dr. K. die Einholung weiterer Gutachten zur Einschätzung der Gesamt-MdE angeregt hatte, hält der Senat eine MdE um 20 v.H. für angemessen und ausreichend.

Zwar ist der klinische Befund, der eine MdE um 20 v.H. rechtfertigt, erst durch das Gutachten von Prof. Dr. K. aufgrund der Untersuchung vom 22.5.2001 exakt dokumentiert. Im Hinblick darauf, dass am 18.6.1999 ein MRT der LWS wegen ausgeprägter tief sitzender Rückenschmerzen mit Schmerzausstrahlung (vgl. Arztbrief des Radiologen Dr. H. vom 21.6.1999) gefertigt wurde, der Kläger am 18.1.2000 den Neurologen und Nervenarzt Dr. R. wegen Rückenschmerzen mit Einstrahlung in den rechten und linken Unterschenkel aufsuchte, und im Juni 2000 die Chemonukleolyse und Sequestrektomie L4/5 durchgeführt wurde mit verbleibenden Beschwerden, ist der Senat davon überzeugt, dass der im Mai 2001 präzise dokumentierte Befund schon mindestens seit Januar 2000 besteht, weswegen dem Kläger ab diesem Zeitpunkt Verletztenrente nach eine MdE um 20 v.H. zusteht.

Nach alledem war das Urteil des SG nicht zu beanstanden. Die Berufung der Beklagten musste deswegen als unbegründet zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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