Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
16
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 16 SO 289/10
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Der Begriff der angemessenen Beihilfe in § 65 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ist weit auszulegen. Darunter können auch angemessene Entgelte für einfache Pflegepersonen fallen, wenn die Einschaltung besonderer Pflegekräfte (Fachkräfte) nicht erforderlich oder nicht möglich ist (Anschluss an BSG, Urteil vom 11.12.2007 - B 8/9b SO 12/06 R).
2. Eine angemessene Beihilfe nach § 65 Abs. 1 Satz 1 SGB XII kommt auch bei Bezug von Pflegegeld nach dem SGB XI in Betracht. § 66 Abs. 4 SGB XII steht dem nicht entgegen.
Stichworte
Sozialhilfe – Hilfe zur Pflege – angemessene Beihilfe – Bezug von Pflegegeld
Vorschriften
§ 65 Abs. 1 SGB XII und § 66 Abs. 4 SGB XII
2. Eine angemessene Beihilfe nach § 65 Abs. 1 Satz 1 SGB XII kommt auch bei Bezug von Pflegegeld nach dem SGB XI in Betracht. § 66 Abs. 4 SGB XII steht dem nicht entgegen.
Stichworte
Sozialhilfe – Hilfe zur Pflege – angemessene Beihilfe – Bezug von Pflegegeld
Vorschriften
§ 65 Abs. 1 SGB XII und § 66 Abs. 4 SGB XII
Der Bescheid vom 11.08.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.10.2010 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, über den Anspruch des Klägers auf Hilfe zur Pflege unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt Hilfe zur Pflege nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) in Form einer angemessenen Beihilfe.
Der im Jahre 1968 geborene Kläger ist an Multipler Sklerose erkrankt. Mitte der 90er Jahre wurden neurologische Funktionsstörungen mit zunehmenden Koordinationsstörungen beim Laufen auffällig. Mittlerweile kann der Kläger seine Hände nur noch sehr unkoordiniert und seine Beine überhaupt nicht mehr bewegen, so dass er auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen ist. Bei den meisten Verrichtungen des täglichen Lebens und bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt der Kläger fremde Hilfe. Er lebt allein und wird in seiner Wohnung von einem Netzwerk nahestehender Personen versorgt, bestehend aus dem Vermieter-Ehepaar, einer Nachbarin und seiner Schwester.
Der Kläger beantragte am 30.12.1999 Hilfe zur Pflege nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) bei der Beklagten. Aufgrund seiner Erkrankung brauche er Hilfe von Außenstehenden, z.B. um die Wohnung zu reinigen, die Wäsche zu pflegen und einzukaufen. Wenn er das Haus verlasse, sei er auf eine Begleitung angewiesen.
Die Beklagte bewilligt dem Kläger mit Bescheid vom 12.04.2000 Hilfe zur Weiterführung des Haushalts nach dem BSHG i.H.v. 692,- DM pro Monat. Der Kläger habe einen Hilfebedarf von 11 Stunden pro Woche. Er zahle seinen Pflegekräften 15,- DM pro Stunde, so dass sich auf das Jahr (52 Wochen) berechnet eine Summe von 8.580,- DM ergebe. Der monatliche Hilfebedarf liege damit bei 715,- EUR (= 365,57 EUR). Der Eigenanteil des Klägers liege bei 23,- DM.
Mit Bescheid vom 29.05.2000 bewilligte der Rentenversicherungsträger dem Kläger eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit i.H.v. 1.551,- DM. Die Beklagte gewährte dem Kläger die Hilfe nach dem BSHG daraufhin ohne Eigenanteil.
Die Pflegekasse des Klägers bewilligte diesem mit Bescheid vom 27.09.2003 Pflegegeld nach der Pflegestufe I. Der Kläger teilte dies mit Schreiben vom 07.10.2003 der Beklagten mit. Diese sah keine Veranlassung, ihre Bewilligung aufzuheben.
Am 28.07.2010 führte die Beklagte einen Hausbesuch bei dem Kläger durch. Im Rahmen dieses Termins wurde dem Kläger mitgeteilt, dass die Leistungen nach dem BSHG aufgrund der Bewilligung des Pflegegeldes eingestellt werden müssten.
Die Beklagte stellt die Leistungen nach dem BSHG mit Bescheid vom 11.08.2010 ein, ohne dies zu begründen.
Der Kläger legte gegen den Bescheid mit Schreiben vom 14.08.2010 Widerspruch ein. Diesen begründete er damit, dass ihm zumindest der Differenzbetrag zwischen den BSHG-Leistungen i.H.v. 365,57 EUR und dem Pflegegeld i.H.v. 205,- EUR weiter gewährt werden müsse, zumal sich sein Gesundheitszustand zwischenzeitlich erheblich verschlechtert habe.
Der Kreis Herford wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 29.10.2010 zurück. Zur Begründung führte er aus, dass der Kläger keinen Anspruch auf Hilfe zur Pflege nach dem BSHG habe. Pflegegeld könne er nicht erhalten, da er dies bereits von der Pflegekasse beziehe. Andere Leistungen nach § 65 Abs. 1 SGB XII kämen ebenfalls nicht in Betracht, da hierfür kein Bedarf bestehe und er Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung beziehe.
Der Kläger hat am 26.11.2010 eine Klage erhoben. Diese begründet er damit, dass er weiterhin einen Anspruch auf Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII habe, da diese Leistungen durch den Bezug des Pflegegeldes nicht ausgeschlossen würden. Jedenfalls müsse die Beklagte das ihr eingeräumte Ermessen ordnungsgemäß ausüben, was bisher nicht ge-schehen sei.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 11.08.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.10.2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII in Form einer angemessenen Beihilfe zu gewähren,
hilfsweise den Bescheid vom 11.08.2010 in Gestalt des Widerspruchsbe-scheides vom 29.10.2010 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über den Anspruch des Klägers auf Hilfe zur Pflege unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte verteidigt die angefochtenen Bescheide, die sie für rechtmäßig hält. Da der Kläger Pflegegeld von der gesetzlichen Pflegeversicherung beziehe, könne er weder Pflegegeld, noch sonstige Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII beanspruchen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist teilweise begründet.
Der Hauptantrag des Klägers ist unbegründet, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII in Form einer angemessenen Beihilfe, da es sich dabei um eine Ermessensleistung handelt und eine Ermessenreduzierung auf null nicht eingetreten ist.
Im vorliegenden Verfahren kommt nur eine angemessene Beihilfe nach § 65 Abs. 1 Satz 1 SGB XII in Betracht. Pflegegeld nach § 64 SGB XII kann der Kläger nicht erhalten, da er dieses von der Pflegekasse bezieht und somit ein Anspruch nach § 66 Abs. 1 SGB XII ausgeschlossen ist. Nach dieser Vorschrift werden Leistungen nach § 64 SGB XII nicht erbracht, soweit Pflegebedürftige gleichartige Leistungen nach anderen Rechtsvorschriften erhalten.
Die Übernahme der angemessenen Kosten für eine besondere Pflegekraft nach § 65 Abs. 1 Satz 2 SGB XII kommt ebenfalls nicht in Betracht, da der Kläger keine besondere Pflegekraft beschäftigt. Es handelt sich dabei um eine erwerbsmäßig pflegende Person mit fachlicher Befähigung (z.B. Altenpflegerinnen und -pfleger, Krankenschwestern und -pfleger, etc., vgl. dazu Meßling, in jurisPK-SGB XII, 1. Aufl. 2010, § 65, Rn. 32).
Schließlich scheidet auch ein Anspruch auf Erstattung von angemessenen Aufwendungen der Pflegepersonen nach § 65 Abs. 1 Satz 1 SGB XII aus. Aufwendungen im Sinne der Vorschrift liegen nur vor, wenn der Pflegeperson tatsächlich Kosten entstehen, wie z.B. Fahrtkosten oder Kosten für Hygieneartikel. Die Zahlung einer festen Vergütung für die Pflegeperson fällt nicht darunter (vgl. Meßling, aaO, RdNr. 13). Gerade eine solche begehrt der Kläger jedoch.
Damit bleibt als mögliche Leistung der Hilfe zur Pflege nur die angemessene Beihilfe nach § 65 Abs. 1 Satz 1 SGB XII übrig. Wie sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt, handelt es sich dabei um eine Ermessensleistung (vgl. Meßling, aaO, RdNr. 27).
Das BSG hat eine Ermessensreduzierung auf null angenommen, wenn die Leistung nicht nur der von § 65 Abs 1 Satz 1 SGB XII erfassten Stabilisierung und Verbesserung der häuslichen Pflegesituation durch geeignete (zusätzliche) Unterstützungsmaßnahmen an Angehörige dient, sondern mit der Übernahme der Kosten für eine Pflegekraft die hauswirtschaftliche Versorgung an sich erst sichergestellt wird, weil eine unentgeltliche (einfache) Pflege nicht möglich ist. Es sei nämlich zu berücksichtigen, dass § 63 Satz 1 SGB XII eine vorrangige Verpflichtung des Sozialhilfeträgers enthalte, in Fallgestaltungen, in denen die (einfache) häusliche Pflege nach den Umständen des Einzelfalls ausreiche, (zunächst) selbst im Sinne einer Dienstleistung darauf hinzuwirken, dass eine unentgeltliche Pflege mit Ersatz der Aufwendungen nach § 65 Abs 1 Satz 1 SGB XII tatsächlich durchgeführt werden könne. Der Träger der Sozialhilfe solle also Maßnahmen der ambulanten Pflege nach Kräften fördern und Möglichkeiten häuslicher sowie ambulanter Pflege und Betreuung im Interesse des zu Pflegenden schaffen bzw. erhalten (vgl. BSG, Urteil vom 26.8.2008 - B 8/9b SO 18/07 R und Urteil vom 11.12.2007 - B 8/9b SO 12/06 R). Davon unterscheidet sich die Situation des Klägers, denn er hat sich selbst ein Netzwerk von Personen aufgebaut, die unentgeltlich für ihn tätig werden bzw. die er mit Hilfe des Pflegegeldes nach dem SGB XI vergütet. In einer solchen Konstellation stellt sich die Gewährung einer angemessenen Beihilfe nicht als einzig rechtmäßige Entscheidung dar, so dass das Ermessen der Beklagten nicht auf null reduziert ist.
Der Hilfsantrag des Klägers ist begründet, denn der Bescheid vom 11.08.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides 29.10.2010 erweist sich als rechtswidrig, da die Beklagte das in § 65 Abs. 1 Satz 1 SGB XII eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt hat. Nach dieser Vorschrift können Pflegebedürftigen im Sinne des 61 Abs. 1 SGB XII angemessene Beihilfen geleistet werden.
Der Begriff der angemessenen Beihilfe ist weit auszulegen. Es ist nicht notwendig, dass damit tatsächliche Aufwendungen abgegolten werden, sondern es soll ein finanzieller Anreiz für die Pflegeperson geschaffen werden (vgl. Meßling, aaO, Rn. 22). Nach der Rechtsprechung des BSG kommt auch ein Entgelt für eine unprofessionelle Haushaltshilfe in Betracht (vgl. BSG, Urteil vom 26.08.2008 - B 8/9b SO 18/07 R und Urteil vom 11.12.2007 - B 8/9b SO 12/06 R). Ziel der Regelung über die besondere Pflegekraft (§ 65 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 SGB XII) könne es nicht sein, den Begriff der Beihilfe in Satz 1 zu beschränken; sie wolle mithin nicht verbieten, angemessene Entgelte für einfache Pflegepersonen zu übernehmen, wenn die Einschaltung besonderer Pflegekräfte (Fachkräfte) nicht erforderlich oder nicht möglich sei. Dieser Rechtsprechung zufolge können als Beihilfe daher auch Vergütungen von einfachen Pflegekräften (z.B. Nachbarn oder auch Verwandten) über-nommen werden, wenn und soweit die vereinbarte Vergütung angemessen ist und Personen aus dem häuslichen Umfeld nur so für Pflege gewonnen werden können. Die Beihilfe kann als Pauschale gewährt werden (vgl. Meßling, aaO, RdNr. 23). Auf der Tatbestandseite setzt die Vorschrift lediglich voraus, dass es sich bei dem Anspruchsteller um einen Pflegebedürftigen i.S.v. § 61 Abs. 1 SGB XII handelt. Dieses Erfordernis erfüllt der Kläger unstreitig.
Die Leistung wird auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Kläger Pflegegeld von seiner Pflegekasse bezieht. Nach § 66 Abs. 4 SGB XII werden Leistungen nach § 65 Abs. 1 SGB XII insoweit nicht erbracht, als Pflegebedürftige in der Lage sind, zweckentsprechende Leistungen nach anderen Rechtsvorschriften in Anspruch zu nehmen. Diese Vorschrift ist nicht so zu verstehen, dass bei Bezug von Pflegegeld nach dem SGB XI keine angemes-senen Beihilfen nach dem SGB XII mehr gewährt werden können. Eine Entscheidung des BSG zu dieser Frage liegt nicht vor, da das Verfahren B 8 SO 4/09 R durch ein Anerkenntnis der Beklagten geendet ist (vgl. Terminsbericht des BSG vom 16.12.2010). Daraus wird der Schluss gezogen, dass bei Wahl des Pflegegeldes nach SGB XI statt der Pflegesachleistung nach SGB XI zwar die Regelung des § 66 Abs. 4 Satz 1 SGB XII zur Anwendung komme, ergänzende Leistungen nach § 65 Abs. 1 Satz 1 oder Satz 2 SGB XII jedoch weiterhin möglich seien (vgl. Meßling, in jurisPK-SGB XII, 1. Aufl. 2010, § 66, RdNr. 37.1). Dafür spreche der Wortlaut der Vorschrift ("Leistungen werden insoweit nicht erbracht"). Es sei dann durch den Sozialhilfeträger zu prüfen, welche Sachleistung - fiktiv - zu erbringen und mit welchem Wert diese zu veranschlagen wäre, um dann ausgehend von diesem fiktiven Betrag die Aufstockungsleistungen zu errechnen. Die dadurch für den Sozialhilfeträger im Einzelfall entstehenden schwierigen Ermittlungen seien als regelungsimmanent hinzunehmen. Dies bedeutet, dass dem Leistungsberechtigten sein Wahlrecht zwischen den verschiedenen Leistungen des SGB XI auch dann erhalten bleibt, wenn er den Bedarf nicht durch das Pflegegeld von der Pflegekasse decken kann. Es ist in einer solchen Konstellation nicht verpflichtet, die Sachleistungen nach dem SGB XI und ergänzende Leistungen nach § 65 Abs. 1 Satz 2 SGB XII für professionelle Pflegekräfte in Anspruch zu nehmen, sondern kann sich weiter durch unprofessionelle Pflegekräfte pflegen lassen. So liegt auch der Fall des Klägers, der sich ein Netzwerk von nahestehenden Personen aufgebaut hat, um seine Pflege sicherzustellen. Dieses kann der Sozialhilfeträger trotz des Bezuges von Pflegegeld durch angemessene Beihilfen nach § 65 Abs. 1 Satz 1 SGB XII unterstützten. Das würde dann im Falle des Klägers insgesamt zu einer Leistung zwischen der Pflegestufe 1 und der Pflegestufe 2 führen ("Pflegestufe 1,5").
Die Beklagte wird dem Kläger einen neuen Bescheid erteilen und dabei das in § 65 Abs. 1 Satz 1 SGB XII eingeräumte Ermessen ausüben müssen. Dabei wird sie insbesondere berücksichtigen müssen, dass bei der erstmaligen Bewilligung der Leistungen nach dem BSHG im Jahr 2000 ein monatlicher Bedarf des Klägers für die Vergütung der unprofessionellen Pflegekräfte von 365,57 EUR ermittelt worden ist, der durch das Pflegegeld nach der Pflegestufe 1 nicht abgedeckt wird. Sollte der Bedarf auch im Jahre 2010 noch in dieser Form bestanden haben, dürfte dies bei der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen sein.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Da der Kläger nur mit seinem Hilfsantrag erfolgreich war, ist ihm lediglich die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt Hilfe zur Pflege nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) in Form einer angemessenen Beihilfe.
Der im Jahre 1968 geborene Kläger ist an Multipler Sklerose erkrankt. Mitte der 90er Jahre wurden neurologische Funktionsstörungen mit zunehmenden Koordinationsstörungen beim Laufen auffällig. Mittlerweile kann der Kläger seine Hände nur noch sehr unkoordiniert und seine Beine überhaupt nicht mehr bewegen, so dass er auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen ist. Bei den meisten Verrichtungen des täglichen Lebens und bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt der Kläger fremde Hilfe. Er lebt allein und wird in seiner Wohnung von einem Netzwerk nahestehender Personen versorgt, bestehend aus dem Vermieter-Ehepaar, einer Nachbarin und seiner Schwester.
Der Kläger beantragte am 30.12.1999 Hilfe zur Pflege nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) bei der Beklagten. Aufgrund seiner Erkrankung brauche er Hilfe von Außenstehenden, z.B. um die Wohnung zu reinigen, die Wäsche zu pflegen und einzukaufen. Wenn er das Haus verlasse, sei er auf eine Begleitung angewiesen.
Die Beklagte bewilligt dem Kläger mit Bescheid vom 12.04.2000 Hilfe zur Weiterführung des Haushalts nach dem BSHG i.H.v. 692,- DM pro Monat. Der Kläger habe einen Hilfebedarf von 11 Stunden pro Woche. Er zahle seinen Pflegekräften 15,- DM pro Stunde, so dass sich auf das Jahr (52 Wochen) berechnet eine Summe von 8.580,- DM ergebe. Der monatliche Hilfebedarf liege damit bei 715,- EUR (= 365,57 EUR). Der Eigenanteil des Klägers liege bei 23,- DM.
Mit Bescheid vom 29.05.2000 bewilligte der Rentenversicherungsträger dem Kläger eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit i.H.v. 1.551,- DM. Die Beklagte gewährte dem Kläger die Hilfe nach dem BSHG daraufhin ohne Eigenanteil.
Die Pflegekasse des Klägers bewilligte diesem mit Bescheid vom 27.09.2003 Pflegegeld nach der Pflegestufe I. Der Kläger teilte dies mit Schreiben vom 07.10.2003 der Beklagten mit. Diese sah keine Veranlassung, ihre Bewilligung aufzuheben.
Am 28.07.2010 führte die Beklagte einen Hausbesuch bei dem Kläger durch. Im Rahmen dieses Termins wurde dem Kläger mitgeteilt, dass die Leistungen nach dem BSHG aufgrund der Bewilligung des Pflegegeldes eingestellt werden müssten.
Die Beklagte stellt die Leistungen nach dem BSHG mit Bescheid vom 11.08.2010 ein, ohne dies zu begründen.
Der Kläger legte gegen den Bescheid mit Schreiben vom 14.08.2010 Widerspruch ein. Diesen begründete er damit, dass ihm zumindest der Differenzbetrag zwischen den BSHG-Leistungen i.H.v. 365,57 EUR und dem Pflegegeld i.H.v. 205,- EUR weiter gewährt werden müsse, zumal sich sein Gesundheitszustand zwischenzeitlich erheblich verschlechtert habe.
Der Kreis Herford wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 29.10.2010 zurück. Zur Begründung führte er aus, dass der Kläger keinen Anspruch auf Hilfe zur Pflege nach dem BSHG habe. Pflegegeld könne er nicht erhalten, da er dies bereits von der Pflegekasse beziehe. Andere Leistungen nach § 65 Abs. 1 SGB XII kämen ebenfalls nicht in Betracht, da hierfür kein Bedarf bestehe und er Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung beziehe.
Der Kläger hat am 26.11.2010 eine Klage erhoben. Diese begründet er damit, dass er weiterhin einen Anspruch auf Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII habe, da diese Leistungen durch den Bezug des Pflegegeldes nicht ausgeschlossen würden. Jedenfalls müsse die Beklagte das ihr eingeräumte Ermessen ordnungsgemäß ausüben, was bisher nicht ge-schehen sei.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 11.08.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.10.2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII in Form einer angemessenen Beihilfe zu gewähren,
hilfsweise den Bescheid vom 11.08.2010 in Gestalt des Widerspruchsbe-scheides vom 29.10.2010 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über den Anspruch des Klägers auf Hilfe zur Pflege unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte verteidigt die angefochtenen Bescheide, die sie für rechtmäßig hält. Da der Kläger Pflegegeld von der gesetzlichen Pflegeversicherung beziehe, könne er weder Pflegegeld, noch sonstige Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII beanspruchen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist teilweise begründet.
Der Hauptantrag des Klägers ist unbegründet, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII in Form einer angemessenen Beihilfe, da es sich dabei um eine Ermessensleistung handelt und eine Ermessenreduzierung auf null nicht eingetreten ist.
Im vorliegenden Verfahren kommt nur eine angemessene Beihilfe nach § 65 Abs. 1 Satz 1 SGB XII in Betracht. Pflegegeld nach § 64 SGB XII kann der Kläger nicht erhalten, da er dieses von der Pflegekasse bezieht und somit ein Anspruch nach § 66 Abs. 1 SGB XII ausgeschlossen ist. Nach dieser Vorschrift werden Leistungen nach § 64 SGB XII nicht erbracht, soweit Pflegebedürftige gleichartige Leistungen nach anderen Rechtsvorschriften erhalten.
Die Übernahme der angemessenen Kosten für eine besondere Pflegekraft nach § 65 Abs. 1 Satz 2 SGB XII kommt ebenfalls nicht in Betracht, da der Kläger keine besondere Pflegekraft beschäftigt. Es handelt sich dabei um eine erwerbsmäßig pflegende Person mit fachlicher Befähigung (z.B. Altenpflegerinnen und -pfleger, Krankenschwestern und -pfleger, etc., vgl. dazu Meßling, in jurisPK-SGB XII, 1. Aufl. 2010, § 65, Rn. 32).
Schließlich scheidet auch ein Anspruch auf Erstattung von angemessenen Aufwendungen der Pflegepersonen nach § 65 Abs. 1 Satz 1 SGB XII aus. Aufwendungen im Sinne der Vorschrift liegen nur vor, wenn der Pflegeperson tatsächlich Kosten entstehen, wie z.B. Fahrtkosten oder Kosten für Hygieneartikel. Die Zahlung einer festen Vergütung für die Pflegeperson fällt nicht darunter (vgl. Meßling, aaO, RdNr. 13). Gerade eine solche begehrt der Kläger jedoch.
Damit bleibt als mögliche Leistung der Hilfe zur Pflege nur die angemessene Beihilfe nach § 65 Abs. 1 Satz 1 SGB XII übrig. Wie sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt, handelt es sich dabei um eine Ermessensleistung (vgl. Meßling, aaO, RdNr. 27).
Das BSG hat eine Ermessensreduzierung auf null angenommen, wenn die Leistung nicht nur der von § 65 Abs 1 Satz 1 SGB XII erfassten Stabilisierung und Verbesserung der häuslichen Pflegesituation durch geeignete (zusätzliche) Unterstützungsmaßnahmen an Angehörige dient, sondern mit der Übernahme der Kosten für eine Pflegekraft die hauswirtschaftliche Versorgung an sich erst sichergestellt wird, weil eine unentgeltliche (einfache) Pflege nicht möglich ist. Es sei nämlich zu berücksichtigen, dass § 63 Satz 1 SGB XII eine vorrangige Verpflichtung des Sozialhilfeträgers enthalte, in Fallgestaltungen, in denen die (einfache) häusliche Pflege nach den Umständen des Einzelfalls ausreiche, (zunächst) selbst im Sinne einer Dienstleistung darauf hinzuwirken, dass eine unentgeltliche Pflege mit Ersatz der Aufwendungen nach § 65 Abs 1 Satz 1 SGB XII tatsächlich durchgeführt werden könne. Der Träger der Sozialhilfe solle also Maßnahmen der ambulanten Pflege nach Kräften fördern und Möglichkeiten häuslicher sowie ambulanter Pflege und Betreuung im Interesse des zu Pflegenden schaffen bzw. erhalten (vgl. BSG, Urteil vom 26.8.2008 - B 8/9b SO 18/07 R und Urteil vom 11.12.2007 - B 8/9b SO 12/06 R). Davon unterscheidet sich die Situation des Klägers, denn er hat sich selbst ein Netzwerk von Personen aufgebaut, die unentgeltlich für ihn tätig werden bzw. die er mit Hilfe des Pflegegeldes nach dem SGB XI vergütet. In einer solchen Konstellation stellt sich die Gewährung einer angemessenen Beihilfe nicht als einzig rechtmäßige Entscheidung dar, so dass das Ermessen der Beklagten nicht auf null reduziert ist.
Der Hilfsantrag des Klägers ist begründet, denn der Bescheid vom 11.08.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides 29.10.2010 erweist sich als rechtswidrig, da die Beklagte das in § 65 Abs. 1 Satz 1 SGB XII eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt hat. Nach dieser Vorschrift können Pflegebedürftigen im Sinne des 61 Abs. 1 SGB XII angemessene Beihilfen geleistet werden.
Der Begriff der angemessenen Beihilfe ist weit auszulegen. Es ist nicht notwendig, dass damit tatsächliche Aufwendungen abgegolten werden, sondern es soll ein finanzieller Anreiz für die Pflegeperson geschaffen werden (vgl. Meßling, aaO, Rn. 22). Nach der Rechtsprechung des BSG kommt auch ein Entgelt für eine unprofessionelle Haushaltshilfe in Betracht (vgl. BSG, Urteil vom 26.08.2008 - B 8/9b SO 18/07 R und Urteil vom 11.12.2007 - B 8/9b SO 12/06 R). Ziel der Regelung über die besondere Pflegekraft (§ 65 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 SGB XII) könne es nicht sein, den Begriff der Beihilfe in Satz 1 zu beschränken; sie wolle mithin nicht verbieten, angemessene Entgelte für einfache Pflegepersonen zu übernehmen, wenn die Einschaltung besonderer Pflegekräfte (Fachkräfte) nicht erforderlich oder nicht möglich sei. Dieser Rechtsprechung zufolge können als Beihilfe daher auch Vergütungen von einfachen Pflegekräften (z.B. Nachbarn oder auch Verwandten) über-nommen werden, wenn und soweit die vereinbarte Vergütung angemessen ist und Personen aus dem häuslichen Umfeld nur so für Pflege gewonnen werden können. Die Beihilfe kann als Pauschale gewährt werden (vgl. Meßling, aaO, RdNr. 23). Auf der Tatbestandseite setzt die Vorschrift lediglich voraus, dass es sich bei dem Anspruchsteller um einen Pflegebedürftigen i.S.v. § 61 Abs. 1 SGB XII handelt. Dieses Erfordernis erfüllt der Kläger unstreitig.
Die Leistung wird auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Kläger Pflegegeld von seiner Pflegekasse bezieht. Nach § 66 Abs. 4 SGB XII werden Leistungen nach § 65 Abs. 1 SGB XII insoweit nicht erbracht, als Pflegebedürftige in der Lage sind, zweckentsprechende Leistungen nach anderen Rechtsvorschriften in Anspruch zu nehmen. Diese Vorschrift ist nicht so zu verstehen, dass bei Bezug von Pflegegeld nach dem SGB XI keine angemes-senen Beihilfen nach dem SGB XII mehr gewährt werden können. Eine Entscheidung des BSG zu dieser Frage liegt nicht vor, da das Verfahren B 8 SO 4/09 R durch ein Anerkenntnis der Beklagten geendet ist (vgl. Terminsbericht des BSG vom 16.12.2010). Daraus wird der Schluss gezogen, dass bei Wahl des Pflegegeldes nach SGB XI statt der Pflegesachleistung nach SGB XI zwar die Regelung des § 66 Abs. 4 Satz 1 SGB XII zur Anwendung komme, ergänzende Leistungen nach § 65 Abs. 1 Satz 1 oder Satz 2 SGB XII jedoch weiterhin möglich seien (vgl. Meßling, in jurisPK-SGB XII, 1. Aufl. 2010, § 66, RdNr. 37.1). Dafür spreche der Wortlaut der Vorschrift ("Leistungen werden insoweit nicht erbracht"). Es sei dann durch den Sozialhilfeträger zu prüfen, welche Sachleistung - fiktiv - zu erbringen und mit welchem Wert diese zu veranschlagen wäre, um dann ausgehend von diesem fiktiven Betrag die Aufstockungsleistungen zu errechnen. Die dadurch für den Sozialhilfeträger im Einzelfall entstehenden schwierigen Ermittlungen seien als regelungsimmanent hinzunehmen. Dies bedeutet, dass dem Leistungsberechtigten sein Wahlrecht zwischen den verschiedenen Leistungen des SGB XI auch dann erhalten bleibt, wenn er den Bedarf nicht durch das Pflegegeld von der Pflegekasse decken kann. Es ist in einer solchen Konstellation nicht verpflichtet, die Sachleistungen nach dem SGB XI und ergänzende Leistungen nach § 65 Abs. 1 Satz 2 SGB XII für professionelle Pflegekräfte in Anspruch zu nehmen, sondern kann sich weiter durch unprofessionelle Pflegekräfte pflegen lassen. So liegt auch der Fall des Klägers, der sich ein Netzwerk von nahestehenden Personen aufgebaut hat, um seine Pflege sicherzustellen. Dieses kann der Sozialhilfeträger trotz des Bezuges von Pflegegeld durch angemessene Beihilfen nach § 65 Abs. 1 Satz 1 SGB XII unterstützten. Das würde dann im Falle des Klägers insgesamt zu einer Leistung zwischen der Pflegestufe 1 und der Pflegestufe 2 führen ("Pflegestufe 1,5").
Die Beklagte wird dem Kläger einen neuen Bescheid erteilen und dabei das in § 65 Abs. 1 Satz 1 SGB XII eingeräumte Ermessen ausüben müssen. Dabei wird sie insbesondere berücksichtigen müssen, dass bei der erstmaligen Bewilligung der Leistungen nach dem BSHG im Jahr 2000 ein monatlicher Bedarf des Klägers für die Vergütung der unprofessionellen Pflegekräfte von 365,57 EUR ermittelt worden ist, der durch das Pflegegeld nach der Pflegestufe 1 nicht abgedeckt wird. Sollte der Bedarf auch im Jahre 2010 noch in dieser Form bestanden haben, dürfte dies bei der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen sein.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Da der Kläger nur mit seinem Hilfsantrag erfolgreich war, ist ihm lediglich die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
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