S 25 U 341/10

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
25
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 25 U 341/10
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Die Beteiligten haben einander Kosten nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig zwischen den Beteiligten ist ein Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer höheren Verletztenrente – sowohl nach einem höheren Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit, als auch nach einem höheren Jahresarbeitsverdienst - wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls aus dem Jahr 2005.

Die im Jahr 1960 geborene und beruflich als Logopädin tätige Klägerin erlitt am 1. September 2005 auf ihrem Heimweg von der Arbeitsstelle einen Arbeitsunfall, als sie als Fußgängerin von einem Pkw angefahren wurde. Sie erlitt ein Polytrauma und war über mehrere Wochen intensiv- und beatmungspflichtig. Wegen eines Kammerflimmerns musste sie Ende September 2005 reanimiert werden.

Mit Bescheid vom 18. Januar 2008 gewährte die Beklagte der Klägerin wegen der Folgen des Arbeitsunfalls ab dem 15. Februar 2007 eine Verletztenrente als vorläufige Entschädigung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in Höhe von 80 vom Hundert (v. H.) und nach einem Jahresarbeitsverdienst (JAV) von 17.388,00 Euro bzw. – ab dem 1. Juli 2007 um den Faktor 1,0054 angepasst – von 17.481,90 Euro. Als Folgen des Arbeitsunfalls erkannte sie an: Restzustand einer inkompletten Halbseitenlähmung rechts (Hemiparese) in Form einer leichten Kraftminderung im Bereich des Armes und des Beines, Koordinationsschwäche und Bewegungseinschränkungen des Handgelenkes, unvollständiger Faustschluss für den Zeigefinger, Bewegungseinschränkung im oberen und unteren Sprunggelenk für die Fußhebung und -senkung, Bewegungseinschränkung im Hüftgelenk sowie Umfangsminderung der Ober- und Unterschenkelmuskulatur nach Schädelhirntrauma III. Grades, leichte Wortfindungsstörung, verminderte Gedächtnisleistung in Form von verminderter Daueraufmerksamkeitsleistung bei der Verarbeitung von Zahlenmaterial sowie größerer Informationsmengen, allgemeine Verlangsamung und hohe Ablenkungsfähigkeit nach Hirnquetschung mit vielfachen Kontusionsblutungen und operativ entlastetem Hirnödem, leichte Bewegungseinschränkungen des Schultergelenkes in nahezu allen Richtungen mit Hochstand des seitlichen Schlüsselbeinendes und leichtem Oberarmkopfschiefstand nach AC-Gelenkssprengung (Typ Rockwood III) des Schultereckgelenkes rechts, leichte Instabilität des Kniegelenks mit Lockerung des seitlichen Kollateralbandes im Schienbeinkopf sowie röntgenologisch sichtbare Kalksalzminderung im Kniegelenk nach knöchernem Bandausriss im Kniegelenk rechts, folgenlos ausgeheilter Schädelbasisbruch mit Beteiligung der seitlichen und mittleren Augenhöhlenwand (Orbitawand), Bruch des rechten unteren Schädeldaches (Schädelkalotte) sowie Bruch des Nasenbeins. Unfallunabhängig bestünden degenerative Veränderungen der Menisken im rechten Kniegelenk. Ihre Entscheidung zu den Unfallfolgen stützte die Beklagte auf das unfallchirurgische Gutachten von Herrn K vom 26. November 2007 sowie auf die neurologischen bzw. neuropsychologischen Zusatzgutachten von Herrn Dr. med. M vom 11. Juni 2007 bzw. von Frau Dr. med. H vom 11. Juli 2007.

Hiergegen legte die Klägerin mit am 12. Februar 2008 bei der Beklagten eingegangenem Schreiben Widerspruch ein. Sie beantrage eine Erhöhung der MdE und des JAV. Vor dem Hintergrund einer bei ihr bestehenden Apraxie müsse die MdE auf mindestens 90 v. H. erhöht werden. Ohne den Unfall hätte sie als Logopädin Vollzeit gearbeitet und monatlich mindestens 2.702,26 Euro erhalten. Deshalb sei der JAV auf mindestens 32.427,12 Euro zu erhöhen. Jedenfalls sei der von der Beklagten herangezogene JAV vor dem Hintergrund als unbillig einzustufen, als sie bisher fast 20 Jahre lang auf Teil- oder Vollzeitstellen als Logopädin gearbeitet habe. Zudem habe sich eine Symptomatik im Bereich der Kniegelenke ausschließlich wegen der Folgen des Arbeitsunfalls verschlimmert.

Während des Widerspruchsverfahrens gab die Beklagte ein neurologisches Gutachten bei Herrn Professor Dr. M (Datum des Gutachtens: 29. April 2008, ergänzt durch eine Stellungnahme vom 25. Juni 2008) sowie ein neuropsychologisches Gutachten bei Frau Dr. H (Datum des Gutachtens: 14. Mai 2008) in Auftrag.

Mit Bescheid vom 25. August 2008, der gemäß § 86 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des laufenden Verfahrens wurde, stellte die Beklagte eine Rente auf unbestimmte Zeit ab dem 1. September 2008 nach einer MdE von 75 v. H. und einem JAV von 17.674,20 Euro fest. Ihre Entscheidung stützte sie auf die während des Widerspruchsverfahrens eingeholten Gutachten.

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin (vorsorglich) mit am 2. September 2008 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben Widerspruch ein. Ihre MdE sei mit mindestens 90 v. H. zu bewerten. Grund seien eine Blasenstörung, eine Apraxie, eine Schädigung des Hüftgelenks und eine Störung des Arbeitsgedächtnisses, die nicht hinreichend berücksichtigt worden seien. Zudem sei eine Hypophyseninsuffizienz mit einer MdE von 5 v. H. bewertet worden. Der Neurologe und Psychiater Dr. R habe in einem rentenrechtlichen Gutachten eine Apraxie beschrieben. Zudem sei die Berechnung des JAV nach wie vor unbillig.

Aufgrund der vorgetragenen Blasenstörung holte die Beklagte bei Professor Dr. M , Direktor der Klinik für Urologie an der C , ein urologisches Gutachten ein (Datum des Gutachtens: 6. Juli 2009). Nach Vorlage des Gutachtens von Herrn Professor Dr. M bat die Beklagte den Orthopäden Herrn K um eine neuerliche Bewertung der Gesamt-MdE.

Mit Bescheid vom 16. April 2010 half die Beklagte dem Widerspruch der Klägerin insofern ab, als sie ihr ab dem 1. September 2008 weiterhin eine Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von 80 v. H. gewährte. Im Übrigen wies sie die Widersprüche zurück. Herr Professor Dr. M habe bei der Klägerin ein Syndrom der überaktiven Harnblase durch sensorische Überempfindlichkeit (sogenannte Urge-Symptomatik) festgestellt. Dieses sei Folge des Arbeitsunfalls und mit einer Einzel-MdE von 10 v. H. zu bewerten. Weiterhin seien die Beschwerden, die in einem Zusammenhang mit der Hypophyseninsuffizienz stünden, bei der Bildung der Gesamt-MdE zu berücksichtigen. Es handele sich hierbei um eine partielle Insuffizienz des adrenocorticotropen Hormons (ACTH) und um eine Insuffizienz des Wachstumshormons. Die mit der Hormonstörung zu vereinbarenden Beschwerden im Sinne von Abgeschlagenheit und vermehrtem Schlafbedarf seien allerdings bereits von Herrn K in seinem Gutachten vom 24. Juni 2008 mit einer MdE von 5 v. H. berücksichtigt worden. Jedoch sei der unfallbedingte Mangel bzw. komplette Ausfall der beiden Hormone noch nicht bescheidmäßig als Unfallfolge anerkannt worden, so dass als weitere Unfallfolge auch Abgeschlagenheit und erhöhtes Schlafbedürfnis aufgrund Hypophyseninsuffizienz anzuerkennen seien. Auf der Grundlage der Bewertung durch Herrn K betrage die Gesamt-MdE nach wie vor 80 v. H. Die unfallchirurgische MdE sei von Herrn K in seinem Gutachten vom 24. Juni 2008 mit 10 v. H. eingeschätzt worden. Herr Professor Dr. M habe in seiner Stellungnahme vom 25. Juni 2008 die Gesamt-MdE auf neurologischem bzw. neuropsychologischem Fachgebiet mit 60 v. H. bewertet, wobei er das neuropsychologische Gutachten von Frau Dr. H vom 14. Mai 2008 mit einbezogen habe. Die MdE auf urologischem Gebiet betrage 10 v. H. und auf endokrinologischem Gebiet sei wegen der Hypophyseninsuffizienz von einer MdE von 5 v. H. auszugehen. Die begehrte Anerkennung von weiteren Beschwerden als Unfallfolge – insbesondere Apraxie und Kniebeschwerden, soweit nicht bereits festgestellt – habe nicht erfolgen können. So hätten weder Professor Dr. M noch Frau Dr. H in ihren fachärztlichen Gutachten Hinweise auf Störungen des Handlungsentwurfs oder der Handlungsdurchführung im Sinne von Apraxien gefunden. Frau Dr. H schreibe, dass sich aus neuropsychologischer Sicht keine Hinweise auf das Vorliegen einer ideatorischen Apraxie ergäben, und dass die von der Ergotherapeutin der Klägerin beschriebenen Probleme im Rahmen einer Störung exekutiver Teilfunktionen vollständig erklärbar seien. Herr K beschreibe in seinem unfallchirurgischen Gutachten vom 24. Juni 2008, dass das rechte Kniegelenk in der Messung eine Einschränkung der Streckfähigkeit von 10 Grad habe. Ebenso sei das obere Sprunggelenk für das Heben und Senken jeweils um 10 Grad in seiner Beweglichkeit vermindert. Bei der funktionellen Untersuchung habe das rechte Kniegelenk eine unauffällige Führung des vorderen und des hinteren Kreuzbandes gezeigt. Eine Schublade habe sich nicht auslösen lassen. Der Lachmann-Test habe einen festen Anschlag gezeigt. Die Kollateralbänder seien stabil gewesen, jedoch habe sich bei dem lateralen Kollateralband in der Führung eine leichte Lockerung gezeigt. Als Unfallfolgen habe Herr K am rechten Kniegelenk eine leichte Instabilität nach knöchernem Bandausriss des lateralen Kollateralbandes am Tibiakopf mit Minderung der Belastbarkeit und leichter Einschränkung der Streckfähigkeit festgestellt. Diese Beschwerden seien bereits mit Bescheid vom 18. Januar 2008 und dem zum Gegenstand des Widerspruchsverfahrens gewordenen Bescheid vom 25. August 2008 anerkannt worden. Eine Berechnung der Verletztenrente nach einem höheren JAV komme nicht in Betracht. Gesetzeszweck der Berechnungsvorschrift des § 82 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) sei es, den Lebensstandard im Jahr vor dem Versicherungsfall zum Maßstab für die Rente zu machen. Nach den vorliegenden Berechnungen sei der JAV in der Zeit vom 1. September 2004 bis zum 31. August 2005 erheblich niedriger gewesen als der vom Gesetzgeber festgelegte Mindest-JAV, so dass letzterer zugrunde zu legen gewesen sei. In Vorjahren erzielte Entgelte oder nach dem Versicherungsfall zu erwartende höhere Entgelte seien nicht zu berücksichtigen. Dieser Grundsatz sei nur dann nicht maßgebend, wenn innerhalb des betreffenden Jahres beim Versicherten eine wesentliche Änderung der beruflichen Situation, verbunden mit einer erheblichen Änderung seines Arbeitseinkommens – nicht nur vorübergehend, sondern auf Dauer – eingetreten ist. Die Korrektur der JAV-Berechnung diene im Wesentlichen dem Zweck, dem Versicherten den vor dem Versicherungsfall erreichten Lebensstandard zu sichern, wenn sich der Versicherte hierauf auf Dauer eingerichtet habe. Unbillig sei ein JAV dann, wenn ein aus besonderen Gründen vorübergehend niedriges, der normalen Lebenshaltung des Versicherten nicht entsprechendes Einkommen der Rentenberechnung als JAV zugrunde gelegt und als Maßstab für die gesamte Laufzeit der Rente gemacht werde. Nach den vorliegenden Unterlagen habe die Klägerin in dem hier zugrunde gelegten JAV-Zeitraum vom 1. September 2004 bis 31. August 2005 regelmäßig Einkünfte in gleicher Höhe erzielt. Dadurch dass sie in den Jahren vor dem 1. September 2004 den Bescheiden des Finanzamtes zufolge keine positiven Einkünfte erzielt habe, habe sich ihre Einkommenssituation in dem hier maßgeblichen JAV-Zeitraum verbessert. Ob die Klägerin ohne den Unfall vom 1. September 2005 in der Zukunft eine Vollzeitanstellung als Logopädin erhalten hätte und diese nach einem Bruttogehalt von 2.702,26 Euro bezahlt worden wäre, bleibe zum einen rein spekulativ; zum anderen werde ein entsprechender Sachverhalt von der Unbilligkeitsprüfung gemäß § 87 SGB VII nicht erfasst.

Am 10. Mai 2010 erhob die Klägerin über ihren Prozessbevollmächtigten Klage vor dem Sozialgericht Berlin. Nach § 82 Absatz 2 SGB VII sei es im Rahmen der Berechnung des JAV unbillig, ein Einkommen lediglich aus einer Halbtagsbeschäftigung zugrunde zu legen. Sie könne keinesfalls darauf verwiesen werden, auf Dauer nur eine Teilzeitbeschäftigung ausüben zu wollen bzw. zu können. Soweit sich die Beklagte darauf berufe, eine Apraxie sei ärztlicherseits nicht festgestellt worden, sei dies unzutreffend. Eine Apraxie liege vor und sei mit einer Einzel-MdE von 20 v. H. zu bewerten. Die Störung zielgerichteter und geordneter Bewegungen sei als eine erhebliche Behinderung anzusehen. Insgesamt betrage die MdE auf neurologischem und neuropsychologischem Fachgebiet 70 v. H., diejenige auf unfallchirurgischem Gebiet 20 v. H. Zudem sei nicht verständlich, weshalb die bisher bei der Bewertung außer Acht gebliebene Blasenstörung und die Hypophyseninsuffizienz lediglich zu einer Erhöhung der MdE auf 80 v. H. führen sollten. Abgesehen davon sei die Bewertung der Hypophyseninsuffizienz mit lediglich 5 v. H. nicht ausreichend; vielmehr sei insoweit eine Einzel-MdE von 10 v. H. zu veranschlagen. Die Gesamt-MdE sei auf mindestens 90 v. H. festzusetzen.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 18. Januar 2008 in der Fassung des Bescheides vom 25. August 2008 und in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. April 2010 abzuändern und

die Beklagte zu verurteilen, ihr wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 1. September 2005 ab dem 15. Februar 2007 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit in Höhe von wenigstens 90 vom Hundert der Vollrente und nach einem höheren als dem jeweiligen Mindest-Jahresarbeitsverdienst zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie sich im Wesentlichen auf ihre Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden. Hinsichtlich der weiteren Ausführungen wird insbesondere auf den Schriftsatz vom 21. Juni 2010 Bezug genommen.

Die Kammer hat gemäß § 106 Absatz 3 Nr. 5 und Absatz 4 SGG Beweis erhoben, indem sie bei dem Facharzt für Neurologie Herrn Dr. med. B ein Gutachten in Auftrag gegeben hat. Dr. B untersuchte die Klägerin am 17. Januar und 21. Februar 2011 in seinen Praxisräumen und verfasste sein Gutachten am 8. März 2011.

Im Hinblick auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. med. B holte die Beklagte bei dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. F , Medizinisches Gutachteninstitut H , eine beratungsärztliche Stellungnahme ein, auf die sie sich beruft (Datum der Stellungnahme: 23. Juni 2011).

Weiterhin hat die Kammer gemäß der vorgenannten Vorschrift Beweis erhoben, indem sie bei dem Facharzt für Orthopädie Herrn Dr. med. W.-R ein Gutachten in Auftrag gegeben hat. Herr Dr. med. W -R führte am 27. Juli 2011 eine ambulante Untersuchung der Klägerin durch und erstellte sein Gutachten am Folgetag.

Die Gerichts- und Verwaltungsakten haben in der mündlichen Verhandlung und bei der Entscheidung vorgelegen. Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten sowie des übrigen Inhalts wird auf sie Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 18. Januar 2008 in der Fassung des Bescheides vom 25. August 2008 und in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. April 2010 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 1. September 2005 ab dem 15. Februar 2007 keinen Anspruch auf Gewährung einer höheren Verletztenrente als nach einer MdE von 80 v. H. bzw. nach einem höheren JAV als dem jeweils maßgeblichen Mindest-JAV.

Gemäß § 56 Absatz 1 Satz 1 SGB VII haben Versicherte Anspruch auf Rente, wenn ihre Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalles über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist.

Nach § 56 Absatz 2 Satz 1 SGB VII richtet sich die MdE nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Das die gesetzliche Unfallversicherung beherrschende Prinzip der abstrakten Schadensbemessung besagt, dass die Entschädigung nach dem Unterschied der auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens bestehenden Erwerbsmöglichkeiten vor und nach dem Arbeitsunfall zu bemessen ist (vgl. BSGE 31, 158; SozR 2200 § 581 Nr. 6). Es kommt hierbei nicht maßgeblich darauf an, in welchem Umfang der Verletzte in der Ausübung der bisherigen versicherten Tätigkeit beeinträchtigt ist. Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten durch die Unfallfolgen eingeschränkt werden, liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Dabei sind bei der Beurteilung der MdE auch die von der Rechtsprechung sowie von dem unfallversicherungsrechtlichen und unfallmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die zwar nicht im Einzelfall bindend sind, aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Beurteilung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis bilden (vgl. Bundessozialgericht – BSG -, Urteil vom 23. April 1987 – 2 RU 42/86 m.w.N., zitiert nach Juris).

In die Bewertung der MdE können indes nur diejenigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen einfließen, die in einem notwendigen ursächlichen Zusammenhang mit der schädigenden Einwirkung stehen. Nach der im Sozialrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung genügt nicht jedes Glied in einer Ursachenkette, um die Verursachung zu bejahen, weil dies zu einem unendlichen Ursachenzusammenhang führen würde. Als kausal und im Sozialrecht erheblich werden vielmehr nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Gesundheitsschaden zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben. Dies bedeutet, dass nicht jeder Gesundheitsschaden, der durch ein Ereignis naturwissenschaftlich verursacht wird, im Sozialrecht als Folge eines Arbeitsunfalls anerkannt wird, sondern nur derjenige, der wesentlich durch das Ereignis verursacht wurde. Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besonderen Beziehungen der Ursache zum Eintritt des Gesundheitsschadens abgeleitet werden (so schon BSGE 1,72, 76; 1, 150; 13, 175). Für diese wertende Entscheidung über die Wesentlichkeit einer Ursache hat die Rechtsprechung folgende Grundsätze herausgearbeitet: Es kann mehrere rechtlich wesentliche Mitursachen geben. Sozialrechtlich ist allein relevant, ob das Unfallereignis wesentlich war. Ob eine konkurrierende Ursache es war, ist unerheblich. "Wesentlich" ist nicht gleichzusetzen mit "gleichwertig" oder "annähernd gleichwertig". Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die andere(n) Ursache(n) keine überragende Bedeutung hat (haben) (BSG SozR Nr. 69 zu § 542 aF RVO; BSG SozR Nr. 6 zu § 589 RVO). Beweisrechtlich ist zu beachten, dass der je nach Fallgestaltung ggf. aus einem oder mehreren Schritten bestehende Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und den Unfallfolgen als anspruchsbegründende Voraussetzung positiv festgestellt werden muss. Es gibt im Bereich des Arbeitsunfalls keine Beweisregel, dass bei fehlender Alternativursache die versicherte naturwissenschaftliche Ursache automatisch auch eine wesentliche Ursache ist, weil dies bei komplexem Krankheitsgeschehen zu einer Beweislastumkehr führen würde (BSGE 19, 52 = SozR Nr. 62 zu § 542 aF RVO; BSG, Urteil vom 7. September 2004 - B 2 U 34/03 R -). Für die Feststellung dieses Ursachenzusammenhangs - der haftungsbegründenden und der haftungsausfüllenden Kausalität - genügt hinreichende Wahrscheinlichkeit (ständige Rechtsprechung BSGE 19, 52 = SozR Nr. 62 zu § 542 aF RVO; BSGE 32, 203, 209 = SozR Nr. 15 zu § 1263 aF RVO; BSGE 45, 285, 287 = SozR 2200 § 548 Nr. 38, BSGE 58, 80, 83 = SozR 2200 § 555a Nr. 1). Diese liegt vor, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden; die reine Möglichkeit genügt nicht (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006 a.a.O. mit Hinweis auf BSG SozR Nr. 41 zu § 128 SGG; BSG SozR Nr. 20 zu § 542 aF RVO; BSGE 19, 52 = SozR Nr. 62 zu § 542 aF RVO; BSG SozR 3-1300 § 48 Nr. 67; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage 2010, Kapitel 1.5; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008, § 128 Rn. 3c).

Unter maßgeblicher Berücksichtigung dieser Ausführungen ist die Kammer der Auffassung, dass die Einzel-MdE der Klägerin auf neurologischem und neuropsychologischem Fachgebiet nicht mehr als 60 v. H. und diejenige auf unfallchirurgischem Fachgebiet nicht mehr als 10 v. H. beträgt.

Soweit das neurologische bzw. das neuropsychologische Fachgebiet betroffen ist, stützt sich die Kammer auf die im Verwaltungsverfahren bei Herrn Professor Dr. M und bei Frau Dr. H eingeholten Gutachten sowie auf die beratungsärztliche Stellungnahme des Herrn Dr. F. In seinem Gutachten vom 29. April 2008 diagnostizierte Professor Dr. M bei der Klägerin als Unfallfolgen auf seinem Fachgebiet eine leichtgradige Hemiparese rechts sowie einen Zustand nach Hirnverletzung, der zu einer hormonellen Störung der Nebennieren-Achse und zu einer verminderten Wachstumshormonproduktion geführt hat. Die leichtgradige Hemiparese, die sich besonders nach längerer Belastung und bei höheren Leistungsanforderungen bemerkbar mache, bewertet er mit einer MdE von 30 v. H. und die hormonelle Störung mit einer solchen von weniger als 10 v. H. Grob auffällige apraktische Störungen konnte er nicht feststellen. Auf neuropsychologischem Fachgebiet diagnostizierte Frau Dr. H in ihrem Gutachten vom 14. Mai 2008 bei der Klägerin zum einen eine geringgradige Aphasie, in deren Zusammenhang selten Wortfindungsstörungen und gelegentlich Wortwahlfehler auftreten. Deutlich ausgeprägter sei – so die Gutachterin Frau Dr. H – eine diskursive Sprachstörung, die Teil einer – in hohem Maße alltags- und berufsrelevanten - exekutiven Funktionsstörung sei. Außerdem bestehe eine erhöhte Irritierbarkeit und Ablenkbarkeit durch störende Geräusche/Stimuli aus der Umgebung. Eine Störung des Arbeitsgedächtnisses liege hingegen nicht mehr vor. Das kognitive Schätzen als Teilbereich exekutiver Funktionen, für das auch auf semantisches Wissen zurückgegriffen werde und mit Zahlen und Maßeinheiten operiert werden müsse, sei unauffällig. Alltagsrelevant beeinträchtigend sei auch eine unzureichende Fehlerkontrolle und reduzierte Selbstbeobachtung bei geringgradig strukturierten Aufgaben. Weiterhin lägen geringgradige Beeinträchtigungen in der Intensität der Aufmerksamkeit mit einer leichten Reaktionsverlangsamung vor. Im Bereich der Gedächtnisfunktionen träten in Abhängigkeit von der Tagesverfassung Leistungsschwankungen im Erwerb neuen Wissens auf. Hinweise auf das Vorliegen einer ideatorischen Apraxie hätten sich aus neuropsychologischer Sicht nicht ergeben. Die von der Ergotherapeutin der Klägerin beschriebenen Probleme seien im Rahmen einer Störung exekutiver Teilfunktionen vollständig erklärbar. Vor diesem Hintergrund bewertet Frau Dr. H die MdE der Klägerin auf neuropsychologischem Fachgebiet – nachvollziehbar – mit 40 v. H. Die Gebiete der Neurologie und Neuropsychologie zusammengefasst ergibt sich nach der gutachterlichen Stellungnahme von Herrn Professor Dr. M eine MdE von 60 v. H. Diese Bewertung überzeugt vor dem Hintergrund, dass aufgrund der funktionellen Betrachtungsweise bei der Bemessung der MdE die wechselseitigen Beziehungen der Einzelschäden zusammenfassend zu berücksichtigen sind. Insbesondere auf den fachverwandten Gebieten der Neurologie und Neuropsychologie kommt es zu einer deutlichen Überlappung von aus den einzelnen Unfallfolgen resultierenden funktionellen Beeinträchtigungen, so dass die MdE von 40 v. H. auf dem Gebiet der Neurologie unter Einbeziehung der funktionellen Beeinträchtigungen auf neuropsychologischem Gebiet zu Recht nur maßvoll auf 60 v. H. zu erhöhen war.

Der auf dem Gebiet der Neurologie gerichtlich bestellte Sachverständige Dr. B gelangt indes in seinem Gutachten vom 8. März 2011 für die Gebiete der Neurologie und Neuropsychologie zu einer Bewertung der MdE mit 70 v. H. Zwar konnte auch er aus neurologischer Sicht das Symptom der Apraxie nicht feststellen, wirft jedoch die Frage auf, ob die als "apraktisch" wahrgenommenen Symptome bei der Zuerkennung der MdE hinreichend gewürdigt worden seien und beantwortet diese dahingehend, dass die von Herrn Professor Dr. M für die Hemiparese in Ansatz gebrachte Teil-MdE von 30 v. H. vor dem Hintergrund einer deutlichen feinmotorischen Störung im Bereich der rechten Hand zu niedrig angesetzt worden sei. Vielmehr belaufe sich die Teil-MdE insoweit auf 40 v. H., so dass die MdE auf neurologischem und neuropsychologischem Fachgebiet insgesamt mit 70 v. H. einzuschätzen sei.

Diese Beurteilung des Sachverständigen Herrn Dr. B überzeugt die Kammer indes nicht: Die Kammer geht – unter Bezugnahme auf die beratungsärztliche Stellungnahme des Neurologen und Psychiaters Dr. F – davon aus, dass die Hemiparese bzw. Halbseitenschwäche rechts nach den erhobenen Befunden mit einer Teil-MdE von 30 v. H. zutreffend bzw. im oberen Bereich gutachtlichen Ermessens eingeschätzt worden ist. Dies ergibt sich aus den von Professor Dr. M sorgfältig erhobenen klinischen Befunden, denen sich insbesondere keine ganz gravierende Einschränkung der Feinmotorik der rechten Hand entnehmen lässt. Zudem ist die Klägerin – nach den Ergebnissen der Untersuchung durch Professor Dr. M – nicht beim Gehen, sondern nur beim Rennen beeinträchtigt. Dies entspricht auch den Befunden, die bereits zu Ende der stationären Rehabilitation am Zentrum für Rehabilitation des Universitätsklinikums B F am 9. Februar 2006 erhoben worden waren. Dort wurde ausdrücklich auf ein sicheres Gangbild hingewiesen, und auch eine erschwerte Gangprobe war durchführbar und unauffällig. Für eine Verschlechterung des Gangbildes bis zu der Untersuchung durch Dr. B gibt es – abgesehen von einer akzentuierenden Darstellung durch die Klägerin – keine plausible Erklärung, worauf auch der Beratungsarzt Dr. F hinweist.

Die Bewertung der MdE auf neurologischem und neuropsychologischem Fachgebiet mit 60 v. H. steht auch in Einklang mit allgemeinen medizinischen Erfahrungswerten, wie sie in der Gutachtenliteratur wiedergegeben sind. In diesem Zusammenhang wird Bezug genommen auf die Ausführungen bei Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage 2010, Kapitel 5.3.11.2. Danach sind Hirnschäden als Folge von Schädel-Hirn-Traumata, die mit mittelgradigen kognitiven Leistungsstörungen (etwa Aphasie, Apraxie, Agnosie) einhergehen, mit einer MdE zwischen 40 und 60 v. H. zu bewerten. Nur bei verbliebenen schweren Hirnschäden können höhere MdE-Werte zugrunde gelegt werden. Die in den Gutachten von Professor Dr. M , Frau Dr. H und letztlich auch von Herrn Dr. B erhobenen Befunde und daraus resultierenden funktionellen Beeinträchtigungen rechtfertigen jedoch nicht die Annahme schwerer oder schwerster Hirnschäden, sondern nur solcher im oberen mittelgradigen Bereich.

Soweit das unfallchirurgische bzw. orthopädische Fachgebiet betroffen ist, folgt die Kammer dem Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. W -R. Er diagnostizierte bei der Klägerin als Unfallfolgen einen Zustand nach knöcherner Partialruptur des Außenbandes am rechten Kniegelenk sowie einen Zustand nach Schultereckgelenkssprengung rechts. Eine laterale Meniskopathie des rechten Kniegelenks sei indes als unfallunabhängig zu bewerten.

Die MdE wegen der Unfallfolgen auf orthopädischem Fachgebiet bewertet der Sachverständige Dr. W -R konstant mit 10 v. H. Hinsichtlich der Schultergelenksprengung sei es zu einer knöchernen Verheilung in Fehlstellung gekommen. Das Gelenk selber weise keine Entzündungszeichen wie Verschwellung oder Rötung auf. Eine Seitendifferenz habe sich lediglich in Bezug auf die maximale Abduktion sowie die endgradige Innenrotation ergeben, was jedoch nicht mit einer substanziellen Einschränkung einhergehe. Zutreffend weist Dr. W -R darauf hin, dass eine MdE von 20 v. H. erst dann anerkannt werden kann, wenn die seitliche Abduktion die 90 Grad-Ebene unterschreitet oder für die Rotation vergleichbare Limitierungen vorliegen (siehe hierzu auch Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., Kapitel 8.4.7). Von vergleichbaren Einschränkungen könne jedoch bei der Klägerin – so Dr. W -R zutreffend – nicht ausgegangen werden. Dies ergebe sich – so der Sachverständige schlüssig – auch daraus, dass die umliegende Muskulatur altersgemäße und seitengleiche Umfänge aufweise. Lediglich der rechte Unterarm besitze ein Defizit von 1,5 cm, was jedoch der auf neurologischem Gebiet zu beurteilenden Hemiparese zuzuordnen sei. Im Rahmen des knöchernen Ausrisses des äußeren Seitenbandes (laterales Kollateralband) sei es während des gesamten Behandlungsverlaufes zu keiner höhergradigen Instabilität gekommen. Reizerscheinungen habe das Gelenk durchgehend ab 2007 nicht aufgewiesen. Die hieraus ableitbaren Funktionsstörungen seien nur geringgradig.

Nach den auch insoweit überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. W -R wurde die Meniskussubstanz bei dem streitgegenständlichen Arbeitsunfall nicht geschädigt. Dr. W -R weist insoweit auf eine innere Ursache hin bzw. auf einen Privatunfall aus dem Jahr 1990, in dessen Zuge sich wahrscheinlich die bei einer MRT-Untersuchung am 15. Februar 2006 festgestellte chronische, zweit- bis drittgradige Meniskopathie eingestellt habe.

Die Beurteilung des Sachverständigen Dr. W -R steht auch in Einklang mit derjenigen des Vorgutachters Herrn K. Was das orthopädische Fachgebiet anbelangt, liegen also keine divergierenden gutachterlichen Bewertungen vor.

Vor diesem Hintergrund lässt sich bei der Klägerin nach Auffassung der Kammer keine Gesamt-MdE von mehr als 80 v. H. begründen. Zwar besteht nach dem Gutachten von Herrn Professor Dr. M auf urologischem Fachgebiet - das von der Klägerin nicht ausdrücklich angegriffen wird und an dessen Richtigkeit für die Kammer auch kein Zweifel besteht – zusätzlich auf urologischem Fachgebiet eine MdE von 10 v. H. Selbst wenn man diese zu den Einzel-MdE´s auf neurologischem und neuropsychologischem Fachgebiet von 60 v. H. und auf orthopädischem Fachgebiet von 10 v. H. addierte, gelangte man jedoch lediglich zu einer Gesamt-MdE von 80 v. H. – ganz abgesehen davon, dass eine reine Addition der auf einzelnen medizinischen Fachgebieten gegebenen MdE´s wegen der regelmäßig gegebenen Überlappung von funktionellen Beeinträchtigungen (siehe hierzu oben) nicht in Betracht kommt. Auch unter Berücksichtigung der Hypophysenstörung ist keine höhere Gesamt-MdE als nach einem Wert von 80 v. H. gegeben. Hinsichtlich der funktionellen Beeinträchtigungen, die aus der Hypophysenstörung resultieren, liegen weitestgehende Überschneidungen mit den sich aus den neurologischen und neuropsychologischen Schäden resultierenden funktionellen Beeinträchtigungen vor. Dies hat die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden ausführlich dargestellt, so dass insoweit gemäß § 136 Absatz 3 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen und auf die zutreffenden Ausführungen der Beklagten Bezug genommen wird.

Überdies sei darauf hingewiesen, dass eine MdE von 90 v. H.- wie von der Klägerin beantragt – bedeuten würde, dass ihr nur noch 10% aller Möglichkeiten, sich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen Erwerb zu verschaffen, zur Verfügung stünden. Die Klägerin führt indes ein zwar beeinträchtigtes, aber dennoch selbständiges Leben ohne Hilfe und ohne Pflegestufe. Die Gutachterin Frau Dr. H hat herausgearbeitet, dass sich die Klägerin in Konfliktsituationen aufgrund ihrer verbliebenen neuropsychologischen Störung einschließlich der Persönlichkeitsänderung nicht zurechtfinden kann, das heißt, alle Berufe, in denen sie sich für die Belange ihres Arbeitgebers streitig mit Dritten auseinandersetzen muss, nicht ausüben kann. Sehr wohl könnte sie jedoch – auch intellektuell fordernde - Tätigkeiten ausüben, die sie allein und ohne Zeitdruck erledigen kann. Auch vor diesem Hintergrund erscheint eine Bewertung der Gesamt-MdE mit mehr als 80 v. H. nicht vertretbar.

Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Zahlung einer Verletztenrente nach einem höheren JAV als dem Mindest-JAV. Insbesondere ist der bei der Berechnung der Rente zugrunde gelegte JAV nicht gemäß § 87 Satz 1 SGB VII in erheblichem Maße unbillig und deshalb neu festzusetzen.

Der JAV ist zunächst nach der Regelberechnung des § 82 Absatz 1 SGB VII festzusetzen. Erst nach dieser Festsetzung ist in einem weiteren Schritt zu prüfen (BSG vom 18. März 2003 – B 2 U 15/02 RSozR 4-2700 § 87 Nr. 1 Rn. 11), ob der im Einzelfall berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist.

Gemäß § 82 Absatz 1 Satz 1 SGB VII ist der JAV der Gesamtbetrag der Arbeitsentgelte (§ 14 SGB IV) und Arbeitseinkommen (§ 15 SGB IV) des Versicherten in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat, in dem der Versicherungsfall eingetreten ist. Unter Arbeitsentgelt sind nach der Legaldefinition des § 14 Absatz 1 Satz 1 SGB IV alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung zu verstehen, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf diese besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden. Arbeitsentgelt sind mithin solche Einnahmen, die einem Versicherten in ursächlichem Zusammenhang mit einer Beschäftigung zufließen (vgl. BSGE 60, 39, 40 = SozR 2200 § 571 Nr. 25 S. 58; BSG SozR 2100 § 14 Nr. 19).

Im Falle der Klägerin ist also der Zeitraum 1. September 2004 bis 31. August 2005 maßgeblich. Im Teil-Zeitraum 1. September 2004 bis 30. April 2005 war die Klägerin als selbständige Logopädin/Skipperin tätig und erzielte ein Negativeinkommen. Für die Zeit vom 18. Mai 2005 bis 31. August 2005 war sie als Logopädin in der S hilfe B ... tätig und erhielt dort für diesen Zeitraum – nach den Angaben ihres Arbeitgebers vom 30. September 2005 - ein Bruttoentgelt von 4.087,89 Euro, also monatlich 1.200,00 Euro. Zudem bezog sie in der Zwischenzeit Arbeitslosengeld.

Die in dem Zwölf-Monatszeitraum in der Summe bezogenen Verdienste liegen – wie die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden dargelegt hat – unterhalb des Mindest-JAV im Sinne des § 85 Absatz 1 Nr. 2 SGB VII, so dass die Beklagte letzteren herangezogen hat. Die Höhe des von der Beklagten ermittelten Mindest-JAV wird von der Klägerin nicht in Zweifel gezogen und es bestehen auch von Seiten des Gerichts keine Bedenken gegen dessen zutreffende Ermittlung.

Ein höherer JAV als der Mindest-JAV konnte auch unter Berücksichtigung der Vorschrift des § 87 SGB VII nicht zugrunde gelegt werden: Ist ein nach der Regelberechnung oder nach der Regelung über den Mindestjahresarbeitsverdienst festgesetzter Jahresarbeitsverdienst in erheblichem Maße unbillig, wird er nach billigem Ermessen im Rahmen von Mindest- und Höchstjahresarbeitsverdienst festgesetzt. Hierbei werden insbesondere die Fähigkeiten, die Ausbildung, die Lebensstellung und die Tätigkeit der Versicherten im Zeitpunkt des Versicherungsfalls berücksichtigt (§ 87 SGB VII).

Den Vorschriften über den JAV ist gemeinsam, dass sie zur Festsetzung eines JAV führen sollen, der den erreichten Lebensstandard des Versicherten widerspiegelt. Soweit dies ausnahmsweise nicht der Fall ist, hat nach § 87 SGB VII eine Festsetzung nach billigem Ermessen zu erfolgen. Dabei bezieht sich das Ermessen nicht auf die Frage, ob eine abweichende Festsetzung vorgenommen wird, sondern auf den Umfang der Änderung. Die Unbilligkeit kann darin bestehen, dass der rechnerische JAV zu niedrig ist. Dies kann zum Beispiel darauf zurückzuführen sein, dass der Versicherte vorübergehend eine niedriger bezahlte Teilzeittätigkeit übernommen hat. Ob die Unbilligkeit erheblich ist, ist nach den Umständen des Einzelfalles zu entscheiden, starre prozentuale Maßstäbe bestehen nicht. Zu berücksichtigen sind vielmehr auch die Gründe für die vorübergehende Erhöhung oder Reduzierung des Einkommens und die Dauer der Abweichung. Kurzfristige Einkommenslagen haben grundsätzlich außer Betracht zu bleiben (vgl. Schmitt, SGB VII Kommentar, 4. Auflage 2009, § 87 Rn. 2-5, m. w. N.).

Die Wertung, ob der berechnete JAV "in erheblichem Maße unbillig" ist, hat das Gericht in vollem Umfang selbst vorzunehmen. Unbilligkeit im Sinne des § 87 Satz 1 SGB VII ist ein unbestimmter Rechtsbegriff; erst bei Vorliegen seiner Voraussetzungen hat der Versicherungsträger Ermessenserwägungen anzustellen (vgl. BSG SozR 2200 § 577 Nr. 9; BSG, Urteil vom 28. Januar 1993 - 2 RU 15/92 = HV-Info 1993, 972; BSG SozR 4-2700 § 87 Nr. 1, BSG, Urteil vom 15. September 2011, B 2 U 24/10 R, Juris). Über das Vorliegen einer erheblichen Unbilligkeit in diesem Sinne kann nur im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände entschieden werden. Dabei sind die in § 87 Satz 2 SGB VII genannten Bewertungsgesichtspunkte (Fähigkeiten, Ausbildung, Lebensstellung und Tätigkeit der Versicherten im Zeitpunkt des Versicherungsfalls) zu berücksichtigen (vgl. BSG SozR 3-2200 § 577 Nr. 2). Die Vorschrift soll atypische Fallgestaltungen erfassen und – ausgerichtet unter anderem am Lebensstandard des Versicherten – für diesen zu einem billigen Ergebnis führen. Ziel der Regelung ist es, den JAV als Grundlage der Rente so zu bemessen, dass der Lebensstandard gesichert wird, den der Versicherte zeitnah vor dem Versicherungsfall erreicht und auf den er sich eingerichtet hat (BSG, Urteil vom 15. September 2011, B 2 U 24/10 R, Rn. 24 des bei Juris veröffentlichten Urteils). Unter Würdigung der vom Gesetzgeber aufgeführten Bewertungsgesichtspunkte entspricht der von der Beklagten festgesetzte JAV in Höhe des Mindest-JA nicht nur den Fähigkeiten, der Ausbildung und der Tätigkeit der Klägerin im Zeitpunkt des Versicherungsfalls, sondern auch ihrer zu diesem Zeitpunkt erreichten "Lebensstellung". Eine Korrektur des JAV über die Regelung in § 87 SGB VII kommt entgegen der Auffassung der Klägerin nicht in Betracht.

Eine Berücksichtigung der Erwerbseinkünfte außerhalb des Zwölfmonatszeitraums widerspricht bereits sowohl der gesetzgeberischen Grundentscheidung in § 82 Absatz 1 Satz 1 SGB VII als auch der Regelung in § 87 Satz 2 SGB VII, wonach es auf die Verhältnisse im Zeitpunkt des Versicherungsfalls ankommt. Die Festsetzung eines JAV nach billigem Ermessen gemäß § 87 Satz 1 SGB VII kommt damit von vornherein nicht in Betracht, wenn der nach den §§ 82 bis 86 SGB VII ermittelte JAV der Lebensstellung des Versicherten in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat des Versicherungsfalls entspricht (vgl. LSG Berlin, Urteil vom 9. August 2004 - L 16 U 79/03 – Juris -; Keller, in: Hauck/Noftz, SGB VII, K § 87 Rn. 6). Dies gründet sich in folgenden Erwägungen: § 82 Absatz 1 Satz 1 SGB VII sieht die Addition aller Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen des Versicherten im Jahre vor dem Versicherungsfall als JAV vor. Es wird also darauf abgestellt, welche Beträge der Versicherte im letzten Jahr vor dem Versicherungsfall insgesamt an Entgelt oder Einkommen durch Arbeit erworben hat. Damit wird im Regelfall der zur Zeit des Versicherungsfalls erreichte Lebensstandard des Versicherten erfasst (vgl. BSG SozR 2200 § 571 Nr. 1; BSG SozR 2200 § 571 Nr. 15; BSG SozR 2200 § 577 Nr. 9; Burchhardt in Becker/Burchhardt/Krasney/Kruschinsky, Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII), § 82 Rn. 11; Schmitt, SGB VII, 4. Aufl.2009, § 82 Rn. 4; Schudmann in: jurisPK-SGB VII, § 82 Rn. 22). Der Gesetzgeber geht mit anderen Worten typisierend davon aus, dass die Arbeitsentgelts- oder Einkommenssituation des Versicherten im letzten Jahr vor dem Versicherungsfall im Wesentlichen den vor dem Unfall erreichten Lebensstandard wiedergibt. Damit aber ist eine Heranziehung von Arbeitsentgelten aus zurückliegenden Jahren auch im Rahmen des § 87 SGB VII nicht möglich. Denn § 87 SGB VII ergänzt nur die Vorschrift des § 82 SGB VII, ohne die dort getroffene grundsätzliche Regelung anzutasten (vgl. zu § 577 RVO: BSG SozR 2200 § 571 Nr. 1; BSGE 50, 264 = SozR 2200 § 571 Nr. 19). Ohnedies wäre aufgrund des Fehlens eines entsprechenden Anhaltspunktes im Gesetz auch völlig unklar, wie weit ein Rückgriff auf Erwerbseinkommen in vergangenen Zeiträumen zu erfolgen hätte (vgl. zum Ganzen auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15. September 2010, Az. L 17 U 26/09, Juris – die vorstehenden Ausführungen lehnen sich zum Teil an dieses Urteil an). Schließlich sollen die Regelungen zur Berechnung des JAV eine einfache, schnell praktizierbare und nachvollziehbare Berechnung des JAV in der Verwaltungspraxis ermöglichen. Um diese zu erreichen, soll die Aufarbeitung einer langfristigen Erwerbsbiografie mit ggf. schwierig zu ermittelnden Änderungen von Entgelt und/oder Einkommen gerade vermieden werden. Dieses Regelungskonzept kommt oftmals gerade den Versicherten zu Gute, insbesondere wenn sie zuletzt in ihrem Erwerbsleben eine vergleichsweise gute berufliche Position, einen hohen Ausbildungsstand und damit eine entsprechende Lebensstellung erreicht haben. Andererseits sieht das SGB VII aber gerade keine Verlängerung des maßgeblichen Jahreszeitraums vor, wenn die Arbeitszeit und das Arbeitsentgelt außerhalb der Jahresfrist reduziert wurden (Urteil des BSG vom 15. September 2011, Az. B 2 U 24/10 R; Rn. 28 des bei Juris veröffentlichten Urteils). Der Gesetzgeber hat den Jahreszeitraum als Grundlage der Berechnung des JAV bewusst gewählt, um eine zeitnahe Berechnungsgrundlage zu haben (Bundestagsdrucksache 13/2204, S. 95; Schmitt, SGB VII Kommentar, 4. Auflage, § 82 Rn. 4).

Damit sind in Vorjahren erzielte Entgelte oder nach dem Versicherungsfall zu erwartende höhere Entgelte grundsätzlich nicht zu berücksichtigen, so dass ein zeitliches Korrektiv des JAV entgegen der Auffassung der Klägerin nicht geboten ist. Dieser Grundsatz kommt nur dann nicht zum Tragen, wenn innerhalb des maßgeblichen Jahres beim Versicherten eine wesentliche Änderung der beruflichen Situation verbunden mit einer erheblichen Änderung des Arbeitseinkommens eingetreten ist. Ob die Aufnahme der Teilzeittätigkeit als Logopädin bei der S hilfe Berlin eine solche Änderung darstellt, ist bereits nicht entscheidungserheblich: Selbst wenn man das monatliche Bruttoeinkommen der Klägerin von 1.200,00 Euro im Zeitraum vom 18. Mai 2005 bis 31. August 2005 auf einen Zeitraum von zwölf Kalendermonaten hochrechnete, ergäbe sich in der Summe immer noch ein Betrag, der unterhalb des maßgeblichen Mindest-JAV läge.

Im Übrigen bestünden bereits erhebliche Zweifel daran, dass es durch die Aufnahme der Teilzeittätigkeit als Logopädin bei der S ...hilfe B ... tatsächlich zu einer wesentlichen Änderung der beruflichen Situation der Klägerin verbunden mit einer erheblichen Änderung des Arbeitseinkommens gekommen sein sollte: Die Erwerbsbiographie der Klägerin weist – wie sich der Aufstellung in dem Gutachten von Frau Dr. H vom 14. Mai 2008 entnehmen lässt – keine durchgehende Kontinuität auf. Ihre Ausbildung zur Logopädin beendete sie im September 1983. Anschließend studierte sie bis zum Jahr 1985 Wirtschaftsmathematik, arbeitete dann vorübergehend wieder als Logopädin, um sich von 1985 bis 1988 einem Studium der Germanistik und Erziehungswissenschaften zu widmen. Ihre sich daran wieder anschließende Arbeit als Logopädin unterbrach die Klägerin in den Jahren 1999 bis 2001 erneut zwecks Ausbildung zur systematischen Familientherapeutin und von 2003 bis 2005 zwecks selbständiger Arbeit als Skipperin. Die Arbeit als Logopädin selbst ist durch wechselnde Dienstverhältnisse in Teil- und Vollzeit sowie selbständige Tätigkeiten gekennzeichnet. Vor diesem Hintergrund stellt die wenige Monate vor dem Arbeitsunfall erfolgte Aufnahme einer Teilzeittätigkeit als Logopädin keine wesentliche Änderung ihrer beruflichen Situation dar. Seit den 80er Jahren wechselten sich bei der Klägerin Anstellungen als Logopädin und andere – teilweise auch nicht dem Erwerb des Lebensunterhalts dienende – Tätigkeiten ab. Der Klägerin war es seit ihres ersten Eintritts in ihr Berufsleben offensichtlich immer wichtig, einen kontinuierlichen Erwerb in ihrem Ausbildungsberuf zugunsten diverser Studien, die jedenfalls dann nicht unmittelbar Niederschlag in einer entsprechenden beruflichen Tätigkeit gefunden haben, sowie zugunsten von Erfahrungen in gänzlich anders gearteten (und wie sich aus daraus resultierenden, steuerlichen Verlustvorträgen ergibt, ausgesprochen einkommensschwachen) Berufen – Skipperin - hintanzustellen. Abgesehen davon, dass es bei der Bewertung der Billigkeit des zugrunde gelegten JAV bereits nicht auf einen – ohnehin völlig hypothetischen – Blick in die Zukunft, aber auch nicht auf einen solchen in länger als zwölf Monate vor dem Arbeitsunfall zurückliegende Zeiträume der Vergangenheit ankommt, lässt sich jedenfalls aus der vor dem Arbeitsunfall bestehenden Erwerbsbiographie nicht herauslesen, ob und wie lange die Klägerin ohne den Arbeitsunfall ihre erst wenige Monate lang und zudem in Teilzeit ausgeübte Tätigkeit bei der S hilfe B fortgeführt hätte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.
Rechtskraft
Aus
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