Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
13
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 13 AS 120/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine Kürzung der Regelleistung nach § 20 Abs. 3 SGB II auf 90 vom Hundert erfolgt nicht, wenn ein Partner der Bedarfsgemeinschaft als Unionsbürger von Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschlossen ist.
Der Bescheid der Beklagten vom 19.10.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.12.2009 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, den Bescheid vom 24.06.2009 zurückzunehmen. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich im Wege des Zugunstenverfahrens gegen die teilweise Aufhebung eines früheren Bewilligungsbescheids und die Herabsetzung seines Regelbedarfs für Juli und August 2009.
Der Kläger steht bei der Beklagten im Leistungsbezug nach dem SGB II. Mit Bescheid vom 05.02.2009 bewilligte sie ihm vom 01.03. bis 31.08.2009 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von monatlich 351 EUR; mit Änderungsbescheid vom 07.06.2009 bewilligte sie für Juli und August 2009 monatlich 359 EUR.
Am 04. oder 08.06.2009 zog Frau X in seine Wohnung ein.
Mit Änderungsbescheid vom 24.06.2009 bewilligte die Beklagte dem Kläger vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von monatlich 323 EUR für Juli und August 2009. Die Bewilligung erfolge vorläufig bis zur Erledigung eines Mitwirkungsschreiben vom 19.06.2009. In diesem forderte die Beklagte den Kläger auf, Angaben zu Frau X zu machen.
Mit Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 30.06.2009 hob die Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 05.02.2009 für die Zeit vom 08. bis 30.06.2009 teilweise in Höhe von 27 EUR auf und forderte den Betrag zurück.
Einen Leistungsantrag von Frau X vom 18.06.2009 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 10.09.2009 ab, den Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 22.09.2009 zurück. Sie habe als ungarische Staatsangehörige während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts – bis 07.09.2009 – nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II keine Leistungsansprüche nach dem SGB II, danach nicht nach Nr. 2 der Vorschrift.
Am 17.09.2009 sprach der Kläger bei der Beklagten vor und machte die Rückerstattung der "abgezogenen Leistungen" geltend. Wenn Frau X als Touristin geführt werde, könnten sie nicht gekürzt werden. Die Beklagte wertete dies als Antrag nach § 44 SGB X auf Überprüfung des Bescheids vom 24.06.2009 und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 29.09.2009 ab.
Am 05.10.2009 ging bei der Beklagten ein mit "Widerspruch" überschriebenes Schreiben des Klägers ein. Frau X sei noch als Touristin registriert und bilde daher mit ihm keine Bedarfsgemeinschaft. Mit Widerspruchsbescheid vom 09.10.2009 verwarf die Beklagte den Widerspruch als unzulässig, da verfristet.
Die Beklagte wertete das Schreiben außerdem als (erneuten) Antrag nach § 44 SGB X auf Überprüfung des Bescheids vom 24.06.2009, den sie mit Bescheid vom 19.10.2009 ablehnte. Frau X sei Mitglied der Bedarfsgemeinschaft, jedoch vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Der Kläger erhob durch seine Prozessbevollmächtigte Widerspruch gegen den Bescheid vom 19.10.2009. Es sei von Anfang an bekannt gewesen, dass Frau X zur Eheschließung einreise. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14.12.2009 zurück. Es bestünden keine Anhaltspunkte, dass das Recht falsch angewandt worden sei.
Der Kläger hat durch seine Prozessbevollmächtigte am 12.01.2010 Klage beim Sozialgericht Karlsruhe erhoben. Zur Begründung wird u.a. ausgeführt, dass Frau X als Touristin geführt werde und nicht Mitglied der Bedarfsgemeinschaft sein könne.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 19.10.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.12.2009 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 24.06.2009 zurückzunehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung führt sie aus, dass es für das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft nicht auf Freizügigkeit oder Leistungsansprüche nach dem SGB II ankomme.
In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger mitgeteilt, dass er und Frau X ungefähr seit Oktober 2010 nicht mehr zusammen seien.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die vorliegende Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zulässig und begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Rücknahme des Bescheids vom 24.06.2009 mit der Folge, dass für Juli und August 2009 die mit Änderungsbescheid vom 07.06.2009 erfolgte Bewilligung wieder zum Tragen kommt. In diesen Monaten hat ihm die ungekürzte Regelleistung von damals monatlich 359 EUR zugestanden.
Der Anspruch auf Rücknahme folgt aus § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist (u.a.) ein Verwaltungsakt, bei dessen Erlass das Recht unrichtig angewandt worden ist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, auch nach Unanfechtbarkeit mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.
Der zu überprüfende Änderungsbescheid vom 24.06.2009 ist zu Unrecht ergangen. Unabhängig davon, dass fraglich ist, ob eine endgültige Bewilligung nachträglich in eine vorläufige abgeändert werden darf, hat der Kläger im Juli und August weiterhin Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bei einem (ungekürzten) monatlichen Bedarfssatz von 359 EUR gehabt. Nach § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II i.V.m. der Bekanntmachung über die Höhe der Regelleistung nach § 20 Absatz 2 Satz 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für die Zeit ab 1. Juli 2009 vom 17.06.2009 hat die monatliche Regelleistung für Personen, die allein stehend oder allein erziehend sind oder deren Partner minderjährig ist, im Juli und August 2009 359 EUR betragen. Nach § 20 Abs. 3 SGB II hat die Regelleistung jeweils 90 vom Hundert der Regelleistung nach Absatz 2 betragen, wenn zwei Partner der Bedarfsgemeinschaft das 18. Lebensjahr vollendet gehabt haben.
Zwar hat die Kammer keine Zweifel, dass der Kläger und Frau X so zusammengelebt haben, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen gewesen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen (§ 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB II). Die Regelleistung ist jedoch dann nicht auf 90 vom Hundert der Regelleistung nach § 20 Abs. 2 SGB II begrenzt, wenn der Partner schon dem Grunde nach nicht anspruchsberechtigt sein kann.
Das LSG Hamburg hat mit Urteil vom 02.09.2010 (L 5 AS 19/08) entschieden, dass § 20 Abs. 3 SGB II "nicht auf solche Bedarfsgemeinschaften (passt), deren einer volljähriger Partner Leistungen nach dem SGB II, deren anderer volljähriger Partner aber lediglich Grundleistungen nach § 3 AsylbLG erhält" (zitiert nach juris, Rn. 21, m.w.N.). Zur Begründung hat es zum einen auf den Wortlaut der Vorschrift abgestellt, wonach die Regelleistung "jeweils" 90 vom Hundert betrage. Zum anderen hat das Gericht seine Entscheidung auf Gesetzesbegründung und Zweck gestützt (Rn. 26 f.):
"Hier wird deutlich, dass es um die gesetzgeberische Absicht ging, wie im Bundessozialhilfsgesetz (BSHG) zwei Volljährigen nicht die doppelte Regelleistung zukommen zu lassen, weil es bei gemeinsamem Wirtschaften Ersparnisse gibt, sondern insgesamt 180 % der Regelleistung, ohne aber wie im BSHG an die Frage nach dem Haushaltsvorstand anzuknüpfen (LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 14.4.2010, a.a.O.; Beschl. v. 3.5.2007, a.a.O.; SG Hamburg, a.a.O.). Das setzt aber voraus, dass beide Partner Leistungen nach dem SGB II empfangen, weil nur in dieser Konstellation die Frage nach doppelter Regelleistung bzw. nach einer Kürzung auf 180 % der Regelleistung auftreten kann.
Danach ist festzustellen, dass hinsichtlich gemischter Bedarfsgemeinschaften eine Regelungslücke vorliegt. In Bezug auf Bedarfsgemeinschaften aus Leistungsempfängern nach dem SGB II einerseits und dem SGB XII andererseits dürfte wegen der gleichen Höhe der Leistungen eine Analogie gerechtfertigt sein (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 21.9.2006 – L 7 SO 5536/05, ZfSH/SGB 2006 S. 750 ff.; Brünner, in: LPK-SGB II, 3. Aufl. 2009, § 20 Rn. 23 m.w.N.). Dasselbe mag auch bei Bedarfsgemeinschaften von Leistungsempfängern nach dem SGB II und nach dem AsylbLG gelten, wenn auf den Leistungsempfänger nach dem AsylbLG gem. § 2 Abs. 1 AsylbLG das SGB XII entsprechend anzuwenden ist (Analogleistungen). Das ist hier aber nicht zu entscheiden. Nicht jedoch kann eine Analogie zu § 20 Abs. 3 SGB II gerechtfertigt sein, wenn der nach dem AsylbLG berechtigte Partner lediglich Grundleistungen nach § 3 AsylbLG erhält. Denn insoweit fehlt es an einer vergleichbaren Interessenlage mit Bedarfsgemeinschaften aus zwei volljährigen Leistungsempfängern nach dem SGB II, da zwar ebenfalls Ersparnisse aufgrund gemeinsamen Wirtschaftens eintreten, wegen der deutlich geringeren Leistungen nach dem AsylbLG (hier konkret nur 199,40 EUR nebst anteiliger Unterkunftskosten) die Bedarfsgemeinschaft aber nicht auf 180 % der Regelleistung nach dem SGB II kommt und daher aus Sicht der Wertungen des SGB II eine Unterdeckung des Bedarfs droht (LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 14.4.2010, a.a.O.; Beschl. v. 3.5.2007, a.a.O.; SG Hamburg, a.a.O.; im Ergebnis auch Krauß, a.a.O.)".
Nach dem Terminbericht Nr. 51/11 des BSG vom 07.10.2011 zu den Entscheidungen vom 06.10.2011 ist die unter dem Aktenzeichen B 14 AS 171/10 R geführte Revision des beklagten Grundsicherungsträgers im Grundsatz ohne Erfolg geblieben. Das LSG sei "zutreffend davon ausgegangen, dass die Regelleistung für zwei volljährige Angehörige der Bedarfsgemeinschaft grundsätzlich nur dann auf jeweils 90 vom Hundert der Regelleistung nach § 20 Abs. 2 SGB II begrenzt ist, wenn es sich um zwei volljährige erwerbsfähige Angehörige handelt, die dem Grunde nach anspruchsberechtigt sein können. Für eine Bedarfsgemeinschaft, in der ein Angehöriger Leistungen nach dem SGB II bezieht, der andere aber Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gilt die Kürzungsregelung in § 20 Abs. 3 Satz 1 SGB II jedenfalls nicht".
Dem schließt sich die Kammer auch für die hier zu beurteilende Konstellation an, das ein Angehöriger der Bedarfsgemeinschaft als Unionsbürger von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist. Auch in dem Fall drohte bei einer Kürzung der Regelleistung auf 90 vom Hundert eine Unterdeckung des Bedarfs. § 20 Abs. 3 SGB II findet als Verteilungsregelung (vgl. die eingehende Begründung des LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14.04.2010, L 10 AS 1228/09) für insgesamt 180 vom Hundert der Regelleistung keine Anwendung, wenn wegen eines schon dem Grunde nach bestehenden Leistungsausschlusses die zu verteilenden Sozialleistungen deutlich hinter dieser Summe zurückbleiben.
Frau X ist auch jedenfalls während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen gewesen; entsprechend hat die Beklagte ihren Antrag (soweit bekannt bestandskräftig) abgelehnt. Auf die zu Nr. 2 der Vorschrift geäußerten unionsrechtlichen Bedenken (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 24.10.2011, L 12 AS 3938/11 ER-B) kommt es dabei nicht an.
Der Anspruch auf Rücknahme des rechtswidrigen Bescheids vom 24.06.2009 ist schließlich nicht nach § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II (a.F.), § 330 Abs. 1 SGB III beschränkt. Zwar ist danach (u.a.) ein unanfechtbarer rechtswidriger, nicht begünstigender Verwaltungsakt, der auf einer Rechtsnorm beruht, die nach dessen Erlass in ständiger Rechtsprechung anders als durch die Agentur für Arbeit ausgelegt worden ist, nur mit Wirkung für die Zeit ab dem Bestehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen, auch wenn die in § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X genannten Voraussetzungen vorliegen. Der Anwendung der Vorschrift dürfte schon entgegenstehen, dass ihr Sinn in einer Verwaltungsvereinfachung besteht und die Agentur für Arbeit bzw. die Leistungsträger nach dem SGB II von einer massenhaften rückwirkenden Korrektur von Verwaltungsakten entlastet werden sollen (Pilz in: Gagel, SGB II / SGB III, Stand: 23. EL - Januar 2005, § 330 SGB III Rn. 15), der Kläger seinen Überprüfungsantrag aber lange vor Ergehen der Entscheidung des BSG vom 06.10.2011 gestellt hat und schon daher keine massenhafte Überprüfung droht. Der Anwendung der Vorschrift steht ferner entgegen, dass keine ständige Rechtsprechung vorliegt zu der Frage der Regelleistungskürzung bei einer Bedarfsgemeinschaft, die aus einem SGB-II-Leistungsempfänger und einem nicht leistungsberechtigten Unionsbürger besteht. Schließlich setzt die Einschränkung durch § 330 SGB III eine "bundeseinheitliche Verwaltungspraxis sämtlicher Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende im Bundesgebiet" voraus (BSG, Urteil vom 21.06.2011, B 4 AS 118/10 R), auf die gerade nicht allein aufgrund einer bloßen Weisungslage geschlossen werden kann. Weitergehende Informationen zur Praxis anderer Leistungsträger hat die Beklagte jedoch nicht beigebracht, sondern eine derartige Praxis lediglich behauptet, ohne dass sie tatsächlich feststellbar wäre.
Abschließend wird darauf hingewiesen, dass der Überprüfungsantrag des Klägers sich auch auf den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 30.06.2009 bezogen haben dürfte. Die Beklagte hat jedoch bislang nur über die Überprüfung des Bescheids vom 24.06.2009 entschieden, und auch das Klagebegehren ist entsprechend beschränkt gewesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Die Zulassung der Berufung beruht auf § 144 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 SGG. Die Frage, ob § 20 Abs. 3 SGB II zur Anwendung kommt, wenn eine Bedarfsgemeinschaft aus einem SGB-II-Leistungsempfänger und einem nicht leistungsberechtigten Unionsbürger besteht, ist soweit ersichtlich noch nicht entschieden. Die bekannten Entscheidungen und Kommentierungen erörtern die Anwendung nur im Hinblick auf das Zusammenleben mit nach § 3 AsylbLG Leistungsberechtigten. Nach dem Terminbericht Nr. 51/11 hat das BSG sich auch nur zu einer solchen Konstellation geäußert.
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich im Wege des Zugunstenverfahrens gegen die teilweise Aufhebung eines früheren Bewilligungsbescheids und die Herabsetzung seines Regelbedarfs für Juli und August 2009.
Der Kläger steht bei der Beklagten im Leistungsbezug nach dem SGB II. Mit Bescheid vom 05.02.2009 bewilligte sie ihm vom 01.03. bis 31.08.2009 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von monatlich 351 EUR; mit Änderungsbescheid vom 07.06.2009 bewilligte sie für Juli und August 2009 monatlich 359 EUR.
Am 04. oder 08.06.2009 zog Frau X in seine Wohnung ein.
Mit Änderungsbescheid vom 24.06.2009 bewilligte die Beklagte dem Kläger vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von monatlich 323 EUR für Juli und August 2009. Die Bewilligung erfolge vorläufig bis zur Erledigung eines Mitwirkungsschreiben vom 19.06.2009. In diesem forderte die Beklagte den Kläger auf, Angaben zu Frau X zu machen.
Mit Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 30.06.2009 hob die Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 05.02.2009 für die Zeit vom 08. bis 30.06.2009 teilweise in Höhe von 27 EUR auf und forderte den Betrag zurück.
Einen Leistungsantrag von Frau X vom 18.06.2009 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 10.09.2009 ab, den Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 22.09.2009 zurück. Sie habe als ungarische Staatsangehörige während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts – bis 07.09.2009 – nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II keine Leistungsansprüche nach dem SGB II, danach nicht nach Nr. 2 der Vorschrift.
Am 17.09.2009 sprach der Kläger bei der Beklagten vor und machte die Rückerstattung der "abgezogenen Leistungen" geltend. Wenn Frau X als Touristin geführt werde, könnten sie nicht gekürzt werden. Die Beklagte wertete dies als Antrag nach § 44 SGB X auf Überprüfung des Bescheids vom 24.06.2009 und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 29.09.2009 ab.
Am 05.10.2009 ging bei der Beklagten ein mit "Widerspruch" überschriebenes Schreiben des Klägers ein. Frau X sei noch als Touristin registriert und bilde daher mit ihm keine Bedarfsgemeinschaft. Mit Widerspruchsbescheid vom 09.10.2009 verwarf die Beklagte den Widerspruch als unzulässig, da verfristet.
Die Beklagte wertete das Schreiben außerdem als (erneuten) Antrag nach § 44 SGB X auf Überprüfung des Bescheids vom 24.06.2009, den sie mit Bescheid vom 19.10.2009 ablehnte. Frau X sei Mitglied der Bedarfsgemeinschaft, jedoch vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Der Kläger erhob durch seine Prozessbevollmächtigte Widerspruch gegen den Bescheid vom 19.10.2009. Es sei von Anfang an bekannt gewesen, dass Frau X zur Eheschließung einreise. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14.12.2009 zurück. Es bestünden keine Anhaltspunkte, dass das Recht falsch angewandt worden sei.
Der Kläger hat durch seine Prozessbevollmächtigte am 12.01.2010 Klage beim Sozialgericht Karlsruhe erhoben. Zur Begründung wird u.a. ausgeführt, dass Frau X als Touristin geführt werde und nicht Mitglied der Bedarfsgemeinschaft sein könne.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 19.10.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.12.2009 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 24.06.2009 zurückzunehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung führt sie aus, dass es für das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft nicht auf Freizügigkeit oder Leistungsansprüche nach dem SGB II ankomme.
In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger mitgeteilt, dass er und Frau X ungefähr seit Oktober 2010 nicht mehr zusammen seien.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die vorliegende Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zulässig und begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Rücknahme des Bescheids vom 24.06.2009 mit der Folge, dass für Juli und August 2009 die mit Änderungsbescheid vom 07.06.2009 erfolgte Bewilligung wieder zum Tragen kommt. In diesen Monaten hat ihm die ungekürzte Regelleistung von damals monatlich 359 EUR zugestanden.
Der Anspruch auf Rücknahme folgt aus § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist (u.a.) ein Verwaltungsakt, bei dessen Erlass das Recht unrichtig angewandt worden ist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, auch nach Unanfechtbarkeit mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.
Der zu überprüfende Änderungsbescheid vom 24.06.2009 ist zu Unrecht ergangen. Unabhängig davon, dass fraglich ist, ob eine endgültige Bewilligung nachträglich in eine vorläufige abgeändert werden darf, hat der Kläger im Juli und August weiterhin Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bei einem (ungekürzten) monatlichen Bedarfssatz von 359 EUR gehabt. Nach § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II i.V.m. der Bekanntmachung über die Höhe der Regelleistung nach § 20 Absatz 2 Satz 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für die Zeit ab 1. Juli 2009 vom 17.06.2009 hat die monatliche Regelleistung für Personen, die allein stehend oder allein erziehend sind oder deren Partner minderjährig ist, im Juli und August 2009 359 EUR betragen. Nach § 20 Abs. 3 SGB II hat die Regelleistung jeweils 90 vom Hundert der Regelleistung nach Absatz 2 betragen, wenn zwei Partner der Bedarfsgemeinschaft das 18. Lebensjahr vollendet gehabt haben.
Zwar hat die Kammer keine Zweifel, dass der Kläger und Frau X so zusammengelebt haben, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen gewesen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen (§ 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB II). Die Regelleistung ist jedoch dann nicht auf 90 vom Hundert der Regelleistung nach § 20 Abs. 2 SGB II begrenzt, wenn der Partner schon dem Grunde nach nicht anspruchsberechtigt sein kann.
Das LSG Hamburg hat mit Urteil vom 02.09.2010 (L 5 AS 19/08) entschieden, dass § 20 Abs. 3 SGB II "nicht auf solche Bedarfsgemeinschaften (passt), deren einer volljähriger Partner Leistungen nach dem SGB II, deren anderer volljähriger Partner aber lediglich Grundleistungen nach § 3 AsylbLG erhält" (zitiert nach juris, Rn. 21, m.w.N.). Zur Begründung hat es zum einen auf den Wortlaut der Vorschrift abgestellt, wonach die Regelleistung "jeweils" 90 vom Hundert betrage. Zum anderen hat das Gericht seine Entscheidung auf Gesetzesbegründung und Zweck gestützt (Rn. 26 f.):
"Hier wird deutlich, dass es um die gesetzgeberische Absicht ging, wie im Bundessozialhilfsgesetz (BSHG) zwei Volljährigen nicht die doppelte Regelleistung zukommen zu lassen, weil es bei gemeinsamem Wirtschaften Ersparnisse gibt, sondern insgesamt 180 % der Regelleistung, ohne aber wie im BSHG an die Frage nach dem Haushaltsvorstand anzuknüpfen (LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 14.4.2010, a.a.O.; Beschl. v. 3.5.2007, a.a.O.; SG Hamburg, a.a.O.). Das setzt aber voraus, dass beide Partner Leistungen nach dem SGB II empfangen, weil nur in dieser Konstellation die Frage nach doppelter Regelleistung bzw. nach einer Kürzung auf 180 % der Regelleistung auftreten kann.
Danach ist festzustellen, dass hinsichtlich gemischter Bedarfsgemeinschaften eine Regelungslücke vorliegt. In Bezug auf Bedarfsgemeinschaften aus Leistungsempfängern nach dem SGB II einerseits und dem SGB XII andererseits dürfte wegen der gleichen Höhe der Leistungen eine Analogie gerechtfertigt sein (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 21.9.2006 – L 7 SO 5536/05, ZfSH/SGB 2006 S. 750 ff.; Brünner, in: LPK-SGB II, 3. Aufl. 2009, § 20 Rn. 23 m.w.N.). Dasselbe mag auch bei Bedarfsgemeinschaften von Leistungsempfängern nach dem SGB II und nach dem AsylbLG gelten, wenn auf den Leistungsempfänger nach dem AsylbLG gem. § 2 Abs. 1 AsylbLG das SGB XII entsprechend anzuwenden ist (Analogleistungen). Das ist hier aber nicht zu entscheiden. Nicht jedoch kann eine Analogie zu § 20 Abs. 3 SGB II gerechtfertigt sein, wenn der nach dem AsylbLG berechtigte Partner lediglich Grundleistungen nach § 3 AsylbLG erhält. Denn insoweit fehlt es an einer vergleichbaren Interessenlage mit Bedarfsgemeinschaften aus zwei volljährigen Leistungsempfängern nach dem SGB II, da zwar ebenfalls Ersparnisse aufgrund gemeinsamen Wirtschaftens eintreten, wegen der deutlich geringeren Leistungen nach dem AsylbLG (hier konkret nur 199,40 EUR nebst anteiliger Unterkunftskosten) die Bedarfsgemeinschaft aber nicht auf 180 % der Regelleistung nach dem SGB II kommt und daher aus Sicht der Wertungen des SGB II eine Unterdeckung des Bedarfs droht (LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 14.4.2010, a.a.O.; Beschl. v. 3.5.2007, a.a.O.; SG Hamburg, a.a.O.; im Ergebnis auch Krauß, a.a.O.)".
Nach dem Terminbericht Nr. 51/11 des BSG vom 07.10.2011 zu den Entscheidungen vom 06.10.2011 ist die unter dem Aktenzeichen B 14 AS 171/10 R geführte Revision des beklagten Grundsicherungsträgers im Grundsatz ohne Erfolg geblieben. Das LSG sei "zutreffend davon ausgegangen, dass die Regelleistung für zwei volljährige Angehörige der Bedarfsgemeinschaft grundsätzlich nur dann auf jeweils 90 vom Hundert der Regelleistung nach § 20 Abs. 2 SGB II begrenzt ist, wenn es sich um zwei volljährige erwerbsfähige Angehörige handelt, die dem Grunde nach anspruchsberechtigt sein können. Für eine Bedarfsgemeinschaft, in der ein Angehöriger Leistungen nach dem SGB II bezieht, der andere aber Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gilt die Kürzungsregelung in § 20 Abs. 3 Satz 1 SGB II jedenfalls nicht".
Dem schließt sich die Kammer auch für die hier zu beurteilende Konstellation an, das ein Angehöriger der Bedarfsgemeinschaft als Unionsbürger von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist. Auch in dem Fall drohte bei einer Kürzung der Regelleistung auf 90 vom Hundert eine Unterdeckung des Bedarfs. § 20 Abs. 3 SGB II findet als Verteilungsregelung (vgl. die eingehende Begründung des LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14.04.2010, L 10 AS 1228/09) für insgesamt 180 vom Hundert der Regelleistung keine Anwendung, wenn wegen eines schon dem Grunde nach bestehenden Leistungsausschlusses die zu verteilenden Sozialleistungen deutlich hinter dieser Summe zurückbleiben.
Frau X ist auch jedenfalls während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen gewesen; entsprechend hat die Beklagte ihren Antrag (soweit bekannt bestandskräftig) abgelehnt. Auf die zu Nr. 2 der Vorschrift geäußerten unionsrechtlichen Bedenken (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 24.10.2011, L 12 AS 3938/11 ER-B) kommt es dabei nicht an.
Der Anspruch auf Rücknahme des rechtswidrigen Bescheids vom 24.06.2009 ist schließlich nicht nach § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II (a.F.), § 330 Abs. 1 SGB III beschränkt. Zwar ist danach (u.a.) ein unanfechtbarer rechtswidriger, nicht begünstigender Verwaltungsakt, der auf einer Rechtsnorm beruht, die nach dessen Erlass in ständiger Rechtsprechung anders als durch die Agentur für Arbeit ausgelegt worden ist, nur mit Wirkung für die Zeit ab dem Bestehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen, auch wenn die in § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X genannten Voraussetzungen vorliegen. Der Anwendung der Vorschrift dürfte schon entgegenstehen, dass ihr Sinn in einer Verwaltungsvereinfachung besteht und die Agentur für Arbeit bzw. die Leistungsträger nach dem SGB II von einer massenhaften rückwirkenden Korrektur von Verwaltungsakten entlastet werden sollen (Pilz in: Gagel, SGB II / SGB III, Stand: 23. EL - Januar 2005, § 330 SGB III Rn. 15), der Kläger seinen Überprüfungsantrag aber lange vor Ergehen der Entscheidung des BSG vom 06.10.2011 gestellt hat und schon daher keine massenhafte Überprüfung droht. Der Anwendung der Vorschrift steht ferner entgegen, dass keine ständige Rechtsprechung vorliegt zu der Frage der Regelleistungskürzung bei einer Bedarfsgemeinschaft, die aus einem SGB-II-Leistungsempfänger und einem nicht leistungsberechtigten Unionsbürger besteht. Schließlich setzt die Einschränkung durch § 330 SGB III eine "bundeseinheitliche Verwaltungspraxis sämtlicher Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende im Bundesgebiet" voraus (BSG, Urteil vom 21.06.2011, B 4 AS 118/10 R), auf die gerade nicht allein aufgrund einer bloßen Weisungslage geschlossen werden kann. Weitergehende Informationen zur Praxis anderer Leistungsträger hat die Beklagte jedoch nicht beigebracht, sondern eine derartige Praxis lediglich behauptet, ohne dass sie tatsächlich feststellbar wäre.
Abschließend wird darauf hingewiesen, dass der Überprüfungsantrag des Klägers sich auch auf den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 30.06.2009 bezogen haben dürfte. Die Beklagte hat jedoch bislang nur über die Überprüfung des Bescheids vom 24.06.2009 entschieden, und auch das Klagebegehren ist entsprechend beschränkt gewesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Die Zulassung der Berufung beruht auf § 144 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 SGG. Die Frage, ob § 20 Abs. 3 SGB II zur Anwendung kommt, wenn eine Bedarfsgemeinschaft aus einem SGB-II-Leistungsempfänger und einem nicht leistungsberechtigten Unionsbürger besteht, ist soweit ersichtlich noch nicht entschieden. Die bekannten Entscheidungen und Kommentierungen erörtern die Anwendung nur im Hinblick auf das Zusammenleben mit nach § 3 AsylbLG Leistungsberechtigten. Nach dem Terminbericht Nr. 51/11 hat das BSG sich auch nur zu einer solchen Konstellation geäußert.
Rechtskraft
Aus
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