L 5 AS 49/08

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 53 AS 580/07
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 5 AS 49/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 9. April 2008 wird zurückgewiesen. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Höhe der Anrechnung von Tagespflegegeld auf die Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Die 1959 geborene alleinstehende Klägerin bezieht seit dem Inkrafttreten des SGB II Leistungen nach diesem Gesetz. Aufgrund Vertrages vom 21. September 2004 betreute sie ab dem 1. Oktober 2004 drei Pflegekinder: D. A., geb. am XX.XXXXXXXXX 1996, C. A., geb. am XX.XXXXXXXXXX 2000 und C. A., geb. am X.XXXXXXXXXX 2002. Im Jahr 2006 kam noch J. A., geb. am X.XXXXXXXX 2006, hinzu. Alle vier Kinder sind Geschwister.

Mit Bescheiden vom 14. Juli 2006 wurde Tagespflegegeld für den hier interessierenden Zeitraum von September 2006 bis August 2007 bewilligt: Für D. und C. im Umfang der Leistungsart TP 30 jeweils monatlich 228,- EUR (Pflegegeldanteil 110,- EUR, Erziehungsgeldanteil 118,- EUR); für C. im Umfang der Leistungsart TP 50 monatlich 343,- EUR (Pflegegeldanteil 143,- EUR, Erziehungsgeldanteil 200,- EUR) und für J. im Umfang der Leistungsart TPK 50 monatlich 403,- EUR (Pflegegeldanteil 143,- EUR, Erziehungsgeldanteil 260,- EUR).

Mit Bescheid vom 8. Dezember 2006 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 6. Februar 2007 bewilligte der Beklagte der Klägerin für den Zeitraum vom 1. Januar bis 30. Juni 2007 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von monatlich 290,50 EUR. Dabei wurde von dem Bedarf in Höhe von 644,- EUR (345,-EUR Regelleistung zzgl. 299,- EUR anteilige Kosten für Unterkunft und Heizung) ein Betrag in Höhe von 353,50 EUR als Einkommen abgesetzt. Der Beklagte wendete hier die seit dem 1. Januar 2007 geltende Vorschrift des § 11 Abs. 4 SGB II an, nach der der Teil des Pflegegeldes nach dem SGB VIII, der für den erzieherischen Einsatz gewährt wird, für das erste und zweite Pflegekind nicht, für das dritte Pflegekind zu 75% und für das vierte und jedes weitere Pflegekind in voller Höhe berücksichtigt wird. Der Beklagte ging entsprechend seiner internen Dienstanweisung davon aus, dass der zu berücksichtigende Erziehungsgeldanteil für alle Kinder jeweils 202,- EUR monatlich betrage, was den Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge entsprach. Diesen Betrag rechnete der Beklagte für ein Kind voll und für ein weiteres Kind zu 75 % an.

Dagegen legte die Klägerin mit Schreiben vom 8. Januar 2007 Widerspruch ein. Sie wies darauf hin, dass der ihr zufließende Erziehungsgeldanteil entgegen den Annahmen in dem Bescheid insgesamt nicht 808,- EUR, sondern lediglich 696,- EUR betrage. Auch verstoße es gegen den Gleichheitssatz, dass ihr ein anrechnungsfreies Einkommen in Höhe von 460,- EUR – statt des Betrages von 342,50 EUR derzeit – verbleiben würde, wenn sie die beiden älteren Kinder, für die weniger Pflegegeld gezahlt werde, abgäbe.

Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14. Februar 2007 zurück. Die angewandte Anrechnungsweise sei – auch im Hinblick auf die Nachrangigkeit von Leistungen nach dem SGB II – nicht zu beanstanden.

Mit der hiergegen am 13. März 2007 erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren nach geringerer Anrechnung des Erziehungsgeldanteils weiterverfolgt. Der Beklagte hat unter anderem eingewendet, dass unter Zugrundelegung des tatsächlich gezahlten Erziehungsgelds kein höherer Anspruch der Klägerin zu errechnen sei. In diesem Fall sei der für J. gezahlte Erziehungsgeldanteil voll anzurechnen, da jener deshalb als viertes Pflegekind im Sinne des § 11 Abs. 4 SGB II anzusehen sei, weil die Klägerin ihn erst seit 2006 betreue, die anderen drei Kinder jedoch bereits seit 2004. Von diesen wiederum sei C. als drittes Pflegekind im Sinne des § 11 Abs. 4 SGB II anzusehen, weil er aus der Gruppe der gleich lang betreuten Kinder das jüngste sei. Dann jedoch wären insgesamt 410,- EUR (260,- EUR zzgl. 75% von 200,- EUR) als Einkommen anzurechnen.

Mit Urteil vom 9. April 2008 hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben und den Beklagten unter Abänderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, der Klägerin für den Zeitraum von Januar bis Juni 2007 weitere 49,- EUR monatlich zu gewähren. Von dem unstreitigen Gesamtbedarf der Klägerin in Höhe von 644,- EUR seien unter Anwendung des § 11 Abs. 4 SGB II nicht, wie geschehen, 353,50 EUR an Einkommen abzusetzen, sondern lediglich 304,50 EUR. Zu Unrecht habe der Beklagte entsprechend den Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge einen Erziehungsgeldanteil für jedes Kind in Höhe von 202,- EUR unterstellt. Vielmehr sei das im konkreten Fall tatsächlich gewährte Erziehungsgeld maßgeblich. Hinsichtlich der Frage, nach welchen Kriterien zu bestimmen sei, welches Pflegekind das erste, das zweite, das dritte und gegebenenfalls das vierte oder weitere sei, führten die von dem Beklagten herangezogenen Kriterien wie der Zeitpunkt der Aufnahme in die Betreuung und das Lebensalter zu zufälligen, nicht sachgerechten und im Übrigen durch die Betreuungspersonen durch Aufnahme, Nichtaufnahme oder Abgabe von Kindern beziehungsweise deren Reihenfolge manipulierbaren Ergebnissen. Zu Recht weise die Klägerin darauf hin, dass ihr nach den angefochtenen Bescheiden der Beklagten bei den vier betreuten Kindern weniger Einkommen verbleibe, als wenn sie die Betreuung der älteren beiden Kinder einstelle. Angesichts dessen sei es sachgerecht, aus dem tatsächlich für alle betreuten Kinder gezahlten Erziehungsgeldanteil an dem Pflegegeld einen durchschnittlichen Erziehungsgeldanteil zu errechnen, so dass es keiner Bestimmung bedürfe, welches Kind erstes, zweites, drittes und weiteres Pflegekind sei. Diese Lösung werde dem Sinn und Zweck der Regelung in § 11 Abs. 4 SGB II gerecht. Der Gesetzgeber sei bei deren Schaffung davon ausgegangen, dass das Pflegegeld als besondere zweckbestimmte Einnahme grundsätzlich insgesamt anrechnungsfrei bleiben solle, dass jedoch bei der Betreuung mehrerer Kinder ab einer gewissen Summe die Lage der Betreuungspersonen so günstig beeinflusst werde, dass daneben ungekürzte Leistungen nach dem SGB II nicht gerechtfertigt wären. Dies entspreche der Regelung in § 11 Abs. 3 SGB II, die bis Ende 2006 auch Anwendung auf das Pflegegeld gefunden habe. Angesichts der uneinheitlichen Rechtsprechung zur Anrechnung von Pflegegeld habe der Gesetzgeber sich veranlasst gesehen, die spezielle Vorschrift des § 11 Abs. 4 SGB II zu schaffen und selbst zu bestimmen, wann der Zeitpunkt erreicht sei, zu dem die zweckbestimmte Einnahme "Erziehungsgeld" einen Umfang erreiche, durch den die Lage des Empfängers so günstig beeinflusst werde, dass daneben Leistungen nach dem SGB II nicht gerechtfertigt wären. Abgestellt werde mithin auf einen Geldbetrag, so dass es unvertretbar wäre, bei sich stark unterscheidender Höhe des Erziehungsgeldanteils für mehrere Kinder die Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung von - manipulierbaren - Zufälligkeiten wie dem Beginn der Betreuung der einzelnen Kinder abhängig zu machen. Auch sei der Gesetzgeber bei der Schaffung des § 11 Abs. 4 SGB II von einem für alle betreuten Kinder gleich hohen Erziehungsgeldbetrag ausgegangen, wenn er dabei an die Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge angeknüpft habe. Unter Zugrundelegung dessen ergebe sich vorliegend ein durchschnittliches Erziehungsgeld in Höhe von 174,- EUR (696,- EUR: 4), so dass für das dritte Kind 130,50 EUR (75% von 174,- EUR) und für das vierte Kind 174,- EUR, insgesamt 304,50 EUR und damit 49,- EUR weniger als in den angefochtenen Bescheiden zu Grunde gelegt, als Einkommen anzurechnen seien.

Mit der am 10. Juni 2008 eingelegten Berufung greift der Beklagte das Urteil des Sozialgerichts an. Die Vorschrift des § 11 Abs. 4 SGB II schreibe eine Anrechnung des in dem Pflegegeld enthaltenen Erziehungsgeldanteils in der Reihenfolge der Pflegekinder vor. Eine Durchschnittsbildung vertrage sich damit nicht. Vielmehr sei auf den Zeitpunkt der Aufnahme der Kinder abzustellen, was zu einer sachgerechten Privilegierung der länger bestehenden Pflegeverhältnisse führe. Allein bei zeitgleicher Aufnahme mehrerer Kinder – wie hier – müsse auf eine Durchschnittsbildung ausgewichen werden. Insoweit seien die Erziehungsgeldanteile der drei ältesten Kinder zu mitteln und das Ergebnis als Erziehungsgeldanteil des dritten Kindes anzusetzen (436,- EUR: 3 = 145,33 EUR); davon seien 75 % und der Erziehungsgeldanteil für das vierte Kind zur Gänze anzurechnen (109,- EUR zzgl. 260,- EUR = 369,- EUR). Damit würden die angefochtenen Bescheide die Klägerin sogar begünstigen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 9. April 2008 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil des Sozialgerichts für richtig.

In der mündlichen Verhandlung vom 16. Juni 2011 haben die Beteiligten im Wege eines Teilvergleichs erklärt, dass die Bedarfsberechnung in den angefochtenen Bescheiden zutreffend erfolgt sei.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozessakte und der Leistungsakte des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung des Senats gewesen.

Entscheidungsgründe:

I.

Die Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben.

Die Berufung ist aber unbegründet. Das angefochtene Urteil ist rechtmäßig; die Bescheide vom 8. Dezember 2006 und 6. Februar 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Februar 2007 waren in dem vom Sozialgericht festgestelltem Umfang rechtswidrig und verletzten die Klägerin in ihren Rechten. Ihr Leistungsanspruch in dem Zeitraum vom 1. Januar 2007 bis zum 30. Juni 2007 lag um monatlich 49,- EUR höher als in den Bescheiden verfügt.

Der monatliche Bedarf der Klägerin war zutreffend mit 644,- EUR berechnet. Das haben die Beteiligten mittels Teilvergleichs unstreitig gestellt. Darauf waren Einkünfte in Höhe von 304,50 EUR anzurechnen. Das ergibt sich aus der Bestimmung des § 11 Abs. 4 SGB II in der damals geltenden Fassung, die lautete:

"Abweichend von den Absätzen 1 bis 3 wird der Teil des Pflegegeldes nach dem Achten Buch, der für den erzieherischen Einsatz gewährt wird,

1. für das erste und zweite Pflegekind nicht, 2. für das dritte Pflegekind zu 75 vom Hundert, 3. für das vierte und jedes weitere Pflegekind in voller Höhe

berücksichtigt."

Hinsichtlich der Berechnung des zu berücksichtigen Teils des Pflegegeldes ist zunächst von den der Klägerin tatsächlich zugeflossenen Erziehungsgeldanteilen auszugehen (so auch Mecke, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, § 11 Rn. 47; Schmidt, in: Oestreicher, SGB II/SGB XII, § 11 SGB II Rn. 161, Stand Okt. 2010) und nicht – wie in den Bescheiden geschehen – von den im Gesetzgebungsverfahren zugrunde gelegten Empfehlungen des Deutschen Vereins (BT-Drs. 16/1410 S. 21). Diese Empfehlungen entfalten keine normative Kraft, sondern bildeten ersichtlich lediglich die Tatsachengrundlage, auf der die Regelung getroffen wurde.

Richtigerweise waren weiterhin von den Erziehungsgeldanteilen keine Absetzungen nach § 11 Abs. 2 SGB II a.F. vorzunehmen. Das ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von § 11 Abs. 4 SGB II a.F. – "abweichend von den Absätzen 1 bis 3" (so auch Hengelhaupt, in: Hauck/Noftz, SGB II, § 11 Rn. 313, Stand Aug. 2008; Hohm/Klaus, in: Hohm, SGB II, § 11 Rn. 450, Stand Okt. 2008; Schmidt, a.a.O., Rn. 163).

Schließlich war die Bestimmung des ersten, zweiten usw. Pflegekindes im Sinne des § 11 Abs. 4 SGB II a.F. nicht nach einer zeitlichen Reihenfolge der jeweils in einem Pflegeverhältnis zum Leistungsberechtigten stehenden Kinder, sondern nach einer Durchschnittsbildung der erhaltenen Erziehungsgeldanteile durchzuführen. Eine Rangfolge nach dem Datum des Betreuungsvertrages (so etwa Hengelhaupt, a.a.O., Rn. 311; Schmidt, a.a.O., Rn. 162) führt in Fällen wie dem vorliegenden von vornherein zu keiner Lösung, da drei der vier Kinder mit Betreuungsvertrag vom selben Tage und auch tatsächlich am selben Tage aufgenommen wurden. Das Kriterium erscheint ohnehin wenig sachgerecht, da es bei unterschiedlich hohen Erziehungsgeldanteilen zu zufälligen Ergebnissen führen kann, die sich in der Höhe durchaus beträchtlich unterscheiden können. Sinn und Zweck der Vorschrift des § 11 Abs. 4 SGB II a.F. – die gesetzliche Bestimmung nämlich, ab welchem Punkt die Lage des Erziehungsgeldempfängers sich so günstig darstellt, dass SGB II-Leistungen nicht gerechtfertigt erscheinen – sowie die Annahme des Gesetzgebers, dass der Erziehungsgeldanteil jeweils gleich sei (BT-Drs. 16/1410 S. 21), legen demgegenüber das Verständnis der Norm nahe, dass der Gesetzgeber bei ein und zwei Pflegekindern eine Anrechnung nicht für geboten hielt, bei drei Kindern einen Anteil teilweise und alle weiteren Erziehungsgeldanteile in voller Höhe anrechnen wollte. Das bedeutet, dass mit den Wörtern "erstes", "zweites" usw. keine Rangfolge gebildet, sondern lediglich die Anzahl der vereinnahmten Erziehungsgeldanteile bestimmt und mit unterschiedlichen Anrechnungsweisen versehen werden sollte. Dann aber entspricht es der gesetzlichen Regelung, einen Durchschnitt aller Erziehungsgeldanteile zu bilden und diesen der Anrechnung zugrunde zu legen; sachgerecht ist dies nach dem oben Gesagten ohnehin, um Zufälligkeiten der Reihenfolge unterschiedlicher Erziehungsgeldanteile auszugleichen: Familien mit gleicher Pflegekindersituation haben auf der Grundlage dieses Normverständnisses in gleicher Höhe freies Einkommen, unabhängig vom Zeitpunkt der Aufnahme der jeweiligen Pflegekinder. Wegen der weiteren Begründung verweist der Senat auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung des Sozialgerichts, die er sich zu Eigen macht.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang in der Hauptsache.

Die Revision war nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen. Die Voraussetzung der grundsätzlichen Bedeutung der Sache ist gegeben, weil das Vorhandensein mehrerer Pflegekinder nicht ungewöhnlich und die Rechtslage – die sich in der Neufassung des SGB II durch das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (vom 24.3.2011, BGBl. I S. 453 ff.) inhaltlich unverändert in § 11a Abs. 3 Satz 2 findet – insoweit nicht höchstrichterlich geklärt ist.
Rechtskraft
Aus
Saved