S 20 AS 904/12 ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Dresden (FSS)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
20
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 20 AS 904/12 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Zur Angessenheit von Aufwendungen für Unterkunft in der Landeshauptstadt Dresden
I. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig für den Zeitraum vom 8. Februar 2012 bis 30. September 2012 Leistungen nach dem SGB II in Höhe von monatlich insgesamt 219,29 EUR zu zahlen

II. Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

Gründe:

I. Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von höheren Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II).
Die am 1962 geborene Antragstellerin ist arbeitslos und beantragte erstmals am 13. Oktober 2004 Arbeitslosengeld II. Sie bezieht eine Rente wegen voller Erwerbsminderung der Deutschen Rentenversicherung Bund in Höhe von monatlich 572,18 EUR. Sie bewohnt seit 1998 eine ca. 50 m² große 2-Raum-Wohnung, für die sie derzeit eine Bruttokaltmiete in Höhe von 346,81 EUR zuzüglich Heizkostenvorauszahlung in Höhe von 35 EUR monatlich zu zahlen hat. Mit Schreiben vom 25. März 2011 forderte der Antragsgegner die Antragstellerin auf, die Kosten der Unterkunft bis 30. September 2011 zu senken. Die Antragstellerin beantragte am 30. August 2011 die Weiterbewilligung der Leistungen. Der Antragsgegner bewilligte mit Bescheid vom 2. September 2010 u. a. für die Monate Februar und März 2012 monatlich 114,93 EUR. Die Antragstellerin erhob am 30. September 2011 Widerspruch. Mit Bescheid vom 5. Dezember 2011 bewilligte der Antragsgegner u. a. für die Monate Februar und März 2012 jeweils 148,48 EUR und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 6. Dezember 2011 zurück. Am 6. Januar 2012 erhob die Antragstellerin beim Sozialgericht Dresden Klage, die unter dem Az. S 20 AS 156/12 geführt wird und über die noch nicht entschieden ist.
Am 8. Februar 2012 hat sie die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beantragt.
Der Antragsgegner habe die Angemessenheit der Bedarfe für Unterkunft und Heizung nicht auf Grundlage eines schlüssigen Konzeptes ermittelt. Überdies würde ein Umzug für die Antragstellerin eine besondere Härte bedeuten. Gesundheitliche Einschränkungen und das Erfordernis der Betreuung ihrer Eltern stünden einem Umzug entgegen.

Die Antragstellerin beantragt:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, ab 8. Februar 2012 höhere Leistungen unter Berücksichtigung der Unterkunfts- und Heizkosten in Höhe von 381,81 EUR zu bewilligen.

Der Antragsgegner beantragt, den Antrag abzulehnen.
Ein Härtefall sei nicht anzuerkennen. Der Antragsgegner habe die Angemessenheitsrichtwerte auf Grundlage eines schlüssigen Konzeptes ermittelt, das mit Stadtratsbeschluss vom 24. November 2011 verabschiedet worden sei. Mit Bescheid vom 8. Februar 2012 hat der Antragsgegner der Antragstellerin für den Zeitraum 1. April 2012 bis 30. September 2012 monatlich Leistungen in Höhe von 148,48 EUR gewährt. Die Antragstellerin hat mit Schreiben vom 20. Februar 2012 Widerspruch erhoben, über den noch nicht entschieden ist. Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Akten S 28 AS 5541/11 ER und S 20 AS 156/12 und der vom Antragsgegner vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

II. Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet.

Inhaltlich handelt es sich um einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) mit dem Begehren, den Antragsgegner zu verpflichten, der Antragstellerin vorläufig höhere Leistungen nach dem SGB II zu gewähren. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erfolg des Antrages ist, dass ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund vorliegen. Für eine vorläufige Entscheidung müssen gewichtige Gründe vorliegen (Anordnungsgrund). Der Anordnungsgrund liegt vor, wenn dem Antragsteller wesentliche, insbesondere irreversible Nachteile drohen, die für ihn ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache unzumutbar machen und die Regelung zur Verhinderung dieser unzumutbaren Nachteile durch eine Anordnung nötig erscheint (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Oktober 1977, Az: 2 BvR 42/76). Ferner muss ein Anordnungsanspruch vorliegen. Dabei muss es sich um einen der Durchsetzung zugänglichen materiell-rechtlichen Anspruch des Antragstellers handeln (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., § 86b Rn. 27 ff.). Eine einstweilige Anordnung ergeht demnach nur, wenn sie nach gebotener summarischer Prüfung der Sachlage zur Abwendung wesentlicher, nicht wieder gutzumachender Nachteile für den Antragsteller notwendig ist. Dabei hat der Antragsteller wegen der von ihm geltend gemachten Eilbedürftigkeit der Entscheidung die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach §§ 202 SGG, 294 der Zivilprozessordnung (ZPO), also Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund, glaubhaft zu machen.

Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch (1.) und einen Anordnungsgrund (2.) glaubhaft gemacht.

1.
Der Anordnungsanspruch der Antragstellerin ergibt sich aus § 7 Abs. 1 SGB II. Danach erhalten Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben, Leistungen nach dem SGB II.

1.1.
Ob die Antragstellerin erwerbsfähig im Sinne des § 8 Abs. 1 SGB II ist, kann offen bleiben, da der Antragsgegner offenbar das Verfahren nach § 44a SGB II nicht durchgeführt hat, sondern selbst von ihrer Erwerbsfähigkeit ausgeht. Daher dürfte entsprechend der Regelung des § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II eine Erwerbsfähigkeit derzeit zu fingieren sein.

1.2.
Die Antragstellerin hat nur Anspruch auf Leistungen, soweit sie hilfebedürftig ist (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II). Hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält (§ 9 Abs. 1 SGB II). Die Höhe des Anspruches auf Arbeitslosengeld II bemisst sich nach § 19 SGB II. Der Bedarf der Antragstellerin ergibt sich zum einen aus dem ihr gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II zustehenden Regelbedarf in Höhe von 374 EUR. Ferner gehören zum Bedarf die ihr gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II zustehenden Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 381,81 EUR. Daraus ergibt sich ein Gesamtbedarf in Höhe von monatlich 755,81 EUR.

1.2.1.
Es ist nicht ersichtlich, dass die Voraussetzungen für eine Kürzung des Bedarfs der Unterkunft gemäß § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II vorliegt. Dies wäre nur dann der Fall, wenn er unangemessen hoch wäre. Zur Feststellung der Angemessenheit des Bedarfs der Unterkunft hat der Antragsgegner nach der Rechtsprechung des BSG in mehreren Schritten vorzugehen (Urteil vom 22. September 2009 - B 4 AS 18/09 R): In einem ersten Schritt ist die abstrakt angemessene Wohnungsgröße und der Wohnungsstandard zu bestimmen. In einem zweiten Schritt ist festzulegen, auf welchen räumlichen Vergleichsmaßstab für die weiteren Prüfungsschritte abzustellen ist. Sodann ist in einem dritten Schritt nach der "Produkttheorie" zu ermitteln, wie viel auf diesem Wohnungsmarkt für eine einfache Wohnung aufzuwenden ist. Hierbei ist der ermittelte Quadratmeterpreis für Wohnungen einfachen Standards mit der dem Hilfeempfänger zugestandenen Quadratmeterzahl zu multiplizieren und so die angemessene Miete festzustellen. Es bestehen erhebliche Bedenken dagegen, dass das vom Antragsgegner der Ermittlung des angemessenen Bedarfs der Unterkunft zu Grunde gelegte Konzept "schlüssig" im Sinne der Rechtsprechung des BSG ist (vgl. dazu im Einzelnen die Ausführungen der weiteren Kammern des Sozialgerichts Dresden, denen sich die 20. Kammer insoweit anschließt: Beschluss vom 16. Dezember 2011 – S 10 AS 6969/11 ER; Beschluss vom 23. Dezember 2011 – S 29 AS 7319/11 ER; Beschluss vom 31. Januar 2012 – S 3 AS 683/12 ER). Nichts anderes ergibt sich auf Grundlage der zwischenzeitlich vom Antragsgegner vorgelegten ergänzenden Begründungselemente. Insoweit wird in vollem Umfang auf die Ausführungen des SG Dresden im Urteil vom 28. Februar 2012 – S 29 AS 7524/10 – Bezug genommen. Auf Grund der – zumindest im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes – begrenzten Möglichkeiten von Ermittlungen zur Bestimmung einer Angemessenheitsgrenze hat der Antragsgegner den tatsächlichen Bedarf der Unterkunft der Antragsgegnerin zu übernehmen. Dieser ist allerdings begrenzt durch den um einen maßvollen Zuschlag von 10 % erhöhten Tabellenwert in § 12 WoGG (früher: § 8 WoGG, vgl. BSG, Urteil vom 22. September 2009 – B 4 AS 18/09 R, Rn. 27; Terminsbericht zum Urteil vom 22. März 2012 – B 4 AS 16/11 R). Aus der Tabelle nach § 12 Abs. 1 WoGG ergibt sich für einen Ein-Personen-Haushalt der Mietstufe III (Dresden) ein Höchstbetrag von 330 EUR für die Bruttokaltmiete, so dass sich nach der Rechtsprechung des BSG unter Berücksichtigung des Zuschlages von 10 % eine Obergrenze von 363 EUR ergibt. Da die Bruttokaltmiete der Antragstellerin derzeit 346,81 EUR beträgt, gibt es für eine Kappung des Bedarfs der Unterkunft derzeit – soweit im Rahmen des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes feststellbar – keine Rechtsgrundlage. Über die Angemessenheit des Bedarfs für Heizung besteht zwischen den Beteiligten kein Streit.

1.2.2.
Auf den Bedarf der Antragstellerin war gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II ihr Einkommen aus Erwerbsminderungsrente anzurechnen, das das derzeit monatlich 572,18 EUR beträgt. Abzusetzen war hiervon eine Pauschale nach § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II in Verbindung mit § 6 Abs. 1 Nr. 1 Alg II-V in Höhe von 30 EUR sowie nach § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II der Beitrag für die "Riester-Rente" in Höhe von monatlich 5,66 EUR, insgesamt also 35,66 EUR, so dass ein anrechenbares Einkommen in Höhe von 536,52 EUR verbleibt.

1.2.3.
Der ungedeckte Bedarf der Antragstellerin beträgt folglich derzeit monatlich 219,29 EUR (755,81 EUR - 536,52 EUR). In dieser Höhe hat sie einen Anordnungsanspruch ab Eingang des Eilantrages bis zum Ablauf des kommenden Bewilligungszeitraumes glaubhaft gemacht.

2.
Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin hat insbesondere die Dringlichkeit der Durchsetzung ihrer Ansprüche dargelegt, da sie nach ihren aktuellen Einkommens- und Vermögensverhältnissen nicht in der Lage sind, die voraussichtlich rechtswidrige Kürzung von Leistungen durch den Antragsgegner aus eigenen Mitteln auszugleichen. Damit ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Vermeidung einer Verletzung ihres Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz [GG] in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG) geboten. Ein Anordnungsgrund ist ab Eingang des Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bei Gericht zu bejahen, da die Dauer des gerichtlichen Eilverfahrens dem Einfluss der Antragstellerin weitgehend entzogen ist.

3.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. 4.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 in Verbindung mit § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Der Beschwerdewert von 750 EUR ist nicht erreicht. Der Antragsgegner ist zu einer Zahlung in Höhe monatlich weiteren 70,81 EUR (219,29 EUR abzüglich bereits bewilligter 148,48 EUR) für die Dauer von maximal 7 Monaten und 22 Tagen verpflichtet worden.
Rechtskraft
Aus
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