L 7 AS 725/12 B ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 51 AS 2285/12 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 725/12 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Wenn eine Sanktion nach §§ 31 ff. SGB II für einen Zeitraum erfolgt, für den keine Leistungsbewilligung vorliegt, ist im einstweiligen Rechtsschutz eine zweistufige Prüfung erforderlich.
- Zunächst ist zu prüfen, ob die Klage gegen den Sanktionsbescheid gemäß § 86b Abs. 1 SGG eine aufschiebende Wirkung erzeugt.
- Falls die aufschiebende Wirkung besteht, ist zu prüfen, inwieweit eine einstweilige Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG einen vorläufigen Leistungsanspruch bewirkt.
Die aufschiebende Wirkung ist vorab zu prüfen, weil sie im Bereich von § 39 SGB II regelmäßig einen anderen Prüfungsmaßstab hat als die einstweilige Anordnung. Der Gesetzgeber hat durch § 39 SGB II in einer typisierenden Abwägung dem Interesse am Sofortvollzug prinzipiell Vorrang eingeräumt.
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 21. September 2012 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.



Gründe:


I.
Streitig ist der Wegfall des Anspruchs auf Arbeitslosengeldes II für die Monate September, Oktober und November 2012 wegen einer Sanktion nach § 31 SGB II.

Der Antragsteller und Beschwerdeführer kam im Jahr 2002 nach Deutschland. Er bezieht seit 01.01.2005 zusammen mit seiner Familie, seiner Ehefrau und beiden gemeinsamen Kindern (geboren 1990 und 2001), Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II.

In der Vergangenheit kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen und diversen Gerichtsverfahren über die Eingliederung des Antragstellers in Arbeit. Der Antragsteller begehrt aufgrund seiner vorhandenen Vorbildung eine Aus- oder Weiterbildung in einem elektro- oder informationstechnischen Beruf. In diesem Zusammenhang beruft sich der Antragsteller auf eine mündliche Verhandlung am Sozialgericht im September 2011. Dort sei vereinbart worden, eine mögliche Weiterbildung zu prüfen. In der Folge wurde im November 2011 eine Eignungsfeststellung durchgeführt, deren Ergebnisse nach Auffassung des Antragstellers seine Eignung für die gewünschte Weiterbildung untermauern. Am 12.12.2011 wurde dem Antragsteller eine Ausbildung zum Fachlageristen angeboten, später eine Ausbildung zum Teilezurichter (Regelausbildung zwei Jahre).

Mit Bescheid vom 14.04.2011 wurde das Arbeitslosengeld II des Antragstellers um 30 % der Regelleistung abgesenkt. Mit Bescheid vom 24.10.2011 wurde das Arbeitslosengeld II des Antragstellers wegen einer weiteren Pflichtverletzung um 60 % der Regelleistung abgesenkt. Zuletzt wurde mit Bescheid vom 15.05.2012 der vollständige Wegfall des Arbeitslosengelds II für die Monate Juni, Juli und August 2012 verfügt. Das dagegen gerichtete Eilverfahren blieb erfolglos (vgl. BayLSG, Beschluss vom 28.08.2012, L 7 AS 527/12 B ER).

Zuletzt wurden der Familie mit Bescheid vom 20.02.2012 Leistungen für die Zeit von März bis einschließlich August 2012 bewilligt. Angerechnet wurde Einkommen mehrer Familienmitglieder. Für den Antragsteller selbst wurde ein Betrag von monatlich 409,57 Euro bewilligt. Einen Bescheid, der dem Antragsteller Leistungen in den Monaten September bis November 2012 bewilligt, gibt es nicht. Aus einer Leistungsübersicht in der Verwaltungsakte (S. 3129) ergibt sich, dass der Familie in dieser Zeit Erwerbseinkommen in Höhe von 338,67 Euro wegen Freibeträgen nicht auf den Bedarf angerechnet wurde.

Weil der Antragsteller im Vorfeld deutlich machte, eine Eingliederungsvereinbarung nicht unterzeichnen zu wollen, die nicht seinen Erwartungen an die Weiterbildung entspreche, erließ der Antragsgegner mit Bescheid vom 26.06.2012 (Seite 3053 Verwaltungsakte) gemäß § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II einen Eingliederungsverwaltungsakt. Darin wurde der Antragsteller unter anderem verpflichtet, von 09.07.2012 bis 31.08.2012 an einer Maßnahme zur Vermittlungsunterstützung teilzunehmen. Der Inhalt der Maßnahme wurde dabei im Einzelnen dargestellt. Ferner wurde der Antragsteller verpflichtet, monatlich vier Eigenbewerbungen für sozialversicherungspflichtige Tätigkeiten im Helferbereich nachzuweisen. Der Verwaltungsakt enthält auch eine Rechtsfolgenbelehrung, wonach bei einem Pflichtverstoß ein vollständiger Wegfall des Arbeitslosengeldes II für drei Monate erfolge. Der gegen diesen Bescheid eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 08.08.2012 zurückgewiesen. Dagegen wurde rechtzeitig Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Ein gegen den Eingliederungsverwaltungsakt gerichtetes Eilverfahren blieb erfolglos (vg. BayLSG, Beschluss vom 24.10.2012, L 7 AS 685/12 B ER)

Der Antragsteller trat die Maßnahme am 09.07.2012 nicht an.

Mit Schreiben vom 06.08.2012 wurde der Antragsteller zum möglichen Eintritt einer Sanktion angehört. Er wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ihm in angemessenem Umfang ergänzte Sachleistungen oder geldwerte Leistungen, insbesondere in Form von Lebensmittelgutscheinen, gewährt werden. Dies sei aber nur möglich, wenn keine anderweitigen Mittel, zum Beispiel anrechnungsfrei Einnahmen und Vermögen innerhalb der Freibetragsgrenzen (Schonvermögen) zur Verfügung stünden. Der Antragsteller teilte nur mit, dass die Eingliederungsvereinbarung nicht der Wirklichkeit entspreche und er wissen wolle, wo die versprochene Bildung bleibe.

Mit Bescheid vom 16.08.2012 (Akte S. 3131) stellte der Antragsgegner den vollständigen Wegfall des Arbeitslosengelds II für die Monate September, Oktober und November 2012 fest. Ergänzende Sachleistungen würden zunächst nicht gewährt werden, weil der Antragsteller dies bisher nicht beantragt habe. Wenn er ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen wolle, könne er diese beantragen und erhalten, sofern er darauf angewiesen sei.

Im rechtzeitigen Widerspruch trug der Antragsteller vor, dass die Sanktion ungültig sei wegen der vorausgehenden Eilverfahren. Der Streit um seine Ausbildung laufe weiter. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 22.08.2012 zurückgewiesen. Dagegen wurde Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist.

Am 27.08.2012 stellte der Antragsteller beim Sozialgericht München einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz. Er glaube dass Unrecht geschehe und das Gesetz verletzt werde. Er erhalte nur Sanktionen, nicht aber eine Ausbildung oder Umschulung.

Mit Beschluss vom 21.09.2012 lehnte das Sozialgericht den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ab. Bei der Folgenabwägung entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts überwiege das Vollzugsinteresse des Antragsgegners, weil keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Sanktionsbescheids bestünden. Die Sanktion entspreche den gesetzlichen Vorgaben in § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 SGB II. Es handele sich um eine weitere wiederholte Pflichtverletzung nach § 31a Abs. 1 Satz 3
SGB II. Trotz ordnungsgemäßer Rechtsfolgenbelehrung habe der Antragsteller die im Eingliederungsverwaltungsakt vom 26.06.2012 festgelegte Eingliederungsmaßnahme bei der DAA nicht angetreten. Die Inhalte und die Dauer der Maßnahme seien ausführlich dargelegt worden. Es handelt sich auch um eine zumutbare Maßnahmen. Wichtige Gründe für das Verhalten lägen nicht vor. Im Übrigen habe der Antragsgegner im Anhörungsschreiben ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen angeboten.

Der Antragsteller hat am 01.10.2012 Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts eingelegt. Im September 2011 sei über die angemessene Bildungsmaßnahme zu seinen Gunsten entschieden worden. Die Sanktionen würden die Gesetze verletzen. Der angebotene Kurs bei der DAA sei keine Ausbildung. Ähnliche Kurse habe er in der Vergangenheit besucht. Das sei verlorene Zeit.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Sanktionsbescheids vom 16.08.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.08.2012 anzuordnen und den Antragsgegner durch einstweilige Anordnung vorläufig zu verpflichten, ihm für die Monate September, Oktober und November 2012 vorläufig Arbeitslosengeld II in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf die Akte des Antragsgegners, die Akte des Sozialgerichts und die Akte des Beschwerdegerichts verwiesen.

II.
Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§ 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Die Beschwerde ist jedoch unbegründet, weil das Sozialgericht München den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zu Recht abgelehnt hat.

Der Antragsteller begehrt im Eilverfahren die vorläufige Gewährung von Arbeitslosengeld II in den Monaten September, Oktober und November 2012. Dem steht der Sanktionsbescheid entgegen. Da dem Antragsteller in der strittigen Zeit zuvor keine Leistungen gewährt wurden, ist eine zweistufige Prüfung erforderlich:
- Zunächst ist zu prüfen, ob die Klage gegen den Sanktionsbescheid gemäß § 86b Abs. 1 SGG eine aufschiebende Wirkung erzeugt.
- Falls die aufschiebende Wirkung besteht, ist zu prüfen, inwieweit eine einstweilige Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG einen vorläufigen Leistungsanspruch bewirkt.

Die Sozialgerichte können auch im Eilverfahren eine wirksame Verwaltungsentscheidung nicht ignorieren. Die aufschiebende Wirkung ist vorab zu prüfen, weil sie einen anderen Prüfungsmaßstab hat als die einstweilige Anordnung. Sofern der Sanktionsbescheid wirksam bleibt, also keine aufschiebende Wirkung angeordnet wird, ist für eine vorläufige Leistungsgewährung durch einstweilige Anordnung kein Raum.

1. Aufschiebende Wirkung

Wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat, ist ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG statthaft, weil der Sanktionsbescheid gemäß § 39 Nr. 1 SGB II, § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG sofort vollziehbar ist. Diese Anordnung ergeht nicht, weil der Sanktionsbescheid rechtmäßig ist.

Das Gericht entscheidet über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung auf Grundlage einer Interessenabwägung. Abzuwägen sind das private Interesse des Antragstellers, vom Vollzug des Verwaltungsaktes bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens verschont bleiben und das öffentliche Interesse an der Vollziehung der behördlichen Entscheidung. Im Rahmen dieser Interessenabwägung kommt der Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs in der Hauptsache eine wesentliche Bedeutung zu.

Dabei ist die Wertung des § 39 Nr. 1 SGB II zu berücksichtigen, wonach der Gesetzgeber aufgrund einer typisierenden Abwägung dem öffentlichen Interesse am Sofortvollzug prinzipiell den Vorrang gegenüber entgegenstehenden privaten Interessen einräumt. Eine Abweichung von diesem Regel-Ausnahmeverhältnis kommt nur in Betracht, wenn dafür überwiegende Interessen des Antragstellers sprechen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids bestehen oder wenn besondere private Interessen überwiegen (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 10. Auflage 2012, § 86b Rn. 12c allerdings unter Ablehnung der Kriterien des § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG; Conradis in LPK-SGB II, 4. Auflage 2012, § 39 Rn. 16 und Bay LSG, Beschluss vom 16.07.09, L 7 AS 368/09 B ER).

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05, entschieden, dass bei existenzsichernden Leistungen anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden ist, wenn
(1) schwere und unzumutbare Rechtsbeeinträchtigungen entstehen können,
(2) der Prüfungsmaßstab des § 86b SGG zu einer Ablehnung des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz führen würde und
(3) die Sach- und Rechtslage nicht abschließend geprüft werden kann.

Wenn eine derartige Situation gegeben ist, sind die besonderen privaten Interessen des betroffenen im Rahmen einer Folgenabwägung zu prüfen. Damit werden die Vorgaben des BVerfG auch bei der Anordnung der aufschiebenden Wirkung umgesetzt (vgl. Breitkreuz / Fichte, SGG, 1. Auflage 2008, § 86b Rn. 48, 49).

Durch die Sanktion fallen laut der vorgenannten Leistungsübersicht drei Monate lang monatlich etwa 409,- Euro Arbeitslosengeld II weg, davon 188,- Euro für Unterkunftskosten und 221,- Euro für den Regelbedarf. Daraus können sich schwere und unzumutbare Rechtsbeeinträchtigungen ergeben. Die Sach- und Rechtslage kann aber abschließend geprüft werden. Es kommt daher nicht zu der Folgenabwägung. Wie das Sozialgericht zutreffend ausführt, liegen die Voraussetzungen einer weiteren wiederholten Pflichtverletzung vor. Das Beschwerdegericht schließt sich insoweit gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG der Begründung des Sozialgerichts an und weist die Beschwerde aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück.

Lediglich ergänzend wird angemerkt, dass auch die Entscheidung im Sanktionsbescheid vom 16.08.2012 zu ergänzenden Sachleistungen und geldwerten Leistungen nicht zu beanstanden ist.

Diese werden laut Bescheid zunächst nicht gewährt, weil sie nicht beantragt wurden. Es wohnen minderjährige Kinder im Haushalt des Antragstellers, so dass gemäß § 31a Abs. 3 Satz 2 SGB II derartige Leistungen zu erbringen sind. Es handelt sich nicht um eine Ermessensentscheidung wie im Fall des § 31a Abs. 3 Satz 1 SGB II.

Damit ist noch keine Aussage darüber getroffen, ob der in Satz 1 vorgeschriebene Antrag erforderlich ist. Auch bei einem gebundenen Anspruch ergibt ein Antrag Sinn. Dies gilt in besonderem Maße bei einer Leistung, die nur in angemessenem Umfang erbracht werden kann und stark von der jeweiligen Lebenssituation abhängt. Nur der Betroffene weiß, welcher konkrete und unaufschiebbare Bedarf besteht. Nur er kann entscheiden, ob er bereit ist, etwa Lebensmittelgutscheine einzulösen und sich damit Dritten als sanktionierter Leistungsempfänger zu offenbaren. Auch ergänzende Leistungen muss sich ein Hilfebedürftiger nicht aufdrängen lassen (vgl. BayLSG, Urteil vom 17.07.2012, L 7 AS 464/11, in dem auch deswegen eine von der Sanktion getrennte Entscheidung über ergänzende Leistungen für rechtmäßig erachtet wurde). Dies braucht hier nicht abschließend entschieden werden, weil der Sanktionsbescheid deutlich macht, dass der Antragsteller jederzeit angemessene ergänzende Leistungen erhalten kann, wenn er sich deswegen an den Antragsgegner wendet. Dieses Mindestmaß an Mitwirkung ist in jedem Fall zu fordern. Die Behörde muss nicht etwa unaufgefordert Lebensmittelgutscheine gewähren und zusenden.

Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen hinsichtlich den Regelungen zum vollständigen Wegfall existenzsichernder Leistungen nicht, weil angemessene ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen möglich sind und auch bei derartigen Sanktionen eine Übernahme von Mietschulden nach § 22 Abs. 8 SGB II möglich ist.

2. Einstweilige Anordnung

Eine einstweilige Anordnung kann schon deswegen nicht ergehen, weil die Klage gegen den Sanktionsbescheid keine aufschiebende Wirkung entfaltet.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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