L 18 AS 913/12 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 155 AS 2899/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 913/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 29. März 2012 aufgehoben, soweit das Sozialgericht den Antragsgegner zur vorläufigen Gewährung von Leistungen für die Zeit vom 13. März 2012 bis 31. März 2012 in einer Höhe von mehr als 90,- EUR und für die Zeit vom 1. April 2012 bis 31. August 2012 in einer Höhe von mehr als 150,- EUR monatlich verpflichtet hat. Zugleich wird bestimmt, dass die Verpflichtung des Antragsgegners bei einer Entscheidung in der Hauptsache vor dem 31. August 2012 entsprechend vorzeitig endet. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im gesamten Verfahren. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Bevollmächtigten bewilligt.

Gründe:

Wegen der Dringlichkeit der Sache war in entsprechender Anwendung von § 155 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch den Vorsitzenden und Berichterstatter zu entscheiden.

Die Beschwerde des Antragsgegners ist in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen ist das Rechtsmittel nicht begründet und war daher zurückzuweisen.

Für die Zeit ab 13. März 2012 (Antragseingang) bis längstens 31. August 2012 war der Antragsgegner gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zu monatlichen Leistungen in Höhe der Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) zu verpflichten (vgl. § 3 Abs. 1 Satz 3 Nr 2, Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AsylbLG). Der im Wege der einstweiligen Anordnung zu sichernde Anordnungsanspruch ergibt sich aufgrund der verfassungsrechtlich gebotenen Folgenabwägung (siehe dazu BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 – juris) im Hinblick auf die bislang höchstrichterlich nicht geklärte Tragweite des gesetzlichen Leistungsausschlusses in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) für nichtdeutsche Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU), deren Aufenthaltsrecht – wie bei dem die ungarische Staatsangehörigkeit besitzenden Antragsteller – auf § 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU beruht. Wegen der in Art. 39 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) verbürgten Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EU stellt sich jedenfalls die Frage, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit Gemeinschaftsrecht in Einklang steht. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs – EuGH – (Urteil vom 04. Juni 2009 – C - 22/08 - juris) kann sich nämlich ein Arbeitsuchender, der tatsächliche Verbindungen mit dem Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats hergestellt hat, auf Art. 39 Abs. 2 EGV berufen, um eine finanzielle Leistung in Anspruch zu nehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll. Die Ausnahmevorschrift in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38, die ggfs. einem derartigen Leistungsanspruch entgegensteht, betrifft demgegenüber aber nur einen "Anspruch auf Sozialhilfe"; insoweit wird darauf hingewiesen, dass eine Leistungsvoraussetzung wie die der Erwerbsfähigkeit in § 8 SGB II ein Hinweis darauf sein könne, dass Leistungen der Grundsicherung den Zugang zur Beschäftigung erleichtern sollten (vgl. EuGH a.a.O.). Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 findet dann indes keine Anwendung. Im Übrigen sind auch die sich aus der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ergebenden rechtlichen Folgen für die hier einschlägige Ausschlussnorm nicht abschließend geklärt, dürften bei summarischer Prüfung aber zumindest nicht ausschließen, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz in Art. 4 Verordnung (EG) Nr. 88372004 verstößt. Eine Folgenabwägung hat auch deshalb zu ergehen, weil das Sozialgericht im Hauptsacheverfahren auch abschließend zu klären haben wird, ob der Antragsteller mit E L in einer Bedarfsgemeinschaft lebt.

Angesichts des existenzsichernden Charakters der beanspruchten Leistungen wiegen die dem Antragsteller drohenden Nachteile bei einer (vollen) Ablehnung des gestellten Rechtsschutzantrages und einem späteren Obsiegen im Hauptsacheverfahren jedenfalls ungleich schwerer als der dem Antragsgegner drohende Nachteil einer ggf. nicht zu realisierenden Rückforderung der zu Unrecht gezahlten Leistungsbeträge. Daher war der Antragsgegner entsprechend der ständigen Rechtsprechung des Senats zu verpflichten, - nur - das absolute Existenzminimum des Antragstellers zu sichern. Die insoweit entsprechend heranzuziehenden Grundleistungen nach dem AsylbLG belaufen sich auf 360,- DM monatlich zzgl des Betrags nach § 3 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylbLG i.H.v. 80,- DM, was einem Gesamtbetrag von – gerundet (vgl. § 41 Abs. 2 SGB II) - monatlich 225,- EUR entspricht. Anzurechnen ist dabei im einstweiligen Rechtsschutzverfahren das geschützte monatliche Einkommen i.H.v. 75,- EUR. Es ergibt sich ein monatlicher Betrag von 125,- EUR, für März 2012 anteilig von – gerundet – 90,- EUR.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dem Antragsteller war für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Bevollmächtigten zu bewilligen, weil der Antragsgegner das Rechtsmittel eingelegt hat (vgl § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 119 Abs. 1 Satz 2, 121 Abs. 2 Zivilprozessordnung).

Der Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung des angefochtenen Beschlusses (vgl. § 199 Abs. 2 SGG) hat sich durch die Entscheidung über die Beschwerde erledigt.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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