B 6 KA 99/11 B

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
6
1. Instanz
SG Mainz (RPF)
Aktenzeichen
S 2 KA 17/10
Datum
2. Instanz
LSG Rheinland-Pfalz
Aktenzeichen
L 5 KA 16/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 6 KA 99/11 B
Datum
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 20. Oktober 2011 wird zurückgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 157 804 Euro festgesetzt.

Gründe:

I

1

Im Streit stehen Honorarkürzungen wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise in den Quartalen I/2000 bis IV/2001.

2

Der Kläger nahm bis zum 30.9.2003 als Zahnarzt im Bezirk der Rechtsvorgängerin der zur 1. beigeladenen Kassenzahnärztlichen Vereinigung an der vertragszahnärztlichen Versorgung sowie als Arzt für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Nachdem eine von den Prüfgremien im Rahmen einer Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise verfügte Honorarkürzung (Prüfbescheid vom 23.1.2003, Widerspruchsbescheid vom 27.2.2004) auf die Klage des Klägers vom LSG aufgehoben und der beklagte Beschwerdeausschuss zur Neubescheidung verpflichtet worden war (Urteil vom 6.3.2008), wies der Beklagte den gegen den Prüfbescheid vom 23.1.2003 erhobenen Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 15.12.2009 erneut zurück. Auf die erneute Klage des Klägers hat das SG den Bescheid des Beklagten aufgehoben (Urteil vom 16.2.2011). Die Berufung des Beklagten ist erfolglos geblieben; allerdings hat das LSG seine Entscheidung mit der Maßgabe versehen, dass der Beklagte über den Widerspruch des Klägers erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden hat (Urteil vom 20.10.2011). Das LSG hat ausgeführt, der erneute Bescheid des Beklagten berücksichtige nicht voll umfassend die im Urteil vom 6.3.2008 gemachten Vorgaben und enthalte hinsichtlich der vom Beklagten berücksichtigten Vorgabe des Senats, bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung auch die vertragsärztlichen Abrechnungen des Klägers und der Vergleichsgruppe zu berücksichtigen, zusätzliche und den Kläger eigenständig beschwerende Rechtsfehler.

3

Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil macht der Kläger die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG) geltend.

II

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Die Beschwerde des Klägers hat keinen Erfolg.

5

Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen. Dabei kann offenbleiben, ob die Beschwerde des Klägers nicht bereits teilweise unzulässig ist, weil ihre Begründung nicht in vollem Umfang den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Darlegungsanforderungen entspricht. Denn jedenfalls ist die Beschwerde unbegründet. Die Revisionszulassung setzt eine Rechtsfrage voraus, die in dem angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl BVerfG (Kammer), SozR 3-1500 § 160a Nr 7 S 14; s auch BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 19 S 34 f; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 30 S 57 f mwN). Die Klärungsbedürftigkeit fehlt, falls die Rechtsfrage schon beantwortet ist, ebenso dann, wenn Rechtsprechung zu dieser Konstellation zwar noch nicht vorliegt, sich aber die Antwort auf die Rechtsfrage ohne Weiteres ergibt (zur Verneinung der Klärungsbedürftigkeit im Falle klarer Antwort s zB BSG SozR 3-1500 § 146 Nr 2 S 6; BSG SozR 3-2500 § 75 Nr 8 S 34; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; vgl auch BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f), und schließlich auch dann, wenn kein vernünftiger Zweifel an der Richtigkeit der vom LSG dazu gegebenen Auslegung bestehen kann, weil sich die Beantwortung bereits ohne Weiteres aus der streitigen Norm selbst ergibt (vgl hierzu BSG Beschluss vom 2.4.2003 - B 6 KA 83/02 B - juris RdNr 4).

6

Die Rechtsfrage,

ob "der in Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 GG als Teilgehalt des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips verankerte Justizgewährungsanspruch in seiner spezifischen Ausprägung einer Gewährung effektiven Rechtsschutzes in Gestalt eines Schutzes vor einer überlangen Verfahrensdauer und respektive in Verbindung mit der durch Artikel 6 Absatz 1 Satz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention mit der Wirkung eines Bundesgesetzes völkerrechtlich ausbedungenen Gewährleistung des Rechts auf eine rechtskräftige Entscheidung in angemessener Frist die Entscheidung im sozialgerichtlichen Verfahren zu determinieren geeignet ist und ob hierdurch die Verpflichtung der zur Entscheidung berufenen Stelle zu einer das Verfahren beendenden rechtskräftigen Aufhebung eines rechtswidrigen Bescheides jedenfalls dann besteht, wenn seit Erlass des ursprünglichen Honorarbescheides mehr als 11 Jahre vergangen sind,"

ist nicht klärungsbedürftig, da sich die Antwort darauf aus der Rechtsprechung des Senats ergibt.

7

In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt, dass ein Vertragsarzt einem Prüfverfahren wegen unwirtschaftlicher Behandlungs- oder Verordnungsweise nicht zeitlich unbegrenzt ausgesetzt ist, da sich die Notwendigkeit einer zeitlichen Begrenzung des Prüfverfahrens bereits aus dem rechtsstaatlichen Gebot der Rechtssicherheit (Art 20 Abs 3 GG) ergibt (BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 28 RdNr 28 mwN; zuletzt BSG Beschluss vom 6.9.2011 - B 6 KA 44/11 B - RdNr 11). Die insoweit geltende Ausschlussfrist von vier Jahren kann entsprechend dazu führen, dass ein Anspruch auf Honorarkürzung oder ein Regressanspruch nicht mehr geltend gemacht werden kann, sofern der Ablauf der Ausschlussfrist nicht unterbrochen bzw gehemmt ist (BSG Beschluss vom 6.9.2011 - B 6 KA 44/11 B - RdNr 11 mwN - oder Vertrauensschutzausschlusstatbestände nach § 45 SGB X vorliegen, s BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 28 RdNr 32).

8

Damit ist zugleich geklärt, dass Verzögerungen im Verfahrensablauf bei den Prüfgremien und/oder den Gerichten grundsätzlich nicht dazu führen können, dass ein - für sich genommen - rechtmäßiger Bescheid des Beschwerdeausschusses aufgehoben werden muss. In diesem Sinne hat der Senat in seinen Beschlüssen vom 11.5.2011 (B 6 KA 6/11 B ua) dargelegt, dass aus einem Verstoß gegen die Verpflichtung, das Verfahren angemessen zu fördern, nicht abzuleiten ist, dass der Beschwerdeausschuss allein deswegen an der Festsetzung eines Regresses in Form der Bestätigung der Entscheidung des Prüfungsausschusses gehindert ist (aaO RdNr 9). Dies hat er insbesondere damit begründet, dass das Gesetz keine Frist vorgibt, bis zu der ein Widerspruchsverfahren abgeschlossen sein muss und dass der Beklagte nicht über eigene Ansprüche entscheidet. Diese Ausführungen gelten sinngemäß auch für nachfolgende Klageverfahren.

9

Der Gesetzgeber hat mit dem Erlass des "Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren" vom 24.11.2011 (BGBl I 2302) zum Ausdruck gebracht, dass dem Ziel der Gewährung von zeitnahem Rechtsschutz durch verfahrensimmanente Rechtsbehelfe (Verzögerungsrüge) und einem Entschädigungsanspruch gegen die jeweilige für das betreffende Gericht zuständige Gebietskörperschaft (Bund/Land) Rechnung getragen werden soll. Damit ist regelmäßig für Lösungen der Problematik einer unangemessen langen Verfahrensdauer zwischen den Verfahrensbeteiligten und mit Bezug auf den Streitgegenstand kein Raum mehr. Hinzu kommt, dass nach Abschluss des ersten Berufungsverfahrens mit LSG-Urteil vom 6.3.2008 keine greifbaren und unangemessenen Verzögerungen zu verzeichnen sind. Die Verfahren vor dem Beklagten, dem SG und dem LSG haben insgesamt 3 ½ Jahre in Anspruch genommen, wovon auf die beiden gerichtlichen Instanzen zusammen nur die Hälfte entfällt.

10

Gerade bei Wirtschaftlichkeitsprüfungen kommt dem Gesichtspunkt, dass der Beklagte nicht über eigene Ansprüche entscheidet, wesentliche Bedeutung zu. Zwar ist für Strafverfahren anerkannt, dass eine überlange Verfahrensdauer - jedenfalls im Regelfall (zu Ausnahmen s Thüringer OLG Beschluss vom 6.9.2011 - 1 Ws 394/11 - juris) nicht zur Einstellung des Verfahrens führt, ihr aber eigenständige strafmildernde Bedeutung zukommt, wenn sie für den Angeklagten mit besonderen Belastungen verbunden ist (vgl zB BGH Beschluss vom 16.3.2011 - 5 StrR 585/10 - NStZ-RR 2011, 171; BVerfG (Kammer) Beschluss vom 19.4.1993 - 2 BvR 1487/90 - NJW 1993, 3254). Auch für Disziplinarverfahren ist geklärt, dass sich eine überlange Verfahrensdauer bei solchen Disziplinarverfahren als Milderungsgrund auswirken kann und ggf muss, die der Pflichtenmahnung dienen (vgl BVerwG Beschluss vom 11.5.2010 - 2 B 5/10 - USK 2010-156; s auch BVerwG Urteil vom 27.1.2011 - 2 A 5/09 - Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr 17). Bei Straf- und Disziplinarverfahren wirken sich Verfahrensverzögerungen jedoch allein auf den Straf- bzw Sanktionsanspruch des Staates und damit letztlich zu Lasten desjenigen aus, der auch die (formelle) Verantwortung für Verzögerungen während des Verwaltungs- bzw Gerichtsverfahrens trägt. Völlig anders stellt sich die Situation jedoch dar, wenn (rechtmäßige) Ansprüche Dritter betroffen sind. Es wäre schlechthin untragbar, wenn diese die (materiellen) Folgen von Verzögerungen, die sie nicht zu verantworten haben, zu tragen hätten. Eine Wirtschaftlichkeitsprüfung ist auch nicht mit einem Disziplinarverfahren vergleichbar (wie sich schon daraus ergibt, dass wiederholte Honorarkürzungen bzw Regresse als Folge von Prüfverfahren dazu Veranlassung geben können, ein Disziplinarverfahren durchzuführen).

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Wirtschaftlichkeitsprüfungen dienen nicht allein der "Pflichtenmahnung" zur Aufrechterhaltung der Funktionstüchtigkeit und der Leistungsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern beinhalten zugleich eine Korrektur der sich aus dem (zahn)ärztlichen Fehlverhalten ergebenden finanziellen Folgen. Besonders deutlich wird dies beim Verordnungsregress, bei dem es sich um einen besonderen Typus eines Schadensersatzanspruches handelt; durch ihn sollen die Krankenkassen einen Ausgleich für unwirtschaftliche Verordnungen und damit für solche Kosten erhalten, für die sie nach der Rechtslage aufzukommen nicht verpflichtet sind (BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 38 S 212). Im Ergebnis nichts anderes gilt aber auch für Honorarkürzungen, die im Zuge einer Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise eines Vertrags(zahn)arztes von den Prüfgremien festgesetzt werden. Denn diese Honorarkürzungen - dh die Nichtvergütung unwirtschaftlich erbrachter Leistungen - führen zur Korrektur des Honorarvorteils, den der unwirtschaftlich behandelnde Vertragsarzt andernfalls erzielen würde. Dabei spielt es keine Rolle, ob er diesen Vorteil - wie im Regelfall einer gedeckelten Gesamtvergütung - zu Lasten der übrigen an der Honorarverteilung teilnehmenden Ärzte oder zu Lasten der Krankenkassen erzielt hat.

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Ob sich unter dem Gesichtspunkt der Rechtsmissbräuchlichkeit (s hierzu BVerwG Urteil vom 24.11.2011 - 7 C 12/10 - NJW 2012, 792) oder der Verwirkung (s hierzu SG Marburg Urteil vom 16.6.2010 - S 12 KA 60/10 - juris RdNr 28) Konsequenzen aus einer überlangen Verfahrensdauer ergeben können, bedarf vorliegend keiner Klärung, weil dafür Anhaltspunkte weder geltend gemacht, noch sonst ersichtlich sind.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm §§ 154 ff VwGO. Als erfolgloser Rechtsmittelführer hat der Kläger auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen (§ 154 Abs 2 VwGO). Eine Erstattung der Kosten der Beigeladenen ist nicht veranlasst, weil sie im Beschwerdeverfahren keinen Antrag gestellt haben (§ 162 Abs 3 VwGO).

14

Die Festsetzung des Streitwerts entspricht (gerundet) der Festsetzung der Vorinstanz vom 20.10.2011, die von keinem der Beteiligten in Frage gestellt worden ist (§ 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 3, § 47 Abs 1 und 3 GKG).
Rechtskraft
Aus
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