L 9 U 4144/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 4 U 4139/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 4144/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 2. August 2010 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt im Zugunstenwege die Gewährung einer Verletztenrente wegen der bei ihm anerkannten Berufskrankheit (BK) Lärmschwerhörigkeit. Dabei hat der Senat zunächst darüber zu befinden, ob eine inhaltliche Prüfung der angefochtenen Bescheide erfolgen kann oder ob er daran aufgrund einer Klagerücknahme gehindert ist.

Der 1949 geborene Kläger bezog in der ehemaligen DDR wegen der anerkannten BK Lärmschwerhörigkeit eine Unfallrente nach einer Erwerbsminderung von 20 % vom 1.8.1976 bis zu seiner Ausreise im April 1989 (Unfall-Rentenbescheid vom 28.4.1977).

Am 27.4.1989 beantragte der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland die Weitergewährung seiner Unfallrente. Nach Einholung eines HNO-ärztlichen Gutachtens anerkannte die Rechtsvorgängerin der Beklagten (im Weiteren: Beklagte) mit Bescheid vom 25.10.1991 eine knapp geringgradige Innenohrschwerhörigkeit beidseits als BK nach den Bestimmungen des Fremdrentengesetzes (FRG), lehnte jedoch die Gewährung von Verletztenrente ab, weil aufgrund der Folgen der BK eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigendem Grade nicht bestehe. Den Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 4.6.1992 zurück.

Mit Bescheid vom 11.5.1992 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.10.1992 teilte die Beklagte dem Kläger mit, ein Rentenanspruch ergebe sich auch nicht aufgrund von § 1150 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO), da der Anspruch vor dem 1.1.1992 anerkannt worden und nach dem FRG zu beurteilen sei.

Nachdem der Kläger mit Schreiben vom 6.4.2006 erneut geltend gemacht hatte, er sei mit der Entscheidung nicht einverstanden, teilte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 9.5.2006 mit, ein Anspruch auf Rente bestehe weiterhin nicht, wie sich aus dem Bescheid vom 25.10.1991 ergebe. Da er den Antrag vor dem Stichtag am 1.1.1992 gestellt habe, sei eine Überleitung der Rente nicht möglich. Den Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 26.7.2006 zurück.

Mit Schreiben vom 4.4.2007 machte der Kläger geltend, seine Ohrschäden seien berufsbedingt, und beantragte eine erneute Überprüfung der bisherigen Entscheidung. Mit Bescheid vom 26.4.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.10.2007 teilte die Beklagte mit, ein Anspruch auf Rente bestehe weiterhin nicht. Es seien keine Gründe vorgebracht worden, die eine Überprüfung ihrer rechtskräftigen Entscheidung rechtfertigten. Bei Erlass des Bescheides vom 25.10.1991 sei weder das Recht unrichtig angewandt noch von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden.

Das Schreiben des Klägers vom 19.10.2007, eingegangen bei der Beklagten am 23.10.2007, mit dem der Kläger gegen den Widerspruchsbescheid erneut "Widerspruch" eingelegt hat, hat die Beklagte dem Sozialgericht (SG) Reutlingen als Klage (S 4 U 4139/07) vorgelegt.

Mit Schreiben vom 9.11.2007, eingegangen beim SG laut Eingangsstempel am 12.11.2007, hat der Kläger u. a. mitgeteilt: "Hiermit ziehe ich die Klage gegen die BGM Mainz mit sofortiger Wirkung zurück ".

Ferner findet sich in der Akte ein Telefonvermerk der Urkundsbeamtin S. vom 12.11.2007: "Der Kläger, Herr H., teilt heute tel. mit, dass er die Klage nicht zurücknimmt".

Die zuständige Richterin hat darunter vermerkt: "Klagerücknahme sowie Widerruf derselben sind zeitgleich eingegangen, so dass der Widerruf der Klagerücknahme rechtzeitig erfolgte (§ 130 Abs. 1 S. 2 BGB)".

Mit Gerichtsbescheid vom 2.8.2010 hat das SG die Klage abgewiesen. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.

Gegen den am 12.8.2010 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 25.8.2010 Berufung eingelegt, mit der er die Gewährung von Verletztenrente weiter verfolgt.

Der Senat hat Auskünfte bei der zuständigen Richterin des SG eingeholt. Diese hat unter dem 2.3. und 20.3.2012 mitgeteilt, die Post, auch die an die Hausanschrift gerichtete Post, lande im Postfach. Die Post werde zweimal am Tag abgeholt. Der erste Teil sei in der Regel gegen 6:30 Uhr, der zweite Teil gegen 8:15/8:30 Uhr im Gericht. Die Uhrzeit des Anrufs des Klägers lasse sich nicht mehr feststellen. Der Kläger hat auf die Frage vom 27.2.2012, ob er noch wisse, um wie viel Uhr er beim SG Reutlingen angerufen und mitgeteilt habe, die Klage solle – trotz des Schreibens vom 9.11.2007 – nicht zurückgenommen werden, mitgeteilt, er habe heute (gemeint wohl 28.3.2012 – Datum des Schreibens) beim SG Stuttgart um 8:00 Uhr angerufen und mitgeteilt, dass er von Anfang an, von der Übersiedlung nach Westdeutschland, die Klage aufrecht erhalte.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 2. August 2010 sowie den Bescheid der Beklagten vom 26. April 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Oktober 2007 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 25. Oktober 1991 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Juni 1992 zu verurteilen, ihm Verletztenrente nach einer MdE um mindestens 20 v.H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur weiteren Darstellung des Tatbestandes wird auf die Akten der Beklagten, des SG sowie des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgemäß eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig, aber nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 26.4.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.10.2007 und auf Verurteilung der Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 25.10.1991 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4.6.1992 zur Gewährung einer Verletztenrente.

Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind bestandskräftig geworden, da der Kläger die Klage mit Schreiben vom 9.11.2007, eingegangen beim SG am 12.11.2007, zurückgenommen hat.

Der Umstand, dass der Kläger bei seinem Telefonanruf auf der Geschäftsstelle des SG am 12.11.2007 erklärt hat, er nehme seine Klage nicht zurück, beseitigt die schriftliche Rücknahmeerklärung nicht.

Die Erklärung der Klagerücknahme ist eine einseitige Prozesshandlung. Sie muss schriftlich gegenüber dem Gericht, zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder im Termin erklärt werden, wie sich aus § 202 SGG i.V.m. § 269 Abs. 2 S. 1 und S. 2 ZPO ergibt. Auch aus der Kommentarliteratur ist zu entnehmen, dass diese Formvorschriften einzuhalten sind und eine telefonische Klagerücknahme diesen Formvorschriften nicht genügt (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 10. Aufl., § 102 Rn. 7; NomosKommentar, hrsg. von Lübke, Handkommentar, 2. Aufl. § 102 SGG Rn. 5). Ein Widerruf einer Rücknahme einer Klage ist wie die Rücknahme einer Klage eine Prozesshandlung. Als solche bedarf sie der gleichen Form wie z.B. die Rücknahme der Klage (BFH, Beschluss vom 8.8.1991 – VI B 134/90 – in Juris).

Der Kläger hat mit dem am 12.11.2007 beim SG eingegangenen Schreiben vom 9.11.2007 schriftlich und dementsprechend wirksam die Klage zurückgenommen. Den Widerruf der Klagerücknahme hat der Kläger jedoch lediglich telefonisch erklärt. Da für den Widerruf – wie für die Klagerücknahme – Schriftform erforderlich ist, konnte die Klagerücknahme schon allein wegen der fehlenden Schriftform nicht durch einen Telefonanruf widerrufen werden.

Grundsätzlich kann eine Klagerücknahme nicht angefochten oder widerrufen werden (BSG, Beschluss vom 4.11.2009 a.a.O.). Das gilt nur dann nicht, wenn der Kläger bei Abgabe der betreffenden Erklärung prozessunfähig war, in unzulässiger Weise zur Abgabe einer solchen Erklärung veranlasst worden ist bzw. bei Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes nach den §§ 579, 580 ZPO (FG des Landes Brandenburg, Urteil vom 13.10.2004 – 1 K 1574/03 – in Juris m.w.N.).

Aber auch wenn man zu Gunsten des Klägers davon ausgehen würde, dass der Widerruf der Klagerücknahme keiner Schriftform bedarf und § 130 Abs. 1 S. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) entsprechend anwendbar ist (Niedersächsisches FG, Urteil vom 3.3.2004 – 9 K 365/01 – in Juris), ist ein wirksamer Widerruf nicht erfolgt.

Nach der entsprechenden Anwendung von § 130 Abs. 1 S. 2 BGB wird die Prozesserklärung nicht wirksam, wenn dem zuständigen Gericht vorher oder gleichzeitig ein Widerruf zugeht. Ein Widerruf nach Zugang der Prozesserklärung bei dem zuständigen Gericht ist ohne Bedeutung, die einmal abgegebene Erklärung bleibt wirksam.

Vorliegend ist nicht feststellbar, dass der Telefonanruf des Klägers am 12.11.2007, mit dem der Kläger die Klagerücknahme widerrufen wollte, vor Eingang des Schreibens vom 9.11.2007 am 12.11.2007 bzw. gleichzeitig erfolgt ist. Denn die Post – auch die an die Hausanschrift adressierten Briefe – wird zweimal täglich vom Postamt bzw. aus dem Postfach abgeholt, wobei der erste Teil im Regelfall gegen 6:30 Uhr und der zweite Teil gegen 8:15/8:30 Uhr im Gericht ist. Da nicht nachgewiesen ist, dass der Brief des Klägers vom 9.11.2007 erst mit der zweiten Post um 8:15/8:30 Uhr im Gericht eingegangen ist, müsste der Anrufs des Klägers mit bzw. vor Eingang der ersten Post gegen 6:30 Uhr erfolgt sein, damit der Widerruf vor oder gleichzeitig mit dem Eingang der Klagerücknahme erfolgt wäre. Dies ist jedoch ausgeschlossen, da die Mitarbeiterin der Geschäftsstelle erst gegen 7:00 Uhr bzw. 7:15 Uhr ihre Arbeit beginnt.

Da der Kläger mit Schreiben vom 9.11.2007, eingegangen beim SG Reutlingen am 12.11.2007, die Klage zurückgenommen hat, sind die angefochtenen der Beklagten bestandskräftig geworden. Die Berufung des Klägers, mit der er die Gewährung von Verletztenrente begehrt, war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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