L 6 SB 695/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 6 SB 2981/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 695/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 11. Januar 2010 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten im Berufungsverfahren sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist zum wiederholten Male die Feststellung des Merkzeichens "erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr" (G) streitig.

Die 1955 geborene Klägerin beantragte nach Erlass der Widerspruchsbescheide vom 04.08.2006 bereits am 17.08.2006 die Neufeststellung ihres Grades der Behinderung (GdB) sowie die Feststellung des Merkzeichens G. Sie legte die Atteste des Urologen Dr. H. vom 09.10.2006 (Stressinkontinenz) und des Hautarztes Dr. L. vom 24.10.2006 (Lebensmittelunverträglichkeit) vor. Dr. F. berücksichtigte in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 16.01.2007 als Behinderungen eine seelische Störung, eine Migräne und psychovegetative Störungen mit einem Einzel-GdB von 40, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, einen Bandscheibenschaden und muskuläre Verspannungen mit einem Einzel-GdB von 30, eine Harninkontinenz mit einem Einzel-GdB von 20, eine Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen mit einem Einzel-GdB von 20, unregelmäßige Gesichtsausfälle rechts mit einem Einzel-GdB von 20, Geruchs- und Geschmacksstörungen mit einem Einzel-GdB von 20 sowie eine Allergie mit einem Einzel-GdB von 20, bewertete den Gesamt-GdB mit 80 und schlug die Feststellung von Merkzeichen nicht vor. Im Februar 2007 legte die Klägerin ein Attest des Dr. H. (Stressinkontinenz; die Klägerin habe eine ausgeprägte Pollakisurie entwickelt und könne nach ihren Angaben nur eine kurze Wegstrecke von etwa 500 Metern zu Fuß gehen, ohne einen starken, imperativen Harndrang zu verspüren; urologischerseits sei keine organische Veränderung der Harnorgane zu verzeichnen, so dass von einer neurologischen Ursache der Beschwerden ausgegangen werden müsse) vor. Dr. R. führte in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 15.03.2007 aus, eine neurogenbedingte Blasenentleerungsstörung sei unwahrscheinlich, da nervenärztlicherseits diesbezüglich keine Auffälligkeiten festgehalten seien. Die Unterbrechung des Weges allein zum Aufsuchen einer Toilette rechtfertige nicht das Merkzeichen G. Die Auswirkungen von Blasenentleerungsstörungen könnten durch Benutzung üblicher behinderungsgerechter Hygieneartikel gemindert werden. Vergleichsweise sei etwa bei Versorgung mit einer künstlichen Harnableitung nach außen und bei Urinalträgern die Voraussetzung für das Merkzeichen G nur dann gegeben, wenn kein ausreichender Verschluss des Urostomas beziehungsweise Urinals gelinge oder wenn das Gehen mit erheblichen Schmerzen, beispielsweise durch häufige entzündliche Hautveränderungen im Genitalbereich oder durch Bauchdecken- oder Narbenbrüche verbunden sei. Daraufhin stellte das Landratsamt Konstanz mit Bescheid vom 16.04.2007 den GdB mit 80 seit 01.04.2006 fest und lehnte mit Bescheid vom 17.04.2007 die Feststellung des Merkzeichens G ab.

Gegen den Bescheid vom 16.04.2007 legte die Klägerin am 14.05.2007 Widerspruch ein. Sie führte zur Begründung aus, eine künstliche Harnableitung verursache in der Regel entsprechende Ausdünstungen. Damit könne sie sich nicht in der Gesellschaft anderer Leute aufhalten. Das Tragen von Windeln sei ihr nicht zumutbar, da dabei die Gefahr, dass beim Gehen die Haut aufschürfe, gegeben sei. Dr. M.-K. hielt in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 27.08.2007 an der bisherigen Beurteilung fest. Mit Widerspruchsbescheid vom 27.09.2007 wies das Regierungspräsidium Stuttgart den Widerspruch zurück. Es vertrat die Ansicht, der Widerspruch richte sich auf das Merkzeichens G und führte zur Begründung der Ablehnung aus, die sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bedingten für sich allein keinen GdB von wenigstens 50. Auch wirke sich keine der an den Beinen und an der Lendenwirbelsäule festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen auf die Gehfähigkeit in besonderem Maße aus.

Hiergegen hat die Klägerin am 30.10.2007 Klage beim Sozialgericht Konstanz erhoben. Sie hat das Attest des Frauenarztes Dr. B. vom 24.08.2007 (Harninkontinenz; die Klägerin sei gezwungen, ständig Pampers für Erwachsene zu tragen, die bei ihr im Bereich der Vulva und der Innenseite der Oberschenkel eine ausgeprägte allergische Reaktion verursachten) vorgelegt.

Das Sozialgericht hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts Dr. H. im Februar 2008, den Neurologen, Psychiater und Psychotherapeuten Dr. Z. unter dem 01.02.2008 sowie den Allgemeinarzt Dr. Sch. unter dem 18.02.2008 schriftlich als sachverständige Zeugen gehört.

Dr. H. hat das bereits im Verwaltungsverfahren eingereichte Attest vorgelegt. Dr. Z. hat einen Bandscheibenvorfall C5/6 medial, eine depressive Störung, eine Hirnleistungsstörung, eine Migräne sowie eine somatoforme Störung diagnostiziert und die Voraussetzungen für das Merkzeichen G verneint. Dr. Sch. hat über die Behandlung eines Halswirbelsäulensyndroms und einer depressiven Symptomatik berichtet.

Dr. G. hat in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 07.03.2008 ausgeführt, sofern Dr. B. in Verbindung mit der ständigen Windelversorgung ausgeprägte allergische Reaktionen im Bereich der Vulva und der Innenseite der Oberschenkel beschrieben habe, so seien entsprechend stark ausgeprägte und anhaltende allergische oder entzündliche Veränderungen im Windelbereich, die die Zuerkennung des Merkzeichens G begründeten könnten, nach bisheriger Aktenlage nicht ausreichend belegt. Von Dr. H. sei das äußere Genitale ohne pathologischen Befund beschrieben worden.

Daraufhin hat die Klägerin die Atteste des Dr. B. vom 28.04.2008 (bei der Klägerin liege neben einer reaktiven Depression eine schwere Harninkontinenz mit häufigen Blasenentzündungen und Schmerzen vor, so dass sie nicht in der Lage sei, länger als 30 Minuten zu Fuß zu gehen, und eine Wegstrecke von 2 Kilometern wegen der Unterbauchschmerzen nicht zu schaffen sei; ferner habe sich bei der Klägerin inzwischen eine wahrscheinlich psychogene Atemnot eingestellt) und des Dr. H. vom 08.06.2008 (dauerhafte Blasenentleerungsstörung) vorgelegt. Dr. K. hat hierzu in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 01.09.2008 ausgeführt, bei einer Blasenentleerungsstörung sei die Benutzung der üblichen Hygieneartikel durchaus zumutbar. Eine Unterbrechung des Weges wegen des Aufsuchens einer Toilette stelle kein Kriterium für die Feststellung des Merkzeichens G dar.

Im Rahmen eines weiteren Neufeststellungsverfahrens (Antrag vom 19.06.2008) sind der Befundbericht des Dr. Z. vom 09.05.2008 (zunehmende depressive Symptomatik) und die Arztbriefe des Urologen Dr. B. vom 15.04.2009 (Harninkontinenz, rezidivierende Harnwegsinfektionen, Mikrohämaturie) sowie des Radiologen Dr. G. vom 12.02.2009 (ältere Fraktur bei L4/5 rechts im Bereich der Bogenwurzel) und 19.02.2009 (in Höhe L4/5 rechtsseitig fortgeschrittene Spondylarthrose) zu den Akten des Beklagten gelangt.

Das Sozialgericht hat von Amts wegen das Gutachten des Priv. Doz. Dr. S., Chefarzt der Klinik für Urologie und Kinderurologie des H.-B.-Klinikums S., vom 19.08.2009 eingeholt. Der Sachverständige hat eine neurogene Blasenentleerungsstörung mit urodynamischen Zeichen einer hypokapazitären und hypersensiblen Harnblase, die er mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet hat, diagnostiziert und ferner ausgeführt, eine hyperkontraktile Komponente, wie man sie sonst bei dem Krankheitsbild einer überaktiven Harnblase finde, habe in der urodynamischen Untersuchung nicht nachgewiesen werden können. Im Rahmen der vaginalen Untersuchung hat der Sachverständige keinen Anhaltspunkt für eine höhergradige Cysto- oder Rectozele oder für ein aktuell bestehendes allergisches Exanthem im Genital-, Leisten- und Oberschenkelbereich beidseits festgestellt. Der Sachverständige hat des Weiteren dargelegt, eine Einschränkung des Gehvermögens durch die bestehende Mischharninkontinenz sei prinzipiell nicht gegeben. Sie bestehe auch nicht in Form eines inneren Leidens, das zu einer schweren Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit führe. Vielmehr handele es sich um eine Beeinträchtigung, die bei den kurzen Miktionsintervallen von etwa 15 bis 20 Minuten zum häufigen Aufsuchen einer Toilette zwinge. In dieser Hinsicht würde die Klägerin durch die Anerkennung des Merkzeichens G aber nicht profitieren, da sich die Harndrangsymptomatik nicht mit der Art der Fortbewegung verändere. Ebenfalls müsse erwähnt werden, dass die Klägerin einen medikamentösen Therapieversuch, der zur Verbesserung der Miktionssymptomatik führen könne, abgelehnt habe. Diese Medikamente hätten nachweislich eine gute Tolerabilität und seien effektiv sowie sicher in der Anwendung.

Mit Gerichtsbescheid vom 11.01.2010 hat das Sozialgericht Konstanz die Klage nach vorangegangener Anhörung abgewiesen. Es hat zur Begründung ausgeführt, mit dem auf orthopädischem Fachgebiet vergebenen Einzel-GdB von 30 für die Wirbelsäulenveränderungen seien die Kriterien für das Merkzeichen G nicht gegeben. Angesichts des vergleichsweise geringen Einzel-GdB von 20 auf urologischem Fachgebiet sei der Schluss des Sachverständigen, dass sich hieraus keine Gehbehinderung ableiten lasse, nachvollziehbar.

Hiergegen hat die Klägerin am 11.02.2010 Berufung eingelegt. Sie hat zur Begründung ausgeführt, die Harninkontinenz behindere sie beim Gehen. Die Beschwerden hätten sich in den letzten Monaten noch verschlechtert. Die Inkontinenz werde außerdem psychosomatisch bedingt verstärkt. Ferner werde die Gehfähigkeit auch durch das Lendenwirbelsäulenleiden beeinträchtigt. Sie müsse ständig Vorlagen tragen, so dass es durch die Feuchtigkeit zu andauernden entzündlichen Hautveränderungen im gesamten Genitalbereich komme.

Die Klägerin hat die Atteste der Radiologen Dres. Z. und G. vom 31.08.2009 (Differentialdiagnose: stattgehabte ältere Fraktur bei L4/5 rechts im Bereich der Bogenwurzel), vom 31.08.2009 (auf Höhe L4/5 rechtsseitig fortgeschrittene Spondylarthrose) und vom 03.09.2009 (Bandscheibendegenerationen C3/4 und C4/5, kleiner Bandscheibenprolaps rechtsseitig medio-lateral C5/6, Bandscheibenprotrusio C6/7), des Dr. H. vom 16.03.2010 (die Beschwerden hätten sich verschlechtert), des Dr. Z. vom 16.03.2010 (schwere depressive Störung, Bandscheibenvorfall C5/6 medial, Hirnleistungsstörung, Migräne, somatoforme Störung) sowie des Dr. B. vom 18.03.2010 (die Klägerin leide unter einer depressiven Störung, Mitktionsstörungen und Pruritus vulvae) und vom 28.09.2010 (entzündliche Hautveränderung im gesamten Genitalbereich, die erhebliche Schmerzen beim Gehen verursache; Gehstrecke von nur weniger als 500 Metern möglich; Verschlimmerung der reaktiven Depression) vorgelegt.

Schließlich hat die Klägerin unter anderem den Arztbrief des Dr. B., Chefarzt der Chirurgischen Klinik des H.-B.-Klinikums, vom 21.04.2009 (Knick-Senk-Spreizfuß, Hallux valgus beidseits), das Attest des Dr. Z. vom 01.10.2010 (Verschlechterung des Gesundheitszustandes), den Bericht der Physiotherapeutin G. vom 15.09.2011, den Arztbrief der Radiologen Dres. Z. und G. vom 15.12.2011 (auf Höhe von L 4/5 rechtsseitig fortgeschrittene Spondylarthrose, am ehesten sekundär posttraumatisch mit exophytischen Ausziehungen sowohl nach intraspinal als auch nach dorsal) und das Attest des Dr. G. vom 19.12.2011 (auf Höhe von C3/4 rechts-betonte Protrusion, auf Höhe von C4/5 Protrusion, auf Höhe C5/6 knöchern abgestützter Vorfall mit foraminaler Einengung rechtsseitig und linksseitig, auf Höhe C6/7 linksseitige Einengung bei breitbasiger Protrusion, keine posttraumatische Syrinx, keine Myelopathie, Asymmetrie links sterno-clavikular mit Weichteilschwellung links tief cervikal supra-clavikulär) zu den Akten gereicht.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 11. Januar 2010 und den Bescheid des Beklagten vom 17. April 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. September 2007 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, das Merkzeichen "erhebliche Beeinträchtigung im Straßenverkehr" festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte hat die Ansicht vertreten, aus den vorgelegten ärztlichen Berichten ergebe sich nichts Neues. Dr. W. hat in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 15.11.2010 ausgeführt, bei dem vom Sachverständigen Priv. Doz. Dr. S. eingeschätzten Einzel-GdB von 20 für die Harninkontinenz sei eine Harninkontinenz mit den von Dr. B. geschilderten schweren Auswirkungen nicht hinreichend nachzuvollziehen. Sollte das Tragen von Vorlagen tatsächlich nicht ausreichen, um durch Feuchtigkeit bedingte entzündliche Hautveränderungen zu vermeiden, so wäre hier notfalls auch eine Abhilfe durch Tragen von Windelhosen mit entsprechender größerer Flüssigkeitskapazität möglich. Dies würde nicht gegen die Würde des Menschen verstoßen. Eine Funktionseinschränkung, vergleichbar mit einem nicht ausreichend verschließbaren Urinal, welche das Merkzeichen G bedingen könne, liege jedenfalls nicht in erkennbarer Weise vor.

Der Senat hat die im Rahmen auf die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfall- und Rentenversicherung angefallenen Akten beigezogen. Die Klägerin ist im Verfahren wegen Erwerbsminderung orthopädisch und nervenärztlich begutachtet worden (Gutachten des Orthopäden Dr. S. vom 06.07.2004 [Zustand nach Distorsion der Halswirbelsäule, Somatisierungsstörung], der Psychiaterin und Neurologin Dr. G. vom 28.04.2005 [Zustand nach Halswirbelsäulen-Schleudertrauma, somatoforme Schmerzstörungen bei Verdacht auf histrionische Persönlichkeitsstörung] und des Psychiaters und Neurologen Dr. M. vom 16.10.2006 [rezidivierende depressive Störung, chronische Somatisierungsstörung, histrionische Persönlichkeitsstörung]). In den Akten der Unfallkasse Baden-Württemberg ist das Gutachten des Dr. Z. vom 14.07.2005 (Bandscheibenvorfall C5/6 medial, depressive Störung, Migräne, somatoforme Störung) vorliegend. In den Akten des Sozialgerichts Konstanz (S 6 U 1000/06 und S 11 U 2418/11) und des Senats (L 6 U 696/10 und L 6 U 1555/12) sind die Gutachten des Hals-Nasen-Ohrenarztes Dr. B. vom 22.04.2007 (geringgradige Minderung des Hörvermögens beidseits, reduzierte Leistung der Gleichgewichtskoordination, herabgesetztes Riechvermögen), des Prof. Dr. Dr. W., Ärztlicher Direktor der Klinik für Neurologie des Bezirkskrankenhauses G., vom 21.04.2008 (Veränderungen der Halswirbelsäule, Gesichtsfeldstörung, Hörstörung, Inkontinenz, Geruchssinnsverlust, Schlafstörungen, Alpträume, Halbseitensymptomatik, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen) und des Dr. Z. vom 01.10.2009 (keine radiologischen Hinweise auf ein Schädel-Hirn-Trauma) enthalten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Akten der Deutschen Rentenversicherung Bund, der Unfallkasse Baden-Württemberg, des Beklagten, des Sozialgerichts (S 6 U 1000/06, S 6 SB 2981/07 und S 11 U 2418/11) und des Senats (L 6 SB 695/10, L 6 U 696/10 und L 6 U 1555/12) verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143 und 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und nach § 151 SGG zulässige Berufung ist unbegründet, denn die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Feststellung des Merkzeichens G. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, denn die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen sie nicht in ihren Rechten.

Die Feststellung von Merkzeichen richtet sich nach den Vorschriften des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX).

Auf Antrag des behinderten Menschen treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden, wenn neben dem Vorliegen einer Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind, die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 4 SGB IX). Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die zuständigen Behörden auf Grund einer Feststellung der Behinderung einen Ausweis über die gesundheitlichen Merkmale aus (§ 69 Abs. 5 SGB IX).

Zu diesen Merkmalen gehört die erhebliche Beeinträchtigung im Straßenverkehr. Schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, werden von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 SGB IX im Nahverkehr im Sinne des § 147 Abs. 1 SGB IX unentgeltlich befördert (§ 145 Abs. 1 SGB IX). In seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden (§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX).

Als solchermaßen üblich sind - ohne Berücksichtigung von geographischen Besonderheiten im Einzelfall - Wegstrecken von bis zu 2 Kilometern mit einer Gehdauer von etwa 30 Minuten anzusehen (BSG, Urteil vom 10.12.1987 - 9a RVs 11/87 - juris; BSG, Urteil vom 13.08.1997 - 9 RVS 1/96 - juris).

Der seit 01.01.2009 an die Stelle der bis zum 31.12.2008 im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung als antizipierte Sachverständigengutachten angewandten Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX) 2008" (AHP) getretenen Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG vom 10.12.2008 - BGBl. I. S. 2412 (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) lassen sich im Ergebnis keine weiteren Beurteilungskriterien für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des begehrten Nachteilsausgleichs entnehmen. Denn die VG sind hinsichtlich der getroffenen Regelungen für die nach dem Schwerbehindertenrecht zu beurteilenden Nachteilsausgleiche G, "Berechtigung für eine ständige Begleitung" (B), "außergewöhnliche Gehbehinderung" (aG), "Gehörlosigkeit" Gl und "Blindheit" (Bl) unwirksam, da es insoweit an einer gesetzlichen Verordnungsermächtigung fehlt. Eine solche Ermächtigung findet sich nämlich - mit Ausnahme des Merkzeichens "Hilflosigkeit" (H) - weder in § 30 Abs. 17 BVG in der Fassung bis zum 30.06.2011 beziehungsweise § 30 Abs. 16 BVG in der Fassung ab dem 01.07.2011, noch in sonstigen Regelungen des BVG oder des SGB IX (Urteile des Senats vom 09.06.2011 - L 6 SB 6140/09 - juris, vom 04.11.2010 - L 6 SB 2556/09; Urteile des LSG Baden-Württemberg vom 09.05.2011 - L 8 SB 2294/10 - juris, vom 14.08.2009 - L 8 SB 1691/08 - juris, und vom 24.09.2010 - L 8 SB 4533/09; Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4).

An einer das Merkzeichen G rechtfertigenden Einschränkung der Gehfähigkeit leidet die Klägerin nicht.

Es trifft nicht zu, dass die Klägerin Wegstrecken im Ortsverkehr von bis zu 2 Kilometern mit einer Gehdauer von etwa 30 Minuten infolge einer Einschränkung des Gehvermögens ohne erhebliche Schwierigkeiten oder ohne Gefahren für sich oder andere nicht zurückzulegen vermag. Die Klägerin hat zwar mit den Arztbriefen und Attesten von Dres. Z. und G. vom 12.02.2009, 19.02.2009, 31.08.2009, 03.09.2009, 15.12.2011 und 19.12.2011 eine Vielzahl an ärztlichen Unterlagen im Hinblick auf die radiologisch festgestellten Veränderungen im Bereich der Hals- und Lendenwirbelsäule in Form einer Fraktur beziehungsweise Spondylarthrose bei L4/5 rechts im Bereich der Bogenwurzel, von Bandscheibendegenerationen C3/4 und C4/5, eines Bandscheibenprolaps rechtsseitig medio-lateral C5/6 und einer Bandscheibenprotrusio C6/7 vorgelegt. Es sind aber an keiner Stelle hieraus resultierende sich auf die Gehfähigkeit auswirkende Funktionsbeeinträchtigungen dokumentiert. Ähnliches gilt für die im Bereich der unteren Extremitäten gestellten Diagnosen. Hier liegt nach dem Arztbrief des Dr. B. vom 21.04.2009 lediglich ein Knick-Senk-Spreizfuß sowie Hallx valgus beidseits vor. Eine wesentliche statische oder funktionelle Auswirkung ist daraus aber nicht objektiviert.

Auch die bei der Klägerin vorliegende in den Attesten des Dr. H. vom 09.10.2006, Februar 2007, 08.06.2008 und 16.03.2010 sowie dem Arztbrief des Dr. B. vom 15.04.2009 beschriebene und im Gutachten von Priv. Doz. Dr. S. vom 19.08.2009 diagnostizierte Harninkontinenz rechtfertigt nicht die Annahme einer Merkzeichen-G-relevanten Einschränkung der Gehfähigkeit. Zwar können sich auch innere Erkrankungen beim Gehen außergewöhnlich behindernd auswirken und die Fortbewegung schwerstens einschränken. So liegt es im vorliegenden Fall aber nicht. Der Senat stützt sich dabei auf das Gutachten des Priv. Doz. Dr. S. vom 19.08.2009. Der Sachverständige hat überzeugend dargelegt, dass eine Einschränkung des Gehvermögens durch die bestehende Mischharninkontinenz nicht gegeben ist. Eine Harninkontinenz, so beschwerlich sie sein mag, beeinträchtigt die Fortbewegungsfähigkeit als solche gerade nicht (zur Stuhlinkontinenz: BSG, Urteil vom 09.03.1988 - 9/9a RVs 15/87 - juris). Nichts anderes folgt hier aus der von der Klägerin vorgetragenen Notwendigkeit häufiger Toilettengänge. Die Klägerin ist insoweit auf das Anziehen von einmal zu tragenden Windelhosen zu verweisen, die den Harn bis zu 2 Stunden ohne Geruchsbelästigung für andere Menschen aufnehmen (BSG, Urteil vom 11.09.1991 - 9a RVs 1/90 - juris). Das Tragen solcher Slips ist zumutbar. Es verstößt weder gegen die Würde des Menschen nach Art. 1 Grundgesetz (GG) noch gegen den Sozialstaatsgrundsatz nach Art. 20 Abs. 1 GG (BSG, Urteil vom 09.08.1995 - 9 RVs 3/95 - juris).

Der Senat hat sich auch nicht davon überzeugen können, dass die Klägerin infolge von Hautveränderungen im Genital- und Oberschenkelbereich daran gehindert ist, zu Fuß 2 Kilometer mit einer Gehdauer von etwa 30 Minuten zurückzulegen. Der Senat hat zwar die Atteste des Dr. B. vom 24.08.2007, 28.04.2008, 18.03.2010 und 28.09.2010, in denen die Ansicht vertreten wird, die getragenen Windeln würden im Bereich der Vulva und der Innenseite der Oberschenkel eine ausgeprägte allergische Reaktion beziehungsweise entzündliche Hautveränderung im gesamten Genitalbereich verursachen, zur Kenntnis genommen. Die von Dr. B. angegebenen Hautveränderungen sind aber nicht objektiviert. Zum einen hat Dr. S. in seinem Gutachten vom 19.08.2009 im Rahmen der vaginalen Untersuchung gerade keinen Anhaltspunkt für eine höhergradige Cysto- oder Rectozele oder für ein aktuell bestehendes allergisches Exanthem im Genital-, Leisten- und Oberschenkelbereich beidseits festgestellt. Zum anderen weist der Senat darauf hin, dass eine regelmäßige hautärztliche Untersuchung der Klägerin weder vorgetragen noch dokumentiert ist.

Auch ergeben sich weder aus den im Rahmen auf die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfall- und Rentenversicherung angefallenen ärztlichen Unterlagen noch den vom Sozialgericht eingeholten sachverständigen Zeugenauskünften Anhaltspunkte für die Annahme einer das Merkzeichen G rechtfertigenden Gehbeeinträchtigung der Klägerin.

Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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