L 6 U 564/11 ZVW

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 2 U 2629/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 U 564/11 ZVW
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 27. Mai 2009 und der Bescheid der Beklagten vom 26. April 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2007 werden aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, den Antrag des Klägers vom 8. Februar 2007 auf Abfindung seiner Rente unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.

Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten in allen Rechtszügen zu erstatten.

Tatbestand:

Im Streit steht die Abfindung einer sogenannten kleinen Verletztenrente.

Der am 08.11.1958 geborene Kläger erlitt am 04.10.2002 bei einem Sturz eine beidseitige Fersenbeinfraktur. Nach Einholung der Rentengutachten vom 05.06.2004 und 18.07.2005 bei Prof. Dr. M.-F., Chefarzt der Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, Klinikum H., gewährt die Beklagte dem Kläger wegen der Unfallfolgen Rente auf unbestimmte Zeit in Höhe von 20 vom Hundert (v. H.) der Vollrente (Bescheid vom 18.08.2005).

Am 08.02.2007 beantragte der Kläger die Abfindung seiner Rente. Die Beklagte ließ den Kläger bei dem Internisten Dr. R. begutachten. Dieser kam nach ambulanter Untersuchung des Klägers in seinem fachinternistischen Gutachten vom 19.03.2007 zu dem Ergebnis, als Risikofaktoren lägen eine Adipositas mit BMI (Body-Mass-Index) von 33,2, ein Alkoholkonsum von ca. acht bis zehn Flaschen Bier pro Woche und ein Nikotinkonsum von einer Packung Zigaretten pro Tag seit ca. 32 Jahren vor. Die Lebenserwartung sei herabgesetzt. Allein für den Nikotinabusus sei eine Reduktion um bis zu acht Jahren beschrieben worden. Dazu kämen deutlich erhöhte Leberwerte, die am ehesten durch den Alkoholabusus bedingt seien, sowie die Adipositas. Ein exakter Zeitraum der Lebensverkürzung unter Berücksichtigung der mehreren Faktoren könne nicht angegeben werden. Er dürfte aber deutlich über die acht Jahre wegen des Nikotinabusus hinausgehen.

Mit Bescheid vom 26.04.2007 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rentenabfindung mit der Begründung ab, die Lebenserwartung des Klägers sei ausweislich des Gutachtens von Dr. R. in Folge von Nikotinabusus, Adipositas, pathologischer Nüchtern-Serumglucose sowie deutlich erhöhter Leberwerte herabgesetzt. Weil die Lebenserwartung herabgesetzt sei, könne eine Abfindung nicht gewährt werden.

Hiergegen erhob der Kläger mit der Begründung Widerspruch, der zu leistende Abfindungsbetrag in Höhe von 55.507,46 Euro wäre bei Zahlung einer monatlichen Rente in Höhe von 330 Euro nach etwa 14 Jahren erreicht. Er wäre zu diesem Zeitpunkt 62 Jahre alt. Dieses Lebensalter werde er in jedem Fall erreichen. Im Hinblick auf seinen Gesundheitszustand sei sogar davon auszugehen, dass durchaus noch eine Lebenserwartung von mindestens 40 bis 45 Jahren bestehe. Die Beklagte habe ferner nicht beachtet, dass er auch im eigenen Interesse versuche, das Rauchen vollständig einzustellen, sein Körpergewicht zu reduzieren und die Leberwerte wieder auf einen Normalwert zu bekommen. Mit Widerspruchsbescheid vom 29.06.2007 wies die Beklagte den Widerspruch unter Hinweis darauf zurück, dass die festgestellten Gesundheitsstörungen sowie der Nikotinabusus Risikofaktoren hinsichtlich einer normalen Lebenserwartung darstellten. Im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens könne daher dem Antrag auf Abfindung der Verletztenrente nicht stattgegeben werden. Soweit der Kläger nach seinen Angaben versuche, das Körpergewicht zu reduzieren, die Leberwerte auf einen Normalwert zu bekommen und das Rauchen vollständig einzustellen, sei dies bisher offensichtlich nicht gelungen.

Der Kläger hat am 06.07.2007 Klage bei dem Sozialgericht Ulm (SG) erhoben und seinen bisherigen Vortrag wiederholt. Die Beklagte ist der Klage entgegen getreten.

Das SG hat von Amts wegen PD Dr. Sch., Chefarzt der Medizinischen Klinik II des Klinikums H., mit der Erstattung des internistischen Fachgutachtens vom 29.06.2008 beauftragt. Der Sachverständige hat neben dem Zustand nach osteosynthetischer Versorgung der Fersenbeinfrakturen vom Oktober 2002, einem Zustand nach Patellatrümmerfraktur rechts und traumatischer Hüftluxation rechts nach Motoradunfall 1981 sowie einem Zustand nach Bizepssehnennaht bei distalem Bizepssehnenausriss links 1999 als kardiovaskuläre Risikofaktoren eine Hyperlipoproteinämie, eine Adipositas, einen Nikotinabusus (aktuell deutliche Konsumreduktion), eine pathologische Glucosetoleranz, eine positive Familienanamnese sowie einen Verdacht auf arterielle Hypertonie mit leicht hypertrophiertem linkem Ventrikel beschrieben, außerdem eine ausgeprägte Fettleber und eine asymptomatische Cholezystolithiasis. In seiner Beurteilung hat der Sachverständige ausgeführt, der Kläger rauche jetzt insgesamt nur noch am Wochenende eine Schachtel Zigaretten. Diese Aussage könne mit Hilfe des CO-Hb-Wertes belegt werden. Danach könne höchstens ein Konsum von 5 bis 6 Zigaretten pro Tag vorliegen. Da die Serumglucose deutlich erhöht sei, müsse von einem Diabetes mellitus Typ 2b ausgegangen werden. Auf Grund der Familienanamnese ergebe sich ebenfalls ein Hinweis für ein kardiovaskuläres Risiko, weil der Vater des Klägers zwischen dem 65. und 70. Lebensjahr sowohl einen Schlaganfall als auch einen Herzinfarkt erlitten habe. Im Vergleich zum Vorgutachten habe der Kläger 5 kg abgenommen. Die Angaben des Klägers über einen verringerten Nikotin- und Alkoholgebrauch seien durch die gemessenen CO-Hb- bzw. den Rückgang der Leberwerte bestätigt worden. Insgesamt sei die Lebenserwartung sicherlich im Hinblick auf das ausgeprägte kardiovaskuläre Risikoprofil reduziert. Die genaue Reduktion der Lebenserwartung könne jedoch nicht angegeben werden. Insgesamt scheine sich der Kläger seines ausgeprägten gesundheitlichen Risikoprofils nach und nach bewusst zu werden. Allgemein könne laut Statistischem Bundesamt nach der Sterbetafel 2004/2006 bei einem Mann im Alter von 49 Jahren von einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 29,75 Jahren ausgegangen werden. Würden von diesem Wert acht Jahre abgezogen, sei aktuell von einer Lebenserwartung von weiteren 21,75 Jahren auszugehen.

Die Beklagte hat hierzu mit Schreiben vom 01.10.2008 Stellung genommen und sich durch das Gutachten des PD Dr. Sch. in ihrer Auffassung bestätigt gesehen, wonach die Lebenserwartung des Klägers weiterhin erheblich reduziert sei. Neben dem Nikotinkonsum bestünden zusätzliche gesundheitliche Risikofaktoren, die die Lebenserwartung weiter herabsetzten. Sie hat Internet-Ausdrucke zu den Problemkreisen Übergewicht, Fettleber und Diabetes mellitus vorgelegt und mitgeteilt, dass nach Auskunft des JobCenters H. vom 25.09.2008 der Kläger von dort seit 2005 Leistungen beziehe. Es bestünden daher erhebliche Bedenken, ob nicht in Anbetracht der wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers durch eine Abfindung schutzwürdige Interessen der Allgemeinheit verletzt würden.

Mit Urteil vom 27.05.2009 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die Beklagte habe das ihr eingeräumte Ermessen fehlerfrei ausgeübt. Eine unzureichende Lebenserwartung mit einem mangels exakter Voraussage dazu bestehendem gerichtsfreien Beurteilungsspielraum des Unfallversicherungsträgers sei ebenso wie die Angewiesenheit auf eine laufende Rente wegen zu erwartender erstmaliger oder vermehrter Hilfebedürftigkeit nach dem Bundessozialhilfegesetz (jetzt Zweites und Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch [SGB II und XII]) bei Wegfall der Rente ein zulässiger Ablehnungsgrund für die Gewährung einer Abfindung.

Am 28.07.2009 hat der Kläger gegen das seinem Prozessbevollmächtigten am 22.07.2009 zugestellte Urteil Berufung eingelegt, mit der er sein Ziel weiter verfolgt. Er hat seinen Vortrag aus dem Widerspruchs- und Klageverfahren wiederholt und vertieft. Weil nach dem Gutachten von Dr. Sch. seine Lebenserwartung bei 21,75 Jahren liege, werde der Abfindungsbetrag bei Weiterzahlung seiner monatlichen Rente nach ca. 14 Jahren und mithin deutlich unter der noch bestehenden Lebenserwartung erreicht.

Die Beklagte hat die Behauptung des Klägers, er habe nach dem Gutachten des Dr. Sch. noch eine Lebenserwartung von 21,75 Jahren, für unzutreffend gehalten. Der Sachverständige habe nämlich lediglich am Beispiel des Nikotinabusus aufgezeigt, wie sich die durchschnittliche Lebenserwartung des Klägers durch diesen verringere. Ausdrücklich habe er betont, dass die zusätzlich bestehenden Risikofaktoren seine Lebenserwartung weiter herabsetzen würden. Gerade die Kombination seiner Risikofaktoren aus Nikotinabusus, Adipositas, ausgeprägter Fettleber, Diabetes mellitus Typ 2b, arterieller Hypertonie, Hyperlipoproteinämie, Cholezystolithiasis und positiver Familienanamnese hinsichtlich des Risikos, einen Schlaganfall bzw. Herzinfarkt zu erleiden, schränke die Lebenserwartung erheblich ein. Die Annahme, dass bei diesen zahlreichen Risikofaktoren die Lebenserwartung die Zeit unterschreite, die dem für die Abfindung festgesetzten Kapitalwert entspreche, sei daher durchaus gerechtfertigt. Hieran vermöge auch die geringe Gewichtsreduktion und die Einschränkung des Nikotin- und Alkoholkonsums nichts zu ändern.

Mit Urteil vom 15.04.2010 hat der Senat den Bescheid vom 26.04.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.06.2007 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden. Zugleich wurde die Revision zugelassen.

Gegen das der Beklagten am 30.04.2010 zugestellte Urteil hat diese am 21.05.2010 Revision beim Bundessozialgericht (BSG) eingelegt und zu deren Begründung vorgetragen, es liege zu den grundsätzlichen Fragen, ab welchem Ausmaß die Reduzierung der Lebenserwartung erheblich im Sinne des § 76 SGB VII und ob dem Unfallversicherungsträger ein Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Beurteilung der ärztlich festgestellten Risikofaktoren eingeräumt sei, noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung vor. Die ärztlich festgestellte Verkürzung der Lebenserwartung müsse nicht den für den Abfindungsantrag festgesetzten Kapitalwert unterschreiten, um einen entsprechenden Antrag negativ bescheiden zu können.

Mit Urteil vom 09.11.2010 hat das BSG das Urteil des Senats vom 15.04.2010 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht (LSG) zurückverwiesen (B 2 U 10/10 R). Zur Begründung wird ausgeführt, dass die Ermessensausübung der Beklagten erst dann auf Ermessensfehler überprüft werden könne, wenn feststehe, dass alle tatbestandlichen Voraussetzungen der Rechtsgrundlage erfüllt seien. Hierzu zähle auch das negative Tatbestandsmerkmal, dass eine Abfindung nur bewilligt werden dürfe, wenn nicht zu erwarten sei, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wesentlich sinke (§ 76 Abs. 2 SGB VII). Da der Senat hierzu keine Feststellungen getroffen habe, habe kein Bescheidungsurteil zugunsten des Klägers ergehen dürfen. Des Weiteren hat das BSG Hinweise gegeben zu Inhalt und Grenzen der richterlichen Überprüfung einer im Ermessen des Unfallversicherungsträgers stehenden Entscheidung sowie zu den Ermessenszwecken des § 76 Abs. 1 SGB VII und den deshalb von dem Träger jeweils abzuwägenden Ermessensgesichtspunkten. Den Feststellungen des Senats hinsichtlich des Inhalts der angefochtenen Bescheide sei zu entnehmen, dass die Beklagte Ermessen ausgeübt habe. Denn sie habe zumindest einen Ermessensgesichtspunkt genannt. Als Ermessensfehler komme nur eine dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechende Ermessensausübung in Form des Ermessensfehlgebrauchs in Betracht. Dieser liege vor, wenn die Behörde nicht alle Ermessensgesichtspunkte, die nach der Lage des Falls zu berücksichtigen seien, in die Entscheidungsfindung einbezogen (Abwägungsdefizit) oder wenn sie die abzuwägenden Gesichtspunkte rechtlich fehlerhaft gewichtet habe (Abwägungsdisproportionalität). Ferner könne ein Fehlgebrauch vorliegen, wenn die Behörde ihrer Ermessensbetätigung einen unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt zugrunde gelegt habe. Die Tatsacheninstanzen hätten deshalb in tatsächlicher Hinsicht zu prüfen, ob die Behörde die Tatsachen, die sie ihrer Ermessensentscheidung zugrundegelegt habe, zutreffend und vollständig ermittelt habe. Bei der Ermessensausübung über die Bewilligung einer Abfindungsrente seien neben den Interessen der Allgemeinheit folgende Zwecke abzuwägen. Auf Seiten des Versicherten bestehe das Interesse, seine wirtschaftlichen Verhältnisse durch eine Verfügungsmacht über einen erheblichen Geldbetrag im Unterschied zu laufenden, ggf. nicht allzu hohen monatlichen Rentenzahlungen zu verbessern. Auf Seiten der Verwaltung gehe es um die Verringerung des Verwaltungsaufwandes, um eine Bemessung der Höhe des Kapitalbetrags nach der durch das Lebensalter und die körperliche Beschaffenheit des Berechtigten bedingten voraussichtlichen Dauer des Rentenbezugs – also der weiteren Lebenserwartung – des Versicherten sowie um die finanzielle Leistungsfähigkeit des Unfallversicherungsträgers. Von den in der Literatur genannten weiteren Zwecken sei es mit den gesetzgeberischen Zielen nicht vereinbar, wenn auf den vom Versicherten beabsichtigten Verwendungszweck der Abfindung abgestellt werde. Den gesetzgeberischen Zielen entspreche dagegen z. B. die Erwägung, ob in absehbarer Zeit der Bezug anderer steuerfinanzierter Sozialleistungen drohe, womit die Allgemeinheit belastet werden würde, der aber durch den Bezug einer Verletztenrente zumindest verringert würde.

Im unter dem neuen Aktenzeichen L 6 U 564/11 ZVW fortgeführten Berufungsverfahren hat der Kläger mit Schriftsatz vom 17.05.2011 zu seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen mitgeteilt, sein monatliches Einkommen setze sich aus einer Rente wegen Erwerbsminderung der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg in Höhe von 349 EUR sowie der Rente der Beklagten in Höhe von 330 EUR zusammen. Sonstige Einkünfte bestünden ebenso wenig wie Vermögenswerte. Die monatlichen Kosten der Unterkunft inklusive Nebenkosten betrügen 291 EUR. Zahlungsverpflichtungen habe er nicht.

Der Senat hat von Amts wegen das fachorthopädische Gutachten bei Dr. H., Leitender Arzt des Orthopädischen Forschungsinstituts Stuttgart, vom 26.05.2011 eingeholt. Dieser hat die Unfallfolgen ab 01.04.2004 mit einer MdE von 20 v. H. bewertet und ist insoweit den im Verwaltungsverfahren von der Beklagten eingeholten Rentengutachten des Prof. Dr. M.-F. vom 05.06.2004 und 18.07.2005 gefolgt. Sowohl die knöchernen Verletzungen als auch die Weichteilschäden seien längst ausgeheilt. Die knöchernen Verletzungen hätten zu einer nicht korrigierbaren leichten Fehlstellung links und zu einer ausgeprägten Fehlstellung rechts geführt. Diese dauerhaften Fehlbelastungen im unteren und teilweise auch im oberen Sprunggelenk begünstigten eine Früharthrose vor allen Dingen im unteren Sprunggelenk. Ausgeprägte funktionelle Störungen in den verletzten Körperregionen, deren physiotherapeutische Behandlung Anlass zur Hoffnung auf eine anhaltende deutliche Besserung geben würden, hätten sich nicht gefunden. Es bestehe daher keine Hoffnung auf eine wesentliche Besserung in absehbarer Zukunft. Es sei eher mit einer Zunahme der Beschwerden und der Funktionsstörung aufgrund von Früharthrosen im unteren und evtl. auch im oberen Sprunggelenk, vor allen Dingen rechts, zu rechnen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 27. Mai 2009 und den Bescheid der Beklagten vom 26. April 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, seinen Antrag vom 8. Februar 2007 auf Abfindung der Rente unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen,

Sie hat zur Begründung geltend gemacht, sie vermöge trotz des Gutachtens von Dr. H. dem Abfindungsantrag des Klägers nicht zu entsprechen, da die finanziellen Verhältnisse des Klägers bei Wegfall ihrer Rente eine auskömmliche Lebenshaltung nicht sichern würden. Es müsse daher nach Verbrauch der Abfindungssumme mit dem Bezug von steuerfinanzierten Sozialleistungen gerechnet werden.

Im Erörterungstermin des Berichterstatters vom 13.10.2011 haben die Beteiligten ihr Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Akten des BSG, des Senats (L 6 U 3418/09 und L 6 U 564/11 ZVW), des SG und auf die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143, 144 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und nach § 151 SGG form- und fristgemäß eingelegte sowie auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers, über die der Senat gemäß § 124 Abs. 2 SGG im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist begründet. Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen.

Der Bescheid vom 26.04.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.06.2007 ist bereits wegen formeller Rechtswidrigkeit aufzuheben. Nach § 35 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ist ein schriftlicher oder elektronischer sowie ein schriftlich oder elektronisch bestätigter Verwaltungsakt mit einer Begründung zu versehen (Satz 1). In der Begründung sind die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe mitzuteilen, die die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben (Satz 2). Die Begründung von Ermessensentscheidungen muss auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist (Satz 3). Diesen Voraussetzungen genügt der streitgegenständliche Bescheid nicht.

Ausgangs- und Widerspruchsbescheid lassen nicht mit der gebotenen Klarheit erkennen, welche Umstände die Beklagte als tatbestandliche Voraussetzungen des § 76 SGB VII geprüft und welche Gesichtspunkte sie im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung berücksichtigt hat. Somit wird dem Begründungszwang nach § 35 Satz 3 SGB X nicht entsprochen. Im Ausgangsbescheid vom 26.04.2007 hat die Beklagte zur Begründung ihrer Ablehnung ausgeführt, nach § 76 Abs. 1 SGB VII könne die Berufsgenossenschaft die Verletztenrente mit einem dem Kapitalwert der Rente entsprechenden Betrag abfinden. Hieran anschließend wird formuliert: "Voraussetzung hierfür ist, dass vom Antragsteller eine normale Lebensdauer zu erwarten ist und die Abfindung nach pflichtgemäßem Ermessen in seinem wohlverstandenen Interesse liegt". Aus Sicht eines verständigen Empfängers dieses Bescheides (sog. Empfängerhorizont; zu dessen Maßgeblichkeit bei der Inhaltsbestimmung eines Verwaltungsakts vgl. Engelmann in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl. 2010, § 31 Rdnr. 26 m.w.N; BSG, Urteil vom 06.10.2011 - B 9 VG 3/10 R; BSGE 67, 104, 110 f.) muss deshalb davon ausgegangen werden, dass die Beklagte die Frage der Lebensdauer des Antragstellers auf Tatbestandsebene prüft und erst dann zu einer Ermessensprüfung kommt, wenn die tatbestandliche Voraussetzung einer normalen Lebensdauer erfüllt ist.

Dass die Beklagte entgegen der gesetzlichen Vorschrift des § 76 SGB VII die zu erwartende Lebensdauer als Tatbestandsvoraussetzung prüft, wird durch den Schlusssatz des Bescheides bestätigt. Wenn dort festgestellt wird, "weil die Lebenserwartung herabgesetzt ist, können wir eine Abfindung nicht gewähren", wird mit einer solchen Formulierung klar zum Ausdruck gebracht, dass gerade keine Ermessensausübung erfolgt, wenn die Lebenserwartung herabgesetzt ist. Der verständige Empfänger dieses Bescheides kann nicht davon ausgehen, dass die Beklagte unter diesen Voraussetzungen die voraussichtliche Lebensdauer als einen von mehreren auf der Ermessensebene zu berücksichtigenden Umstand berücksichtigt.

Ebenso als Begründungsfehler i. S. des § 35 Satz 3 SGB X, weil nicht eindeutig der Tatbestands- oder der Ermessensebene zuzuordnen, ist die weitere Formulierung im angefochtenen Bescheid zu bewerten: "Durch die Gewährung der Abfindung dürfen keine schutzwürdigen vom Unfallversicherungsträger zu wahrende Interessen der Allgemeinheit verletzt werden." Auch hier ist für den verständigen Empfänger nicht hinreichend klar, ob die Beklagte diesen Umstand als negatives Tatbestandsmerkmal oder im Rahmen ihres Ermessens prüft. Die gewählte Formulierung spricht eher dafür, dass die Beklagte die Interessen der Allgemeinheit als absolutes und nicht als eines von mehreren Abwägungskriterien ansieht. Diese Mängel in der Begründung des Bescheides werden durch den Widerspruchsbescheid vom 29.06.2007 nicht geheilt, sondern noch verstärkt, da auch dort ausgeführt wird: "Voraussetzung für eine Abfindung der Rente ist unter anderem, dass hinsichtlich der Lebenserwartung des Antragstellers keine wesentlichen gesundheitlichen Risikofaktoren vorliegen". Da auch im weiteren gerichtlichen Verfahren dieser Begründungsmangel nicht behoben worden und die Beklagte nicht mit der gebotenen Eindeutigkeit von ihrer insoweit fehlerhaften Auffassung abgewichen ist, bedarf es keiner Entscheidung darüber, ob eine Heilung nach § 41 Abs. 2 SGB X im gerichtlichen Verfahren vorliegend möglich wäre. Hat die Beklagte nämlich aufgrund der irrigen Auffassung, die Reduzierung der Lebenserwartung des Klägers stehe schon tatbestandlich einer Abfindung entgegen, kein Ermessen ausgeübt, kann dieser Mangel nicht nach § 41 Abs. 2 SGB X geheilt werden (vgl. Schütze in von Wulffen, a.a.O., § 41 Rdnr. 11 m.w.N.).

Auch bei formeller Rechtmäßigkeit des Bescheides hätte das SG die Klage zu Unrecht abgewiesen.

Die tatbestandlichen Voraussetzungen für die beantragte Abfindung der Rente sind erfüllt.

Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs ist § 76 Abs. 1 SGB VII, wonach Versicherte, die Anspruch auf eine Rente wegen einer MdE von weniger als 40 v. H. haben, auf ihren Antrag mit einem dem Kapitalwert der Rente entsprechenden Betrag abgefunden werden können.

Aufgrund des Bescheids der Beklagten vom 18.08.2005 steht dem Kläger ein Anspruch auf eine Rente nach einer MdE von 20 v. H. zu. Am 08.02.2007 hat der Kläger einen Abfindungsantrag gestellt. Weitere Voraussetzung nach § 76 Abs. 2 SGB VII ist, dass nicht zu erwarten ist, dass die MdE wesentlich absinkt, also eine Besserung des durch die Unfallfolgen bedingten Gesundheitszustandes eintritt (negatives Tatbestandsmerkmal).

Vorliegend ist eine solche Besserung nicht zu erwarten. Hierbei stützt sich der Senat auf das bei dem Orthopäden Dr. H. von Amts wegen eingeholte Gutachten. Dieser hat in sich schlüssig und widerspruchsfrei sowie gut nachvollziehbar dargelegt, dass aufgrund der längst ausgeheilten knöchernen Verletzungen und Weichteilschäden mit einer Veränderung des status quo, der durch Fehlstellungen der unteren, teilweise auch oberen Sprunggelenke vor allen Dingen rechts gekennzeichnet ist, allenfalls im Sinne einer Verschlechterung zu rechnen ist. Denn aufgrund von Früharthrosen ist mit einer Zunahme der Beschwerden und der Funktionsstörung zu rechnen. Dagegen besteht keine Hoffnung auf eine wesentliche Besserung in absehbarer Zukunft. Dieser Einschätzung ist auch die Beklagte nicht entgegen getreten.

Dem Kläger steht mithin ein Anspruch auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens zu (§ 39 Abs. 1 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch). Da der Kläger mit seiner Klage nicht die Verurteilung zur Zahlung der Abfindung, sondern lediglich die Neubescheidung seines Antrags begehrt, bedarf es vorliegend keiner Entscheidung darüber, ob das Ermessen der Beklagten auf die eine rechtmäßige Entscheidung, dem Abfindungsantrag stattzugeben, beschränkt ist (ne ultra petita).

Die Beklagte hat ihr Ermessen nicht pflichtgemäß ausgeübt. Das BSG hat in seinem Urteil vom 09.11.2010 ausgeführt - als sog. Segelanweisung allerdings nicht gemäß § 170 Abs. 5 SGG bindend (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG-Komm., 9. Aufl. 2008, § 170 Rdnr. 11) -, dass es als Ermessensfehlgebrauch anzusehen ist, wenn die Behörde ihrer Ermessensbetätigung einen unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt zugrunde gelegt hat. Die Tatsacheninstanzen hätten deshalb in tatsächlicher Hinsicht zu prüfen, ob die Behörde die Tatsachen, die sie ihrer Ermessensentscheidung zugrundegelegt hat, zutreffend und vollständig ermittelt hat.

Die Beklagte hat die Ablehnung des Abfindungsantrags im streitgegenständlichen Bescheid mit der Reduktion der Lebenserwartung des Klägers begründet und im Berufungsverfahren (L 6 U 3418/09) mit Schreiben vom 13.10.2009 geltend gemacht, die Kombination der Risikofaktoren des Klägers schränke die Lebenserwartung erheblich ein. Die Annahme, dass bei diesen zahlreichen Risikofaktoren die Lebenserwartung die Zeit unterschreite, die dem für die Abfindung festgesetzten Kapitalwert entspreche, sei daher durchaus gerechtfertigt. Diese Annahme beruht jedoch nicht auf einer gesicherten medizinischen Erkenntnis. Eine medizinische Prognose, die eine geringere Lebenserwartung des Klägers als 14,5 Jahre, entsprechend dem zum Zeitpunkt der damaligen mündlichen Verhandlung vor dem Senat maßgeblichen Kapitalwert, für wahrscheinlich hält, hat die Beklagte nicht vorlegen können. Die eingeholten Gutachten ließen verlässlich nur eine Reduzierung der normalen Lebensdauer um acht Jahre erwarten. In wieweit die weiteren beim Kläger bestehenden Risikofaktoren Auswirkungen auf die Lebensdauer haben, insbesondere ob solche Faktoren in der bereits angenommenen Reduktion aufgehen oder kumulativ i. S. einer weiteren Herabsetzung der Lebenserwartung zu berücksichtigen sind und - bei Bejahung letzterer Möglichkeit - um wieviele Jahre die Lebenserwartung des Klägers hierdurch weiter reduziert ist, hat die Beklagte vor Ausübung ihres Ermessens nicht tatsächlich festgestellt. Die Einlassung des Klägervertreters im Erörterungstermin des Berichterstatters, wonach es sinngemäß einer solchen Feststellung nicht bedurft habe, da aufgrund der gegebenen Risikofaktoren täglich mit dem Ableben des Klägers zu rechnen sei, belegt, dass die Beklagte ihre Ermessenserwägungen nicht auf die hierfür notwendige Tatsachengrundlage gestellt hat. Denn dass für den Kläger schon aktuell ein höheres Risiko besteht, jederzeit an einem Herzinfarkt zu versterben, lässt sich weder dem im Urkundenbeweis zu verwertenden Gutachten von Dr. R. noch dem im Verfahren vor dem SG eingeholten Gutachten von Dr. Sch. entnehmen. Unterstellt, die Beklagte habe die Frage der Lebenserwartung des Klägers im Rahmen ihrer Ermessenserwägungen und nicht auf tatbestandlicher Ebene berücksichtigt, bauen die hier angestellten Erwägungen der Beklagten (Reduzierung der Lebenserwartung des Klägers auf weniger als 14,5 Jahre) nicht auf einer hier erforderlichen medizinischen Prognose auf. Die Behauptung des Beklagtenvertreters im Erörterungstermin des Berichterstatters, der Kläger könne jederzeit an einem Herzinfarkt versterben, ist gänzlich aus der Luft gegriffen.

Der Senat verkennt hierbei nicht, dass das Gericht im Rahmen der Überprüfung von behördlichen Ermessensentscheidungen nicht eigene Ermessenserwägungen anstellen und sein Ermessen an die Stelle des Ermessens des Leistungsträgers setzen darf (BSG, Urteil vom 09.11.2010, UA S. 5, unter Verweis auf BSGE 100, 124). Sollte die Beklagte die Lebenserwartung des Antragstellers als Ermessenskriterium in ihre Entscheidung einbezogen haben - was allerdings aus o. g. Gründen zweifelhaft ist -, wird dieser Umstand als solcher von Seiten des Senats nicht beanstandet. Der Senat nimmt hier auch keine eigene Risikobewertung vor, die ebenfalls der Beklagten im Rahmen der Ermessensbetätigung vorbehalten ist. Fehlerhaft indes ist, dass diese Risikobeurteilung nicht auf einer hinreichenden Tatsachenermittlung aufbaut.

Der angefochtene Bescheid leidet darüber hinaus an weiteren Ermessensfehlern. Der Ermessensfehlgebrauch liegt als Abwägungsdefizit vor, wenn die Behörde nicht alle Ermessensgesichtspunkte, die nach der Lage des Falls zu berücksichtigen sind, in die Entscheidungsfindung einbezogen hat (BSG, Urteil vom 09.11.2010, UA S. 5; BSG, Urteil vom 18.04.2000 - B 2 U 19/99 R). Eine entsprechende umfassende Abwägung aller nach Lage des Falles einzubeziehender, für und gegen eine Abfindung sprechenden Umstände hat die Beklagte nicht vorgenommen. So hat die Beklagte ausweislich der Begründung des angefochtenen Bescheides sowie des Inhalts der Verwaltungsakten im Rahmen der Ermessensentscheidung nicht berücksichtigt, dass § 76 SGB VII sowohl den Interessen des Versicherten als auch denen des Unfallversicherungsträgers zu dienen bestimmt ist (hierzu und zum Folgenden BSG, Urteil vom 18.04.2000, a.a.O., m.w.N.). Zwar diente die Abfindung kleiner Verletztenrenten ursprünglich wohl allein einer Verwaltungsvereinfachung, doch ergibt sich aus der Gesetzesbegründung zu der der heutigen Vorschrift im wesentlichen entsprechenden Norm des § 604 der Reichsversicherungsordnung i.d.F. des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30.04.1963, dass dem eigenen Interesse Versicherter mit kleinen Renten besser gedient sei, wenn sie - statt Dauerrentner zu sein - durch eine einmalige Zahlung abgefunden würden; dies entspreche auch der neuzeitlichen Forderung nach Eigentumsbildung für weite Bevölkerungskreise (BT-Drucks. IV/120, S. 60). Der Entwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch führt zur Begründung für die - seit 01.01.1997 geltende - Vorschrift des § 76 SGB VII an, Versicherten mit einer MdE um nunmehr 40 v. H., die im Regelfall neben der Verletztenrente Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen erzielten, werde mit der Anhebung der MdE (von bisher 30 v. H.) "die Möglichkeit gegeben, eine Dauerabfindung zu beantragen, wenn sie dies zur Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse wünschen" (BT-Drucks 13/2204, S. 94 zu § 76 Abs. 1). Da hier nur noch die Interessen des Versicherten erwähnt werden, muss bei der Ermessensbetätigung deutlich werden, dass diese zumindest im Vordergrund stehen (BSG, Urteil vom 18.04.2000, a.a.O.). Dass die Beklagte den Interessen des Klägers an einer Abfindung eine solche Vorrangstellung bei ihrer Ermessensentscheidung eingeräumt hat, vermag der Senat dem streitgegenständlichen Bescheid der Beklagten in Gestalt des Widerspruchsbescheides indes nicht zu entnehmen.

Trotz der vorrangig zu berücksichtigenden Interessen des Versicherten muss durch Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände ermittelt werden, ob die Interessen des Versicherungsträgers oder die des Versicherten im Einzelfall überwiegen. Dabei wird die Beklagte davon auszugehen haben, dass die Reduzierung der Lebenserwartung des Klägers als ein der Abfindung entgegenstehendes, die weitere Abwägung aber nicht erübrigendes Kriterium zu beachten ist. Weiterer Berücksichtigung bedarf insbesondere der mit der Vorschrift zunächst verfolgte Zweck der Verwaltungsvereinfachung. Die Beklagte hat diesen Umstand bislang in keiner Weise in ihre Erwägungen mit einbezogen. Als beitragsfinanzierte Körperschaft ist sie indes verpflichtet, zu Gunsten der Gesamtheit der Mitglieder eine möglichst effiziente und kostensparende Verfahrensweise zu wählen. Auch wenn dem Gesichtspunkt der Kosteneinsparung kein absoluter Rang einzuräumen ist, ist - bevor Allgemeininteressen in den Blick genommen werden - jedenfalls bei beitragsfinanzierten öffentlich-rechtlichen Körperschaften dem Interesse der Mitglieder Rechnung zu tragen, geringe monatliche Renten, die mit verhältnismäßig hohem Verwaltungsaufwand verbucht werden, mit Einmalzahlungen abzufinden. Hierbei kann das Risikomoment der Lebenserwartung nicht außer Acht bleiben, es muss jedoch zur Einsparungsmöglichkeit in Bezug gesetzt werden. So wäre sicherlich eine nur geringe Reduktion der Lebenserwartung bei insgesamt gleichwohl noch langem Rentenbezug anders im Rahmen der Abwägung zu gewichten als eine erhebliche Verkürzung der Lebenserwartung bei prognostizierter kurzer Rentendauer. Hieraus ergibt sich, dass eine ermessensfehlerfreie Abwägung zumindest eine überschlägige Berechnung der mit der Gewährung der Abfindung verbundenen Kosteneinsparung verlangt. Auch dies gehört zu den Tatsachen, die die Behörde ihrer Ermessensentscheidung zugrunde zu legen hat. Ohne Erhebung dieser Daten ist es der Beklagten nicht möglich, die ihr mit der Zahlung einer Abfindung erwachsenden Vorteile zu objektivieren und zusammen mit den weiteren ermessensrelevanten Kriterien, vorrangig dem Versicherteninteresse, dem Risiko einer Überzahlung bei vorzeitigem Ableben des Versicherten gegenüber zu stellen.

Als öffentlich-rechtlicher Körperschaft ist es der Beklagten nicht verwehrt, auch die Interessen der Allgemeinheit zu berücksichtigen. Dabei dürfte allerdings auch insoweit ein Stufenverhältnis bestehen, als die Interessen ihrer beitragszahlenden Mitglieder vorrangig sind. Würde die Beklagte trotz gesicherter erheblicher Einsparung bei Auszahlung der Abfindung diese unter Verweis auf einen nur möglichen steuerfinanzierten Sozialleistungsbezug nach dem SGB II oder SGB XII verweigern, müsste dies als Ermessensfehlgebrauch i. S. einer Abwägungsdisproportionalität bewertet werden. In jedem Fall aber kann die Beklagte diesen Umstand nicht als einzigen oder maßgeblichen oder andere o.g. Kriterien ersetzenden Belang zum Gegenstand ihrer Ermessensentscheidung machen. Nicht unberücksichtigt bleiben darf hierbei auch, dass der Kläger im Erörterungstermin angegeben hat, er wolle mit dem Abfindungsbetrag Miteigentumsanteile an der Unterkunft seiner Lebensgefährtin erwerben. Denn hierdurch würden die derzeit anfallenden laufenden Kosten der Unterkunft und damit das Risiko des Grundsicherungs- oder Sozialhilfebezugs gesenkt.

Nach alledem war die Beklagte unter Aufhebung der streitgegenständlichen Bescheide zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verurteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzung des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen. Anders als im Urteil des Senats vom 15.04.2010 hält der Senat nunmehr die Berufung schon wegen der formellen Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Bescheides für begründet. Die Rechtssache hat unter diesem Gesichtspunkt keine grundsätzliche Bedeutung i. S. des § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG. Andere Zulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 SGG kommen nicht in Betracht.
Rechtskraft
Aus
Saved