S 20 AY 2/13 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 AY 2/13 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 20 AY 39/13 BER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig, längstens bis zu einer gesetzlichen Neuregelung des Asylbewerberleistungsrechts entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts im Urteil vom 18.07.2012, ab 08.02.2013 monatlich Grundleistungen in Höhe von 354,00 EUR abzüglich einer Energiekostenpauschale von 29,70 EUR zuzüglich 105,39 EUR für Kosten der Unterkunft abzüglich 35,00 EUR für Restschuldtilgung, insgesamt 394,69 EUR zu gewähren ...

Die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragsstellers trägt die Antragsgegenerin.

Gründe:

Der Antragsteller (Ast.) begehrt im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes höhere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

Der am 00.00.0000 geborene Ast. ist pakistanischer Staatsangehöriger. Er lebt seit 2007 im Deutschland und bezieht seither Leistungen nach dem AsylbLG, seit September 2007 von der Antragsgegnerin (Ag.). Nach dem Abschluss des Asylverfahrens beruht sein aufenthaltsrechtlicher Status auf einer Duldung. Seit Mai 2012 kürzte die Ag. die Leistungen des Ast. unter Hinweis auf § 1a AsylbLG; seitdem bewilligte die Ag. dem Ast. monatlich nur noch Grundleistungen nach § 3 Abs. 2 AsylbLG in Höhe von 184,07 EUR abzüglich einer Energiekostenpauschale von 20,45 EUR zuzüglich Kosten der Unterkunft in Höhe von 105,39 EUR; von diesem insgesamt 269,01 EUR wurden – aufgrund schriftlich erklärtem Einverständnis des Ast. – monatlich 35 EUR zur Tilgung einer vom Ast. verschuldeten Leistungsüberzahlung einbehalten, sodass der Zahlbetrag 234,01 EUR betrug. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) erhöhte die Ag. die Grundleistungsbetrag auf 212 EUR; der Abzugsbetrag für die Energiekostenpauschalen betrug seitdem 29,04 EUR. Der Ast. legte gegen die Leistungskürzung Widerspruch ein, über den bis heute nicht entschieden ist. Seit Januar 2013 setzt sich die Leistung für den Ast. wie folgt zusammen (vgl. Bewilligungsbescheid vom 23.01.2013):
Leistung nach § 3 Abs. 2 AsylbLG 217,00 EUR
abzgl. Energiekostenpauschale 29,70 EUR
zzgl. Kosten der Unterkunft 105,39 EUR
abzgl. Restschuldtilgung 35,00 EUR
257,69 EUR

Am 08.02.2013 hat der Ast. den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel, die Ag. zur Zahlung von Leistungen nach dem AsylbLG in Höhe der nach der vom BVerfG getroffenen Übergangsregelung zu verpflichten. Er beziffert seinen monatlichen Grundleistungsanspruch ab 2013 auf 354 EUR abzüglich der Energiekostenpauschale zuzüglich der Kosten der Unterkunft. Das BVerfG habe im Urteil vom 18.07.2012 festgestellt, dass Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) ein menschenwürdiges Existenzminimum als einheitliches, das physische und soziokulturelle Existenzminimum umfassende Grundrecht garantiere. Dieser Anspruch sei ab dem Beginn des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland in jedem Fall und zu jeder Zeit zu realisieren. Migrationspolitische Erwägungen könnten kein Absenken des Leistungsstandards unter das Existenzminimum rechtfertigen. Dies gelte auch für eine kurze Aufenthaltsdauer oder Aufenthaltsperspektive in Deutschland. Der Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum sei ein unverfügbares Menschenrecht, das durch einen Leistungsanspruch eingelöst werden und stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf decken müsse.

Der Antragsteller beantragt schriftsätzlich,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm monatlich Grundleistungen in Höhe der nach der Übergangsregelung des Bundesverfassungsgerichts festgelegten Höhe der Grundleistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Sie ist der Auffassung, auch nach dem Urteil des BVerfG vom 18.07.2012 berechtigt zu sein, dem Ast. reduzierte Leistungen nach § 1a Nr. 2 AsylbLG zu gewähren. Die Vorschrift des § 1a AsylbLG sei nicht Gegenstand des verfassungsgerichtlichen Verfahrens gewesen; die vom BVerfG angeführten Gründe, die zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit von § 3 AsylbLG geführt haben, führten nicht zu einer Einschränkung der grundsätzlichen Anwendbarkeit von § 1a AsylbLG. Die Ag. beruft sich für ihre Auffassung u.a. auf den Beschluss des Thüringer LSG vom 17.01.2013 (L 8 AY 1801/12 B ER).

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Ast. muss glaubhaft machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO), dass ihm ein Anspruch auf die geltend gemachte Leistung zusteht (Anordnungsanspruch) und dass das Abwarten einer gerichtlichen Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren für ihn mit unzumutbaren Nachteilen verbunden wäre (Anordnungsgrund). Einstweilige Anordnungen kommen grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Beseitigung einer gegenwärtigen Notlage dringend geboten ist.

Unter Beachtung dieser Grundsätze besteht für den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund.

Das BVerfG hat in der Entscheidung vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) festgestellt:
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§ 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 und § 3 Abs. 2 Satz 3 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 4 Nr. 2 AsylbLG sowie § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 und Nr. 3 sowie § 3 Abs. 2 Satz 3 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG, jeweils in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. August 1997 (BGBl I S. 2022), sind mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar.

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1. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG. Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG wiederum erteilt dem Gesetzgeber den Auftrag, ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern. Dem Gesetzgeber kommt ein Gestaltungsspielraum bei den unausweichlichen Wertungen zu, die mit der Bestimmung der Höhe dessen verbunden sind, was die physische und soziale Existenz eines Menschen sichert. Dieses Grundrecht ist dem Grunde nach unverfügbar und muss durch einen Leistungsanspruch eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen im Hinblick auf die konkreten Bedarfe der Betroffenen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu (vgl. BVerfGE 125, 175 (222) m.w.N.).
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a) Art. 1 Abs. 1 GG erklärt die Würde des Menschen für unantastbar und verpflichtet alle staatliche Gewalt, sie zu achten und zu schützen. Wenn Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil sie weder aus einer Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter zu erlangen sind, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen (vgl. BVerfGE 125, 175 (222)). Als Menschenrecht steht dieses Grundrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu. Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein individueller Leistungsanspruch, da das Grundrecht die Würde jedes einzelnen Menschen schützt (vgl. BVerfGE 87, 209 (228)) und sie in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann (vgl. BVerfGE 125, 175 (222 f.)).
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b) Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Er gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit, als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst, denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen (vgl. BVerfGE 125, 175 (223) m.w.N.).
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c) Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein. Dies verlangt bereits unmittelbar der Schutzgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG. Ein Hilfebedürftiger darf nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden, deren Erbringung nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet ist. Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt. Wenn der Gesetzgeber seiner verfassungsmäßigen Pflicht zur Bestimmung des Existenzminimums nicht hinreichend nachkommt, ist das einfache Recht im Umfang seiner defizitären Gestaltung verfassungswidrig (vgl. BVerfGE 125, 175 (223 f.)).
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d) Der Leistungsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG ist dem Grunde nach von der Verfassung vorgegeben. Sein Umfang kann jedoch nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden. Er hängt von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation der Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab und ist danach vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen (vgl. BVerfGE 125, 175 (224)).
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Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG hält den Gesetzgeber an, die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums zu erfassen. Die hierbei erforderlichen Wertungen kommen dem parlamentarischen Gesetzgeber zu. Ihm obliegt es, den Leistungsanspruch in Tatbestand und Rechtsfolge zu konkretisieren. Ob er das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichert, bleibt grundsätzlich ihm überlassen. Ihm kommt zudem Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums zu. Dieser Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen umfasst die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie die wertende Einschätzung des notwendigen Bedarfs und ist zudem von unterschiedlicher Weite: Er ist enger, soweit der Gesetzgeber das zur Sicherung der physischen Existenz eines Menschen Notwendige konkretisiert, und weiter, wo es um Art und Umfang der Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geht (vgl. BVerfGE 125, 175 (224 f.)). Entscheidend ist, dass der Gesetzgeber seine Entscheidung an den konkreten Bedarfen der Hilfebedürftigen ausrichtet. Maßgeblich für die Bestimmung des Existenzminimums können dabei nur die Gegebenheiten in Deutschland sein, dem Land, in dem dieses Existenzminimum gewährleistet sein muss. Daher erlaubt es die Verfassung nicht, das in Deutschland zu einem menschenwürdigen Leben Notwendige unter Hinweis auf das Existenzniveau des Herkunftslandes von Hilfebedürftigen oder auf das Existenzniveau in anderen Ländern niedriger als nach den hiesigen Lebensverhältnissen geboten festzulegen.
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Nach diesen Grundsätzen genügen die vorgelegten Vorschriften den Vorgaben von Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG nicht. Die vorgelegten Regelungen sind jedenfalls evident unzureichend, um das menschenwürdige Existenzminimum zu gewährleisten. Zudem ist die Leistungshöhe weder nachvollziehbar berechnet worden noch ist eine realitätsgerechte, auf Bedarfe orientierte und insofern aktuell existenzsichernde Berechnung ersichtlich.
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1. Die hier verfahrensgegenständlichen Geldleistungen nach § 3 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 4 AsylbLG sind evident unzureichend.
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2. Die Grundleistungen nach § 3 Abs. 2 Satz 2 und § 3 Abs. 2 Satz 3 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 4 AsylbLG sind außerdem nicht realitätsgerecht und begründbar bemessen. Sie sind nicht in einem inhaltlich transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf bemessen; der Bestimmung der Leistungshöhe für die Geldleistungen lagen damals und liegen auch heute keine verlässlichen Daten zugrunde. Die Gesetzgebung hat sich damals auf eine bloße Kostenschätzung gestützt. Das steht mit den Anforderungen des Grundgesetzes an die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz nicht in Einklang (vgl. BVerfGE 125, 175 (226)).
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a) Den Gesetzesmaterialien (BTDrucks 12/4451 und 12/5008) zum Gesetz zur Neuregelung der Leistungen an Asylbewerber vom 30. Juni 1993 (BGBl I S. 1074) lassen sich keine Hinweise auf ein Bemessungsverfahren zur Bestimmung der Geldleistungen entnehmen. Im Rahmen der Gesetzgebung ist insbesondere für minderjährige Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nicht ermittelt worden, welche besonderen kinder- und altersspezifischen Bedarfe bestehen (vgl. BVerfGE 125, 175 (245 ff.)). Die Materialien weisen lediglich die Beträge aus, die - nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung - ausreichen sollen, um einen unterstellten Bedarf zu decken (vgl. BTDrucks 12/4451, S. 8 zu § 2). Auch sonst sind belastbare Bemessungsgrundlagen nicht erkennbar geworden. Dies genügt nicht den in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 umschriebenen Anforderungen an eine inhaltlich transparente, sachgerechte und realitätsnahe Ermittlung der existenznotwendigen Aufwendungen (vgl. BVerfGE 125, 175 (225) sowie oben unter C I 1).
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b) Ohne hinreichend verlässliche Grundlage bleibt auch die dem Gesetz ersichtlich zugrunde liegende Annahme, dass eine kurze Aufenthaltsdauer die begrenzte Leistungshöhe rechtfertigt. Weder dem Asylbewerberleistungsgesetz noch den Gesetzesmaterialien oder den Stellungnahmen zu diesem Verfahren lassen sich Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass sich die Aufenthaltsdauer konkret auf existenzsichernde Bedarfe auswirkt und inwiefern dies die gesetzlich festgestellte Höhe der Geldleistungen tragen könnte. Es liegt auch kein plausibler Beleg dafür vor, dass die vom Asylbewerberleistungsgesetz erfassten Leistungsberechtigten sich typischerweise nur für kurze Zeit in Deutschland aufhalten.
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aa) Der Anwendungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetzes ist seit 1993 mehrfach erweitert worden und umfasst heute Menschen mit einem sehr unterschiedlichen Aufenthaltsstatus (oben A I 2). Dieses Regelungskonzept geht davon aus, dass dies ein kurzfristiger und vorübergehender Aufenthalt sei (vgl. BTDrucks 13/2746, S. 11 und 13/3475, S. 2). Das wird jedoch der tatsächlichen Situation nicht gerecht. Der überwiegende Teil der Personen, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, hält sich bereits länger als sechs Jahre in Deutschland auf (vgl. BTDrucks 17/642). Es liegen zwar keine Daten dazu vor, wie viele Personen aus einem ungesicherten Aufenthaltsstatus in ein gesichertes Aufenthaltsrecht wechseln und ebenso wenig dazu, wie viele binnen kurzer Zeit freiwillig das Land verlassen. Die Möglichkeit der Aufenthaltsverfestigung räumt der Gesetzgeber jedoch im Aufenthaltsrecht ausdrücklich ein. Unklar ist zudem, wie viele Menschen, wie die Klägerin im Ausgangsverfahren 1 BvL 2/11, die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben. Die im Asylbewerberleistungsgesetz in der Festlegung des Kreises der Berechtigten in § 1 AsylbLG angelegte Vermutung, sie alle hielten sich nur kurzzeitig in Deutschland auf, ist vor diesem Hintergrund jedenfalls erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. Selbst wenn die Prognose für die Anfangszeit des Aufenthalts der Betroffenen noch aus dem Aufenthaltsstatus abgeleitet werden könnte, ist es jedenfalls für die in § 2 Abs. 1 AsylbLG vorgesehene Dauer von mittlerweile vier Jahren des Leistungsbezugs und folglich einem eventuell auch längeren Aufenthalt nicht mehr gerechtfertigt, von einem nur kurzen Aufenthalt mit möglicherweise spezifisch niedrigem Bedarf auszugehen.
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bb) Auch eine kurze Aufenthaltsdauer oder Aufenthaltsperspektive in Deutschland rechtfertigte es im Übrigen nicht, den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf die Sicherung der physischen Existenz zu beschränken. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss (vgl. BVerfGE 125, 175 (253)). Art. 1 Abs. 1 GG garantiert ein menschenwürdiges Existenzminimum, das durch im Sozialstaat des Art. 20 Abs. 1 GG auszugestaltende Leistungen zu sichern ist, als einheitliches, das physische und soziokulturelle Minimum umfassendes Grundrecht. Ausländische Staatsangehörige verlieren den Geltungsanspruch als soziale Individuen nicht dadurch, dass sie ihre Heimat verlassen und sich in der Bundesrepublik Deutschland nicht auf Dauer aufhalten (vgl. Rothkegel, ZAR 2010, S. 373 (374)). Die einheitlich zu verstehende menschenwürdige Existenz muss daher ab Beginn des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland realisiert werden.

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c) Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie und Senioren (13. Ausschuss) vom 24. Mai 1993, BTDrucks 12/5008, S. 13 f.). Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren
II.
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Im Hinblick auf die gesetzlich festgesetzten, jedoch evident unzureichenden Geldleistungsbeträge ist eine Übergangsregelung durch das Bundesverfassungsgericht geboten
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5. Die Übergangsregelung gilt, bis eine Neuregelung in Kraft tritt. Solange keine Neuermittlung nach § 28 SGB XII erfolgt, werden die Werte und Geldbeträge gemäß § 7 RBEG entsprechend der Veränderungsrate des Mischindexes nach § 138 in Verbindung mit § 28a SGB XII fortgeschrieben.

Der Ast. hat einen Anspruch auf Gewährung existenzsichernder Leistungen nach dem AsylbLG in der Höhe, wie sie das BVerfG in seiner Entscheidung vom 18.07.2012 im Rahmen einer Übergangsregelung bis zur Beseitigung der als verfassungswidrig festgestellten Gesetzeslage bestimmt hat. Die genannte Übergangsregelung legt vorläufig mit Gesetzeskraft das Existenzminimum fest. Dieses darf in keinem Fall – auch nicht durch eine Leistungseinschränkung nach § 1a AsylbLG – unterschritten werden. Auf das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 1a AsylbLG kommt es nicht an (so auch: SG Altenburg, Beschluss vom 11.10.2012 – S 21 AY 3362/12 ER; SG Düsseldorf, Beschluss vom 19.11.2012 – S 17 AY 81/12 ER; SG Lüneburg, Beschluss vom 13.12.2012 – S 26 AY 26/12 ER; SG Leipzig, Beschluss vom 20.12.2012 – S 5 AY 55/12 ER; SG Magdeburg, Beschluss vom 24.01.2013 – S 22 AY 25/12 ER; SG Stade, Beschluss vom 28.01.2013 – S 19 AY 59/12). Wird § 1a AsylbLG nach den vom BVerfG gesetzten Maßstäben angewendet, so ist der dort verwandte Begriff der "im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar gebotenen Leistungen" verfassungskonform so auszulegen ist, dass Leistungsberechtigte selbst bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Absenkung der Leistungen das verfassungsrechtlich gesicherte Existenzminimum erhalten bleiben muss. Solange der Gesetzgeber nicht tätig wird, richten sich Art und Umfang des nach dem GG nicht zu unterschreitenden Existenzminimums für Leistungsberechtigte im Sinne des § 1 AsylbLG nach der genannten Übergangsregelung des BVerfG. Die "unabweisbar gebotenen" Leistungen fallen mit dem so umschriebenen Existenzminimum zusammen (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 06.02.2013 – L 15 AY 2/13 B ER). Dieser Auffassung schließt sich die Kammer an. Der vom Thüringer LSG (Beschluss vom 17.02.2013 – L 8 AY 1801/12 B ER) erhobene Einwand, eine verfassungskonforme Auslegung des § 1a AsylbLG in dem Sinne, dass "unabweisbar gebotene Leistungen" nicht unter dem vom BVerfG festgestellte Existenzminimum liegen könnten, schaffe diese Vorschrift faktisch ab, ist zutreffend; jedoch ist eine solche normeinschränkende verfassungskonforme Auslegung, wie sie das LSG Berlin-Brandenburg (a.a.O.) vornimmt, im Hinblick auf die dargestellten Gründe des BVerfG in der Entscheidung vom 18.07.2012 geradezu geboten.

Das Ministerium für Inneres und Kommunales Nordrhein-Westfalen hat mit Schreiben vom 17.09.2012 Hinweise zur Durchführung des AsylbLG und zur Umsetzung des Urteils des BVerfG vom 18.07.2012 gegeben und dargelegt, welche monatlichen Leistungen 2012 in Anwendung der Übergangsregelung nach dem BVerfG-Urteils zu erbringen sind. Dies waren für alleinstehende Erwachsene – wie den Ast. – im Bereich der Grundleistungen monatlich 346 EUR; unter Berücksichtigung einer Steigerungsrate von 2,26 % entsprechend der Regelbedarfs-Fortschreibungsverordnung 2013 ergibt sich ab 01.01.2013 eine monatliche Grundleistung zur Sicherung des physischen und des soziokulturellen Existenzminimums in Höhe von (gerundet) 354 EUR; hiervon sind eine Energiepauschale von zurzeit 29,70 EUR abzuziehen und 105,39 EUR für Kosten der Unterkunft hinzuzurechnen. Unter Berücksichtigung der im Einvernehmen mit dem Ast. vorgenommenen Einbehaltung von 35 EUR zur Tilgung einer Restschuld, die sich im Januar 2013 noch auf 876 EUR belief, ergibt sich eine monatliche Gesamtleistung von 394,69 EUR, auf die der Ast. Anspruch hat. Dementsprechend ist die Ag. zur vorläufigen Leistung ab dem Datum des Eingangs des Eilantrags bei Gericht (08.02.2013) zu verpflichten.
Rechtskraft
Aus
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