S 37 AS 14345/11

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
37
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 37 AS 14345/11
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Abänderung der Bescheide vom 17.1.2011 und 25.3.2011 in der Fassung der Widerspruchsbescheide vom 6.4.2011 und 9.5.2011 verurteilt, seit Januar 2011 Unterkunfts- und Heizkosten in Höhe von 330 EUR zuzüglich 8 EUR Warmwasserpauschale nach § 21 Abs. 7 SGB II zu gewähren. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Höhe des Anspruchs auf Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung nach einem nicht genehmigten Umzug im Januar 2009.

Die Klägerin bezieht ergänzend zu Arbeitseinkommen seit Januar 2005 Alg II. Sie lebte bis zum 30.11.2008 in einer Wohnung in der E straße ..., für die sie zuletzt 240 EUR Miete zahlen musste (200 EUR Grundmiete + 40 EUR kalte Betriebskosten); dazu kamen 63 EUR Abschlag für eine Gasetagenheizung.

Für den Monat Dezember 2008 bezog sie in Untermiete ein Zimmer in der R Straße, um dann zum 1.1.2009 einen Mietvertrag für die jetzige Wohnung in der N ... abzuschließen. Für diese Wohnung zahlt die Klägerin 330 EUR Miete (260 EUR Grundmiete + 40 EUR kalte Betriebskosten plus 30 EUR Abschlag für Heizung). Warmwasser wird mittels Durchlauferhitzer erzeugt.

Den von der Klägerin mit steigendem Verkehrslärm begründeten Umzug von der E - in die N straße erkannte der Beklagte nicht als erforderlichen Umzug an und gewährt daher seit Januar 2009 eine fiktive Miete von 285,42 EUR (200 EUR Grundmiete + 57 EUR kalte Betriebskosten plus 28,42 EUR Heizung).

Mit diesem Betrag für die Unterkunfts- und Heizkosten war der Bewilligungsabschnitt August 2010 bis Januar 2011 (Bescheid vom 19.7.2010) sowie der Folgezeitraum Februar bis Juli 2011 beschieden worden (Bescheid vom 17.1.2011).

Erstmals erhob die Klägerin gegen den Bescheid vom 17.1.2011 Widerspruch gegen die Kappung der tatsächlichen Miet- und Heizkosten auf die 285,42 EUR. Gegen den abschlägigen Widerspruchsbescheid vom 6.4.2011 hat die Klägerin unter dem Az. S 169 AS 12526/11 am 9. Mai 2011 Klage erhoben.

Weitere Klagen vom 31. Mai 2011 (S 37 AS 14345/11 und S 38 AS 14346/11) richten sich gegen Änderungsbescheide vom 25.3.2011, mit denen der Beklagte die seit 1.1.2011 geltenden Regelbedarfe von 364 EUR für Januar 2011 und für Februar bis Juli 2011 zuerkannte, woraus sich für die Klägerin, bedingt durch die Einkommensanrechnung nach der Regel: Zuerst auf den Regelbedarf, dann die Bedarfe nach § 22 SGB II (§ 19 SGB II), um jeweils 5 EUR höhere Unter-kunfts- und Heizkostenkosten ergaben.

Die hiergegen erhobenen Widersprüche wies der Beklagte als unzulässig zurück; mit den Änderungsbescheiden sei lediglich der Regelbedarf erhöht worden. Eine Regelung zu den Unterkunfts- und Heizkosten fehle bzw. sei gegenüber den Bescheiden vom 19.7.2010 und 17.1.2011 nur wiederholender Natur; überdies seien die am 2.5.2011 eingegangenen Widersprüche verfristet (Widerspruchsbescheide vom 9.5.2011).

Die Klägerin macht geltend, dass ihr seit Januar 2011 angemessene Unterkunftskosten zuzüglich des Mehrbedarfs für die Warmwassererzeugung zustehen. Die Änderungsbescheide vom 25.3.2011 beinhalteten eine Verfügung über die Höhe der Bedarfe nach § 22 SGB II und könnten deshalb nicht als bloß wiederholende Verfügungen bezeichnet werden. Wann die Bescheide zugegangen sind, könne der Beklagte nach eigenem Bekunden nicht sagen, so dass der Einwand der Verfristung fehl gehe.

Der Bevollmächtige der Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 17.1.2011 und 25.3.2011 in der Fassung der Widerspruchsbescheide vom 6.4.2011 und 9.5.2011 zu verurteilen, seit Januar 2011die angemessenen Miet- und Heizkosten zuzüglich der Warmwasser-pauschale nach § 21 Abs. 7 SGB II zu gewähren.

Der Beklagtenvertreter beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verweist auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden.

Ergänzend wird zum übrigen Sach- und Streitstand auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die beigezogenen Leistungsakten und den Schriftsatz der Klägerin vom 10.11.2011 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbundenen Klagen sind insgesamt zulässig. Denn wegen der Einkommensanrechnung bezieht sich der Verfügungssatz der Bescheide vom 25.3.2011 auf die errechnete Höhe der Bedarfe nach § 22 SGB II, m. a. W. die Bescheide regeln die Höhe der seit Januar 2011 zu gewährenden Kosten für Unterkunft und Heizung konstitutiv. Weder die Bestandskraft des Bescheides vom 19.7.2010 noch die anhängige Klage zum Bescheid vom 17.1.2011 hinderten die Klägerin folglich daran, mit ihrem Widerspruch gegen die Bescheide vom 25.3.2011 höhere Unterkunftskosten geltend zu machen.

Der Einwand der Verfristung geht ins Leere, da der Beklagte den Zeitpunkt des Zugangs der zentral aus Nürnberg versandten Bescheide nicht nennen kann bzw. diesen Zeitpunkt deutlich später als auf den 28.3.2011 ansetzt.

Die Klagen sind auch begründet. Zu Recht macht die Klägerin geltend, ihr müsse ein höherer Betrag für die Miet- und Heizkosten zuerkannt werden. Zwar folgt die Kammer dem Beklagten darin, dass der Umzug nicht erforderlich i. S. von § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II war (1). Die deshalb anzuwenden Mietkappung nach § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II ist jedoch nicht als dauer-hafte Begrenzung auf die zuletzt für die frühere Wohnung anerkannten Unterkunfts- und Heizkosten zu verstehen (2).

Zu (1)

Ein Umzug ist erforderlich i. S. von § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II, wenn dafür gewichtige Gründe vorliegen, die auch einen Selbstzahler der Miete bewogen hätten, die Wohnung unter Inkauf-nahme höherer Mietkosten zu verlassen. Ausweislich einer aktuellen Mietspiegelabfrage liegt die Wohnung in der E straße ... in einem Gebiet, für das der Verkehrslärm mit "hoch" eingestuft wird. Dies ist jedoch eine sehr ungenaue und nicht auf die konkrete Wohnung bzw. die Lage dieser Wohnung bezogene Angabe, die daher allein nicht zu einem Wohnungs-wechsel mit höheren Folgenkosten für Bedarfe nach § 22 SGB II berechtigt. Erst wenn der Verkehrslärm in der inne gehabten Wohnung hoch ist oder der Verkehrslärm während der Nacht hohe Werte aufweist (über 65 – 70 dzb) oder wegen des Verkehrslärms eine nachweisbare Gesundheitsgefahr droht, entfällt bei einem darauf gegründeten Umzug die Mietkappung auf die früheren Wohnungskosten nach § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II.

Nach der Berliner Verkehrslärmkarte liegen die Werte in der E -/Ecke H straße tagsüber im Bereich 65 – 70 dzb, woraus ohne besondere oder zusätzlicher Belastungen keine Erforderlichkeit des 2009 erfolgten Umzugs hergeleitet werden kann.

Sollte übermäßiger Lärm mit baulichen Gegebenheiten der Wohnung zusammengehangen haben, geht eine Mängelrüge beim Vermieter einem Umzug grundsätzlich vor. Dass solche Mängel vorlagen, hat die Klägerin nicht geltend gemacht. Dahingehende Ermittlungen des Gerichts waren mithin nicht veranlasst.

Es kommt hinzu, dass die Verkehrlärmwerte in der N straße in Bereich der F Allee denen in der E straße entsprechen. Vor allem ist diese Straße nachts sehr belebt und wird der Fahrzeuglärm durch das Kopfsteinpflaster verstärkt, so dass trotz geringerer Durchfahrgeschwindigkeiten ein hoher Lärmpegel vorherrscht.

Zu (2)

Somit war die Regelung des § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II auch im vorliegenden Fall anwendbar, d. h. die für die neue Wohnung zu übernehmenden Kosten waren zunächst auf die zuletzt gewährten Bedarfe nach § 22 SGB II begrenzt. Dass die Klägerin im Dezember 2008 ein befristetes Untermietverhältnis abgeschlossen hatte, das zum 31.12.2008 endete, führt zu keinem anderen Ergebnis. Es handelte sich insoweit nur um eine Folge der nicht notwendigen Kündigung der Wohnung E str ... als Übergangslösung bis zum Bezug der jetzigen Wohnung. Bezugspunkt der Prüfung, ob der Umzug "erforderlich" und an welche Altmiete zur Bemessung der Unterkunftskosten für die am 1.1.2009 bezogene Wohnung anzuknüpfen war, bleibt daher die bis November 2008 bewohnte Wohnung und die hierfür gewährten bzw. anerkannten Bedarfe.

Die vom Beklagten fiktiv angesetzten Werte finden im Gesetz keine Grundlage und sind auch sonst nicht nachvollziehbar. Dass die Klägerin von einer Wohnung mit Gasetagenheizung in eine Wohnung mit Zentralheizung wechselte, spielt keine Rolle. Maßgebend bleiben die für die frühere Wohnung übernommenen Unterkunfts- und Heizungsbedarfe. § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II in der seit April 2011 geltenden Fassung drückt das mit den Worten "wird nur der bisherige Bedarf anerkannt" noch deutlicher aus, ohne insoweit eine Änderung gegenüber der hier noch anzuwendenden Fassung 2010 vorzunehmen.

Nach dem Regelungszweck der Mietkappung, Umzüge unter Abschöpfung der Höchstgrenzen für angemessenen Wohnraum zu verhindern bzw. an gewichtige Umzugsgründe zu knüpfen, kann die Regelung allerdings nicht als dauerhafte Festschreibung der künftig zu gewährenden Unterkunftskosten auf die vor dem Umzug anerkannten § 22 SGB II-Bedarfe verstanden werden. Dies ginge weit über den Zweck der Verhinderung einer unberechtigten Leistungs-optimierung hinaus und schränkte die auch Leistungsbeziehern zustehende Freizügigkeit nach Art. 11 GG in unverhältnismäßiger Weise ein. Aus diesem Grund hat auch das BSG die Regelung des § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II so ausgelegt, dass sie auf überörtliche Umzüge keine Anwendung findet (Urteil vom 1.6.2010 – B 4 AS 60/09 R).

Die Mietkappung des § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II endet daher spätestens mit der Entstehung eines wichtigen Umzugsgrundes (Veränderung der Bedarfsgemeinschaft, Verteuerung der früheren Wohnung, Umwandlung in Eigentum etc). Solche Gründe sind hier allerdings nicht festzustellen.

Ob allein durch Zeitablauf eine Anpassung an die künftig geltende Miete, soweit diese angemessen ist, zu erfolgen hat (so SG Berlin vom 16.7.2010 – S 82 AS 7352/09: nach Ablauf von zwei Jahren nach dem nicht erforderlichen Umzug) kann hier offen bleiben, da die gekappten Unterkunftskosten nach Ansicht der Kammer zumindest zu dynamisieren sind, dergestalt, dass allgemeine Preissteigerungen auf dem Wohnungsmarkt und bei den Betriebs- und Heizkosten der gekappten Miete aufzusatteln sind (so auch Berlit LPK-SGB II § 22 Rdn. 69). Ansonsten schlösse man den Betroffenen von Entwicklungen des Wohnungsmarktes aus, die sich auch auf die frühere Wohnung im Sinne einer Preissteigerung ausgewirkt hätten, was nach der Regelungslogik des § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II auf die neue Miete durchschlagen muss.

Da es im Fall der üblicherweise weitervermieteten Alt-Wohnung rein spekulativ wäre, wie sich die Bestandsmiete und die verbrauchsabhängigen Kosten bei Verbleib in der Wohnung entwickelt hätten, ist es sachgerecht, die im Mietspiegel oder sonstigen Quellen zum Wohnungsmarkt erhobenen, allgemeinen Daten zur Preisentwicklung als Dynamisierungs-faktoren heranzuziehen.

Danach ist im vorliegenden Fall für die Nettokaltmiete festzustellen, dass sich die Mieten für kleine Wohnungen kontinuierlich überdurchschnittlich erhöht haben, was die Senatsverwaltung bewogen hatte, ab März 2009 den Richtwert für 1-Personen-Wohnungen von 360 EUR auf 378 EUR zu erhöhen.

Eine aktuelle Mietspiegelabfrage ergibt für eine Wohnung in der E straße ... eine Preisspanne zwischen 5,50 EUR und 7,20 EUR, Mittelwert 6,16 EUR. Die Klägerin hatte 5,27 EUR/qm gezahlt. Selbst bei Ansatz des untersten Spannenwerts ist danach eine Erhöhung um ca. 5% festzustellen. Angesichts der fortschreitenden Preisentwicklung im Bezirk F ist es für die Zeit ab 2011 in jedem Fall angemessen, gegenüber dem Jahr 2008 eine Preissteigerung von 10% (= 220 EUR) anzusetzen.

Hinsichtlich der Betriebskosten hat sich bei preisungebundenen Wohnungen gegenüber dem Jahr 2008 (1,41 EUR/qm) eine Steigerung auf 1,44 EUR/qm ergeben (Mietspiegel 2011, S. 22 mit Abrechnungsdaten aus 2009). Für die Zeit ab 2011 ist es daher in jedem Fall angemessen, gegenüber den 2008 verlangten 1,05 EUR/qm einen Preis von 1,08 EUR/qm (= 40,92 EUR) anzusetzen.

Die frühere Wohnung war mit einer Gasetagenheizung ausgestattet. Die Klägerin hatte im sog. Klassikkomfort bei einem kWh-Arbeitspreis von 0,061 EUR und einem Grundpreis von 96 EUR im Jahr einen Abschlag von zuletzt 63 EUR monatlich entrichtet. Im August 2010 sind die Gaspreise um ca. 13% angehoben worden, weitere Preiserhöhungen für den Winter 2011/2012 sind angekündigt. Nach einer aktuellen Preisabfrage bei der GASAG wird für den Komforttarif ein Arbeitspreis von 0,076 EUR/kWh berechnet mit einem Grundpreis ab 5,50 EUR im Monat. Für die Zeit ab 2011 ist es daher in jedem Fall angemessen, gegenüber den 2008 verlangten 63 EUR einen Abschlag von 72 EUR anzusetzen. Dies ergibt einen Gesamtwert der dynamisierten § 22 SGB II-Bedarfe von 332,92 EUR.

Mit den im streitigen Zeitraum für die Wohnung N straße ... verlangten Preis von 330 EUR liegt die Klägerin mithin unter dem Preis, der nach allgemeiner Preisentwicklung für die alte Wohnung seit 2011 wahrscheinlich zu zahlen gewesen wäre. Der Beklagte muss daher die jetzigen Miet- und Heizkosten voll übernehmen.

Der Mehrbedarf für die dezentrale Warmwasserbereitung steht der Klägerin nach § 21 Abs. 7 SGB II i. V. m. § 77 SGB II seit Januar 2011 in Höhe von 8 EUR monatlich zu.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Berufung war zuzulassen, da die Frage, wie lange die Mietkappung bei nicht erforderlichem Umzug fortwirkt, von grundsätzlicher und noch ungeklärter Bedeutung ist.
Rechtskraft
Aus
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