L 9 AS 4425/12 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 15 AS 4856/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 AS 4425/12 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 15. Oktober 2012 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller auch die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwältin R. beigeordnet.

Gründe:

I.

Der Antragsteller und Beschwerdegegner begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Der 1969 geborene Antragsteller hat nach seinen Angaben von 1994 bis 2004 in Deutschland gelebt und war anschließend nach S. zurückgekehrt. Im Dezember 2011 kehrte er nach Deutschland zurück und hielt sich zunächst in K., danach, seit ca. 19.7.2012, in F. auf. Zunächst lebte er von Rücklagen und der Unterstützung durch seine Mutter, die – so seine Angaben – nicht mehr möglich ist. Er hat einen Lehrauftrag (Änderungen und Ausfall vorbehalten) der Volkshochschule D. vom 14.9.2012 vorgelegt, wonach er für einen Kurs Spanisch – Mittelstufe 1, beginnend am 20.10.2012 und endend am 2.2.2013, für sechs Termine von jeweils 3,5 Stunden, 28 Unterrichtseinheiten, ein Honorar von 504,00 EUR erhalten soll.

Am 2.8.2012 beantragte er die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II.

Mit Bescheid vom 27.8.2012 lehnte der Antragsgegner und Beschwerdeführer die Gewährung von Leistungen ab. Zur Begründung führte er aus, der Antragsteller könne keine Leistungen beanspruchen, weil er lediglich ein alleiniges Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche in der Bundesrepublik Deutschland habe. Die Entscheidung beruhe auf § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II.

Hiergegen legte der Kläger am 27.9.2012 Widerspruch ein, den der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 4.10.2012 zurückwies.

Am 4.10.2012 hat der Antragsteller beim Sozialgericht (SG) Freiburg einen Antrag auf Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz gestellt, mit dem er die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II bis zum 30.2.2013 (gemeint: 28.2.2013) begehrt hat. Zur Begründung hat er ausgeführt, er habe Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II, da er nachweislich hilfebedürftig und von Leistungen nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II als s. Staatsangehöriger nicht ausgeschlossen sei. Das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) sei auf seinen Fall anwendbar, so dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II nicht für ihn gelte. Aber selbst dann, wenn das EFA durch einen Vorbehalt der Bundesrepublik Deutschland außer Kraft gesetzt wäre, hätte er Anspruch auf Leistungen, denn § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II verstoße gegen die Verordnung EG (VO) 883/2004.

Der Beschwerdeführer ist dem Antrag entgegengetreten und hat die Ansicht vertreten, der Leistungsanspruch könne auch nicht auf das Gleichbehandlungsgebot in Art. 1 EFA gestützt werden. Diese sei wegen des von der Bundesregierung am 19.12.2011 erklärten Vorbehalts nicht mehr auf das SGB II anzuwenden. Der Leistungsausschluss sei auch unter Berücksichtigung des Artikels 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 zulässig. Der Lehrauftrag des Antragstellers bei der Volkshochschule ändere hieran nichts. Bei der lediglich in Aussicht stehenden Tätigkeit handle es sich um kein echtes Arbeitsverhältnis. Der Auftrag sei auf sechs Termine über einen Zeitraum von mehreren Monaten – Änderung und Ausfall vorbehalten – und eine geringfügige Entlohnung beschränkt. Eine tatsächliche Beziehung zum deutschen Arbeitsmarkt liege nicht vor.

Mit Beschluss vom 15.10.2012 hat das SG den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ab dem 1.10.2012 bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 28.2.2013, dem Grunde nach zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, dem Antragsteller stehe sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund zu, weshalb dem Antrag stattzugeben gewesen sei. Die Voraussetzungen der §§ 7 Abs. 1 S. 1, 8 und 9 SGB II dürfte der Antragsteller erfüllen. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners dürfte er auch nicht nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II vom Kreis der Leistungsberechtigten ausgenommen sein. Die Ausschlussgründe in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 3 SGB II griffen vorliegend nicht ein, da sich der Antragsteller bereits länger als drei Monate in Deutschland aufhalte und nicht nach dem Asylbewerberleistungsgesetz leistungsberechtigt sei. Ein Ausschluss des Antragstellers von den Leistungen nach dem SGB II gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II dürfte ebenfalls nicht in Betracht kommen. Diese Ausschlussvorschrift würde nur anwendbar sein, wenn der Antragsteller nicht als Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU) einzustufen sei. Für eine dahingehende Einstufung könnte sein Lehrauftrag bei der Volkshochschule sprechen. Allerdings bestünden insoweit Bedenken, ob der zeitliche Umfang seiner Tätigkeit und das daraus erzielte Einkommen für die Einstufung als Arbeitnehmer oder Selbstständiger ausreichend seien. Dies könne vorliegend aber dahinstehen, da die Ausschlussvorschrift auch bei einem sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebenden Aufenthaltsrecht nicht eingreifen dürfte. Denn § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II dürfte gegenüber Staatsangehörigen eines Vertragsstaates des EFA nicht anwendbar sein. Zu den unterzeichnenden Vertragsstaaten gehörten unter anderem die Bundesrepublik Deutschland und S. Der Anspruch des Antragstellers auf Arbeitslosengeld II dürfte auch nicht durch von der Bundesrepublik erklärte Vorbehalte ausgeschlossen sein, auch nicht durch den von der Bundesregierung mit Wirkung zum 19.12.2011 für Leistungen nach dem SGB II erklärten Vorbehalt gemäß Art. 16b EFA. Auf die Entscheidungsgründe im Übrigen wird Bezug genommen.

Gegen den am 18.10.2012 zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner, der dem Antragsteller mit Bescheid vom 22.10.2012 vorläufig Leistungen i.H.v. monatlich 374,00 EUR für die Zeit vom 1.10.2012 bis 31.1.2013 und i.H.v. 50,80 EUR für die Zeit vom 1.2.2013 bis 28.2.2013 bewilligt hat, am 24.10.2012 Beschwerde eingelegt und vorgetragen, er sei der Auffassung, dass ein Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II bestehe. Er sehe sich nicht in der Lage, sich über die geltende Rechtslage und den von der Bundesregierung erklärten Vorbehalt hinwegzusetzen. Die Vorbehaltserklärung werde für zulässig erachtet. Auf die als Anlage beigefügte" Unterrichtung des Bundestages durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zur Erklärung eines Vorbehaltes gegen die Anwendung des EFA auf die Grundsicherung für Arbeitssuche" werde Bezug genommen sowie auf die Ausführungen in den Beschlüssen des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 7.6.2012 (L 29 AS 920/12 B ER), 12.6.2012 (L 29 AS 914/12 B ER und L 29 AS 1044/12 B ER), 4.7.2012 (L 29 AS 1244/12 B ER), 25.7.2012 (L 29 AS 1504/12 B ER), 2.8.2012 (L 5 AS 1297/12 B ER) sowie 6.8.2012 (L 5 AS 1749/12 B ER).

Der Beschwerdeführer beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 15. Oktober 2012 aufzuheben und den Antrag abzulehnen.

Der Beschwerdegegner beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er erwidert, der Beschwerdeführer beziehe sich auf Beschlüsse zweier Senate des LSG Berlin-Brandenburg, deren Ausführungen jedoch nicht überzeugten, und die schon innerhalb des LSG Berlin-Brandenburg umstritten seien, wie Beschlüsse des 19. Senats des LSG Berlin-Brandenburg vom 15.8.2012 (L 19 AS 1851/12 B ER) und 10.8.2012 (L 19 AS 1751/12 ER) zeigten. Auch der 3. Senat des LSG Baden-Württemberg habe im Beschluss vom 3.7.2012 (L 3 AS 2541/12 ER-B) erhebliche Gründe vorgetragen, die für die Unwirksamkeit des Vorbehalts gegen das EFA sprächen.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf die Akten der Beschwerdeführerin, des SG sowie des Senats Bezug genommen.

II.

Die form- und fristgemäß eingelegte Beschwerde des Antragsgegners ist zulässig, aber nicht begründet. Das SG hat den Antragsgegner im Ergebnis zu Recht verpflichtet, dem Antragsteller vom 1.10.2012 bis 28.2.2013 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht der Fall des Abs. 1 des § 86b SGG vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragsstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Vorliegend kommt nur eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht. Grundsätzlich soll wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung die endgültige Entscheidung der Hauptsache nicht vorweggenommen werden. Wegen des Gebots, effektiven Rechtsschutz zu gewähren (vgl. Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz), ist von diesem Grundsatz eine Abweichung nur dann geboten, wenn ohne die begehrte Anordnung schwere und unzumutbare, später nicht mehr gutzumachende Nachteile entstünden, zu deren Beseitigung eine nachfolgende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Eine solche Fallgestaltung ist anzunehmen, wenn es – wie hier – im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Sicherung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums während eines Verfahrens geht. Ist während des Hauptsacheverfahrens das Existenzminimum nicht gedeckt, kann diese Beeinträchtigung nachträglich nicht mehr ausgeglichen werden, selbst wenn die im Rechtsbehelfsverfahren erstrittenen Leistungen rückwirkend gewährt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.5.2005 – 1 BvR 569/05NVwZ 2005, 927, 928 und in juris). Die Gerichte müssen in solchen Fällen, wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29.7.2003 – 2 BvR 311/03NVwZ 2004, 95, 96 – und in juris). Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden.

Die in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 SGB II genannten Voraussetzungen für die Bewilligung von Leistungen sind erfüllt. Danach erhalten Leistungen nach diesem Buch Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben (Nr. 1), erwerbsfähig sind (Nr. 2), hilfebedürftig sind (Nr. 3) und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (Nr. 4). Der im Jahr 1969 geborene Antragsteller ist erwerbsfähig. Insbesondere steht der Erwerbsfähigkeit des Antragstellers nicht § 8 Abs. 2 S. 1 SGB II entgegen, denn ihm ist als "Alt-EU-Bürger" die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt. Er ist auch hilfebedürftig im Sinne von § 9 SGB II, da er ausweislich der vorgelegten Unterlagen über kein Einkommen und kein Vermögen verfügt. Seit Dezember 2011 hält er sich rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland auf, so dass auch ein gewöhnlicher Aufenthalt zu bejahen ist (BSG, Urteil vom 25.1.2012 – B 14 AS 138/11 R – in juris m. w. N.).

Der Senat sieht es schon als fraglich an, ob einem Anspruch des Antragstellers überhaupt § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II entgegensteht, wenn er – wie vorgesehen – eine (wohl selbstständige) Tätigkeit im Rahmen eines Lehrauftrags durchführt. Denn in diesem Fall dürfte sich sein Aufenthaltsrecht nicht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergeben. Der Umstand, dass der zeitliche Umfang des Lehrauftrags auf 28 Unterrichtseinheiten (sechs Termine à 3,5 Stunden) beschränkt ist und sich sein Honorar auf lediglich 504,00 EUR beläuft und somit nicht das notwendige Existenzminimum deckt, dürfte nicht das Aufenthaltsrecht als selbstständig Tätiger nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 FreizügG/EU entfallen lassen, zumal auch Arbeitnehmer im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 1 1. Alt. FreizügG/EU jeder ist, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, mit Ausnahme derjenigen Arbeitnehmer, deren Tätigkeit einen so geringen Umfang hat, das sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt (BSG, Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 23/10 R – in SozR 4-4200 § 7 Nr. 21 und in juris).

Aber selbst wenn die Ausschlussvorschrift des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II anwendbar wäre und nicht gegen das Recht der Europäischen Union verstoßen würde (vgl. Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 16.5.2012 – L 3 AS 1477/11 – und Beschluss vom 16.7.2012 – L 9 AS 1790/12 ER-B), ist wegen der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht abschließend zu klärenden Frage der Anwendbarkeit von § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II - nach Erklärung des Vorbehalts durch die Bundesregierung mit Wirkung zum 19.12.2011 - auf arbeitsuchende Unionsbürger aus Staaten, die das EFA unterzeichnet haben - u.a. S. -, der Ausgang des Hauptsacheverfahrens als offen anzusehen. Bei der deshalb durchzuführenden Folgenabwägung (BVerfG, Beschluss vom 12.5.2005 – 1 BvL 569/05 – a.a.O.) sind grundrechtliche Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzubeziehen. Da es vorliegend um die Existenzsicherung und damit die Sicherstellung menschenwürdigen Lebens geht, überwiegen die Belange des Antragstellers am Erlass einer Regelungsanordnung hinsichtlich der Leistungen nach dem SGB II das Interesse des Beschwerdeführers, keine finanziellen Aufwendungen bei ungeklärter Rechtslage aufbringen zu müssen.

Nach alledem war der angefochtene Beschluss des SG nicht zu beanstanden. Die Beschwerde des Antraggegners und Beschwerdeführers war deswegen zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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