L 4 P 2547/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 9 P 3191/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 2547/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 11. Juni 2012 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist im Berufungsverfahren streitig, ob der Kläger für die Zeit vom 23. März bis 30. November 2011 Anspruch auf Pflegegeld nach der Pflegestufe I hatte.

Der am 1941 geborene Kläger ist Mitglied der beklagten Pflegekasse. Er leidet seit seinem 63. Lebensjahr unter einer bipolaren Störung, die in den Jahren 2006 bis 2008 insgesamt vier Aufenthalte in einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie erforderlich machte. Zuletzt befand sich der Kläger in der Zeit vom 15. Juli bis 4. August 2010 wegen einer manischen Episode stationär in der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in T. und im Anschluss daran bis 15. Oktober 2010 in der Tagesklinik W. der Universitätsklinik T ... Aus der Tagesklinik wurde der Kläger auf seinen Wunsch in stabilisiertem Zustand, jedoch mit hypomaner Restsymptomatik nach Hause entlassen (Entlassungsbericht des Prof. Dr. E., Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie T. vom 27. Oktober 2010). Am 16. November 2010 wurde der Kläger von Arzt für Psychiatrie und Neurologie Dr. B. mit Blick auf die Verlängerung eines bestehenden Einwilligungsvorbehalts im Rahmen einer Betreuung untersucht und begutachtet. Nach dem psychiatrischen Gutachten des Dr. B. vom 16. November 2010 war der Kläger nach vorausgegangener zehnwöchiger Behandlung in einer guten Verfassung. Es bestehe aber weiter eine Minderung der Kritikfähigkeit, die sich in einem raschen Ausgeben seiner zur Verfügung stehenden Barschaft und einer unrealistischen Einschätzung weiterer Verdienstmöglichkeiten äußere. Angesichts der mnestischen Defizite und der eingeschränkten Kritikfähigkeit hielt Dr. B. eine Verlängerung des Einwilligungsvorbehalts für gerechtfertigt.

Am 24. März 2011 beantragte der Kläger bei der Beklagten unter Vorlage der Entlassungsberichte über seinen stationären Aufenthalt in der Universitätsklinik T. und den Aufenthalt in der Tagesklinik sowie des von Dr. B. erstatteten Gutachtens vom 16. November 2010 Leistungen der Pflegeversicherung. Er trug vor, er sei zwar motorisch dazu in der Lage, die Verrichtungen des täglichen Lebens ohne fremde Hilfe zu erledigen, verkenne jedoch deren Notwendigkeit, weshalb er motiviert, angeleitet und beaufsichtigt werden müsse. Im Bereich der Körperpflege benötige er Hilfe bei der Teilwäsche des Unterkörpers (sechs Minuten), beim Duschen (20 Minuten), der Zahnpflege (sechs Minuten), beim Kämmen (eine Minute), beim Rasieren (drei Minuten) und beim Richten der Bekleidung (vier Minuten) in einem Umfang von insgesamt 40 Minuten täglich und im Bereich der Mobilität beim Aufstehen und Zubettgehen (zwei Minuten), An- (sieben Minuten) und Entkleiden (drei Minuten) in einem Umfang von insgesamt zwölf Minuten täglich. Die Beklagte veranlasste daraufhin eine Begutachtung durch Pflegefachkraft L., Medizinischer Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK). Diese schätzte in ihrem Gutachten vom 26. April 2011 den Zeitaufwand für die Verrichtungen der Grundpflege mit 21 Minuten täglich (Körperpflege 13 Minuten, Ernährung drei Minuten, Mobilität fünf Minuten). Duschen Einmal täglich Teilübernahme, Beaufsichtigung 10 Minuten Zahnpflege Zweimal täglich Anleitung 2 Minuten Rasieren Einmal täglich Anleitung 1 Minuten Aufnahme der Nahrung Dreimal täglich Aufforderung 3 Minuten Ankleiden gesamt Einmal täglich Unterstützung, Anleitung 3 Minuten Entkleiden gesamt Einmal täglich Unterstützung, Anleitung 2 Minuten Als pflegebegründende Diagnosen nannte sie bipolare affektive und leichte kognitive Störungen. Der Kläger zeige ein unauffälliges Gangbild, wobei die Pflegeperson von phasenweise eingeschränkter Gehfähigkeit mit Trippelgang berichte. Er habe die Funktionsgriffe problemlos durchführen können, der Faustschluss sei beidseits komplett, der Pinzettengriff gelinge. Er könne selbstständig mit Essbesteck umgehen. Motorisch sei er selbstständig beim Essen und beim Trinken, müsse jedoch wegen Vergesslichkeit hierzu immer wieder angehalten werden. Eine Blasenschwäche habe sich gebessert, eine Darmschwäche bestehe nicht. Die Toilettenbenutzung sei selbstständig möglich. Aufgrund kognitiver Störungen mit Konzentrationsschwäche und Vergesslichkeit brauche er regelmäßig Anleitung zum Duschen und müsse zur Zahn- und Mundpflege und zum Rasieren aufgefordert werden. Damit er sich anlass- und witterungsgerecht kleide, werde die Kleidung bereit gelegt, manchmal sei etwas korrigierende Hilfe erforderlich.

Mit Bescheid vom 3. Mai 2011 lehnte die Beklagte Leistungen der Pflegeversicherung ab. Auf den Widerspruch des Klägers, der unter zusätzlicher Berücksichtigung eines Hilfebedarfs im Bereich der Ernährung von drei Minuten nunmehr einen Pflegebedarf von 55 Minuten täglich als gegeben sah und dies weiterhin insbesondere damit begründete, dass er sehr schwer zu motivieren sei und bei den täglichen Verrichtungen des täglichen Lebens angeleitet und beaufsichtigt werden müsse, veranlasste die Beklagte das Gutachten der Pflegefachkraft B., MDK, vom 16. Juni 2011. Pflegefachkraft B. ermittelte unter Zugrundelegung derselben Hilfebedarfe wie Pflegefachkraft L. einen Grundpflegebedarf von 21 Minuten täglich. Es bestehe eine gute Kraftentwicklung in beiden Händen des Klägers, ein vollständiger Faustschluss, Pinzetten- und Nacken- und Schürzengriff werde ausgeführt. Er könne sich selbst vom Sitzen erheben, freies Stehen sei ihm problemlos möglich. Er gehe innerhalb der Wohnung ohne Hilfsmittel mit leicht vornübergebeugtem Gangbild. Das Gangbild selbst sei flüssig und ausreichend sicher. Inkontinenz bestehe beim Kläger nicht. Er suche die Toilette tagsüber und nachts selbstständig auf. Hygienemaßnahmen und das Richten der Bekleidung seien ihm selbstständig möglich. Er esse in ausreichendem Maße von selbst, müsse zur adäquaten Flüssigkeitszufuhr aber punktuell angeleitet werden. Die Kurzzeitgedächtnisleistungen seien mäßig eingeschränkt, der Kläger sei jedoch innerhalb und außerhalb der Wohnung orientiert. Er könne alle Aufforderungen verstehen und zielgerichtet umsetzen. In manischen Phasen komme es immer wieder zu Fehleinschätzungen. Um eine ausreichende Körperpflege sicherzustellen müsse der Kläger zur Ausführung motiviert werden und am Ende der Verrichtung kontrolliert werden, ob diese ausgeführt worden sei. Dies gelte auch für die Zahnpflege und die Rasur. Angehalten werden müsse er auch zum An- und Ausziehen von witterungsgerechter Kleidung. Mit Widerspruchsbescheid vom 3. November 2011 wies der bei der Beklagten gebildete Widerspruchsausschuss den Widerspruch zurück. Nach zwei Gutachten des MDK im Wohnumfeld des Klägers bestehe beim Kläger nur ein Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 21 Minuten täglich.

Der Kläger erhob am 9. November 2011 Klage zum Sozialgericht Reutlingen (SG). Er trug vor, dass bei ihm entgegen des von Pflegefachkraft F. erstatteten Gutachtens vom 22. April 2012 (hierzu im Folgenden) die Voraussetzungen der erheblichen Pflegebedürftigkeit mindestens seit März 2011 gegeben seien. Ab November 2011 habe sich zwar eine Verbesserung seines Gesundheitszustands ergeben, dieser habe sich seit Februar 2012 jedoch wieder verschlechtert. Er vernachlässige wieder die Grundpflege, weshalb die Medikamentendosis erhöht worden sei. In der streitgegenständlichen Zeit habe er ein starkes Abwehrverhalten gehabt und die Grundpflege nicht adäquat erledigt. Während der Grundpflege habe er durch die angelehnte Tür beobachtet werden müssen, die Pflegeperson habe immer wieder eingreifen müssen. Die konkrete Beaufsichtigung, Überwachung und/oder Erledigungskontrollen seien zu berücksichtigen, da sie die Pflegeperson in zeitlicher und örtlicher Hinsicht in gleicher Weise binden würden wie bei unmittelbarer personeller Hilfe. Im Übrigen verlange das Gesetz nicht eine tatsächliche Dauer der Pflegebedürftigkeit von mindestens sechs Monaten, sondern nur von voraussichtlich für mindestens sechs Monate. Ergänzend legte der Kläger das fachärztliche Gutachten des Dr. B. vom 13. März 2012 vor, wonach er im Vergleich zur Untersuchung am 14. Dezember 2010 deutlich stabiler imponiert habe und zur Zeit keine depressiven oder manischen Auslenkungen erkennbar seien. Im Demenztest habe der Kläger elf Punkte erreicht, was einer leichten kognitiven Beeinträchtigung entspreche. Im Vergleich zur Voruntersuchung habe sich der Befund im Demtect-Test um zwei Punkte verschlechtert. Bei einer erneuten Erkrankung wäre der Kläger nicht mehr in der Lage, seine Belange zu versorgen. Das Risiko einer erneuten psychotischen Erkrankung behalte er zeitlebens.

Die Beklagte trat der Klage entgegen. Dr. B. mache in seinem Gutachten vom 13. März 2012 nicht einmal andeutungsweise Angaben zu dem beim Kläger bestehenden Grundpflegebedarf. Dass er seine Grundpflege nicht (mehr) eigenständig sicherzustellen vermöge, werde von Dr. B. nicht behauptet. Das Gutachten von Dr. B. sei - wenn überhaupt - für den Rechtsstreit nur insoweit zu gebrauchen, als es ihre - der Beklagten - Auffassung bestätige.

Das SG hörte die den Kläger behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen. Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. M. teilte unter dem 31. Januar 2012 mit, dass sich der Kläger seit Oktober 2009 in seiner psychiatrischen Behandlung befinde. Die Kontakte fänden ca. vierwöchentlich statt, zuletzt habe er den Kläger am 8. Dezember 2011 gesehen. Bei dem Kontakt am 28. März 2011 sei der Kläger im Gegensatz zum vorherigen Termin in etwas schlurfendem, kleinschrittigen Gang, dabei leicht stuporös, ataktisch und bei reduzierter Psychomotorik und eingeschränkter affektiver Schwingungsfähigkeit erschienen. Es habe der Verdacht einer medikamentösen Ataxie, differentialdiagnostisch eines Morbus Parkinson bestanden. Nach Absetzung von Orfiril und Monotherapie mit Seroquel 400 mg habe sich ab etwa Mitte Juni 2011 über die Monate eine Verbesserung ergeben. Am 8. Dezember 2011 habe der Kläger einen recht sicheren, großschrittigen Gang gezeigt, Mimik, Psychomotorik und affektive Schwingungsfähigkeit seien nur noch leicht reduziert gewesen. In der neurologischen Untersuchung hätten sich nur altersentsprechende ataktische Einschränkungen gezeigt. Den Feststellungen in den MDK-Gutachten stimme er zu, soweit er als Psychiater ohne bisherige Pflegeeinschätzungskompetenz dazu in der Lage sei. Er fügte Arztbriefe des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. N. vom 24. Mai und 26. Juli 2011 bei, in denen über ein mittelschrittiges etwas vornübergebeugtes bzw. etwas gebundenes, nach vornübergebeugtes Gangbild bei einem nur minimal ausgeprägten, in etwa seitengleichen Rigor berichtet wird. Prof. Dr. E. berichtete am 2. März 2012 über die tagesklinische Behandlung des Klägers in der Zeit vom 4. August bis 15. Oktober 2010. Er gab an, dass im Laufe der Behandlung eine leichte Besserung festgestellt worden sei. Die Beschwerden und Defizite des Klägers im Bereich der Körperpflege und des Sozialverhaltens hätten bis Oktober 2010 in der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit aufgrund seiner schweren psychiatrischen Erkrankung bei gleichzeitig vorliegenden kognitiven Problemen bestanden.

Sodann erstattete im Auftrag des SG Pflegefachkraft F. nach Hausbesuch am 23. Januar 2012 ihr Gutachten vom 22. April 2012. Die Sachverständige gab an, ihr sei von der Pflegeperson, der Prozessbevollmächtigten und dem Betreuer des Klägers berichtet worden, dass es dem Kläger nach Umstellung der Medikamente seit Juni 2011 schrittweise besser gehe und bei ihm seit November 2011 kein Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege mehr notwendig sei. Die Sachverständige stellte bei der Untersuchung fest, dass es dem Kläger möglich sei, sicher selbstständig zu gehen und sämtliche Bewegungsabläufe durchzuführen. Fein- und Grobmotorik seien nicht eingeschränkt. Der Kläger sei harn- wie auch stuhlkontinent und könne sämtliche Toilettengänge selbstständig durchführen. Unter der derzeitigen Medikation bestünden beim Kläger keine psychischen Auffälligkeiten. Sein Tag-Nacht-Rhythmus sei nicht gestört. Seit November 2011 bestehe beim Kläger damit kein Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege. Darüber hinaus sei festzustellen, dass der notwendige Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege auch seit der Antragstellung im März 2011 zu keiner Zeit dauerhaft die Voraussetzungen zur Einstufung in Pflegestufe I erfüllt habe. Die nach den Ausführungen im Antrag vom 23. März 2011 erforderliche Teilwäsche des Unterkörpers könne nicht berücksichtigt werden. Der Kläger sei zu keiner Zeit dauerhaft inkontinent gewesen. Eine abendliche Intimpflege könne aber nur bei bestehender Inkontinenz gewertet werden. Auch ein Hilfebedarf von 20 Minuten für tägliches Duschen sei in keiner Weise nachvollziehbar und sei auch nicht regelmäßig notwendig gewesen. Der Kläger habe sich im Bereich der Körperpflege nicht helfen lassen, er habe sich nach Aufforderung selbstständig geduscht. Zu Zähneputzen, Kämmen und Rasieren habe der Kläger teilweise aufgefordert werden müssen, er habe dies dann aber ohne Aufsicht selbstständig durchgeführt. Auch der im Antrag beschriebene Hilfebedarf beim Aufstehen und Zubettgehen sei nicht nachvollziehbar und sei nicht dauerhaft vorhanden gewesen. Es sei zu keiner Zeit so gewesen, dass der Kläger über längere Zeit das Bett den ganzen Tag nicht habe verlassen wollen. Bezüglich des Ankleidens habe dem Kläger nur die Kleidung bereit gelegt werden müssen. Er habe sie dann aber selbstständig und ohne Beaufsichtigung korrekt angezogen. Warum dem Kläger die Bekleidung im hinteren Bereich hätte gerichtet werden müssen, sei nicht nachvollziehbar. Zusammenfassend sei es zum Zeitpunkt der Antragstellung so gewesen, dass in einigen Bereichen der Grundpflege ein teilweiser Motivations- und Aufforderungsbedarf bestanden habe. Ein ständiger Beaufsichtigungsbedarf sei aber sicher zu keiner Zeit regelmäßig notwendig gewesen und sei nach den Angaben der Pflegeperson, die auch berichtet habe, dass der Hilfebedarf nicht täglich notwendig gewesen sei, auch nicht durchgeführt worden. Die kurzzeitige, vorübergehende Erhöhung im grundpflegerischen Hilfebedarf sei nicht einstufungsrelevant. In der ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme vom 27. Mai 2012 hielt Pflegefachkraft F. an ihrer bisherigen Einschätzung fest.

Mit Gerichtsbescheid vom 11. Juni 2012 wies das SG die Klage, mit der der Kläger zuletzt Pflegegeld nach Pflegestufe I für die Zeit vom 1. März bis 30. November 2011 begehrt hatte, ab. Zur Begründung führte es aus, nach den übereinstimmenden und auch überzeugenden Gutachten verfehle der Kläger den gesetzlich notwendigen Pflegebedarf in der Grundpflege im hier streitbefangenen Zeitraum deutlich. Nach den Gutachten vom 26. April 2011 und 16. Juni 2012 habe er nicht einmal die Hälfte des für die Pflegestufe I erforderlichen Pflegeaufwands in der Grundpflege von mehr als 45 Minuten erreicht. Auch die gerichtliche Sachverständige sei zu keiner hiervon abweichenden Bewertung gelangt. An pflegerelevanten Einschränkungen sei beim Kläger im Wesentlichen von einer bipolaren affektiven Störung sowie einer leichten kognitiven Störung auszugehen. Im Bereich des Stütz- und Bewegungsapparates bestünden hingegen keine pflegerelevanten Einschränkungen. Motorisch sei der Kläger in der Lage gewesen, sämtliche Verrichtungen des täglichen Lebens ohne fremde Hilfe zu erledigen. Der bei ihm bestehende Motivations- und Anleitungsbedarf sei ausreichend berücksichtigt. Im Bereich der Körperpflege sei für das Duschen ein Beaufsichtigungs- und Anleitungsbedarf von täglich zehn Minuten angesetzt worden. Der vom Kläger angegebene Hilfebedarf im Umfang von 20 Minuten sei nicht gerechtfertigt, da der Kläger sich nach den gutachtlichen Feststellungen im Bereich der Körperpflege nicht habe helfen lassen, sondern sich nach entsprechender Aufforderung selbstständig geduscht habe. Für die Zahnpflege sowie das Rasieren lege das Gericht einen Anleitungsbedarf von täglich zwei Minuten und einer Minute zugrunde. Im Bereich der Ernährung sei es erforderlich gewesen, ihn zur ausreichenden Flüssigkeitsaufnahme anzuleiten, hierfür erachte das Gericht den gutachtlich ermittelten Zeitwert von drei Minuten täglich für ausreichend und angemessen. Im Bereich der Mobilität gehe das Gericht beim An- und Entkleiden von einem Hilfebedarf im Umfang von täglich drei Minuten und zwei Minuten aus. Ab Mitte Juni 2011 habe sich der Hilfebedarf des Klägers infolge der Medikamentenumstellung deutlich reduziert. Die allgemeine und notwendige psychosoziale Betreuung durch den gesetzlich bestellten Betreuer könne im grundpflegerelevanten Hilfebedarf keine Berücksichtigung finden. Im Übrigen sei nach der Richtlinie der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI (Begutachtungs-Richtlinie) eine Aufsicht, die darin bestehe zu überwachen, ob die erforderlichen Verrichtungen des täglichen Lebens überhaupt ausgeführt würden und lediglich dazu führe, dass gelegentlich zu bestimmten Handlungen aufgefordert werden müsse, nicht ausreichend. Ein allgemeiner Aufsichts- und Betreuungsbedarf eines Versicherten, der nicht konkret im Zusammenhang mit einer der im Katalog des § 14 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) abschließend aufgeführten Verrichtungen anfalle, sei im Rahmen der §§ 14, 15 SGB XI nicht zu berücksichtigen.

Dagegen hat der Kläger am 15. Juni 2012 Berufung eingelegt. Er wiederholt sein bisheriges Vorbringen. Dass er sehr schwer zu den regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens zu motivieren sei, sei in keinem der Gutachten berücksichtigt worden.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 11. Juni 2012 und den Bescheid vom 3. Mai 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. November 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm vom 23. März 2011 bis 30. November 2011 Pflegegeld nach Pflegestufe I zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist auf ihr bisheriges Vorbringen und die Entscheidungsgründe des angefochtenen Gerichtsbescheids. Ergänzend hat sie mitgeteilt, dass der Kläger zwischenzeitlich keinen Neuantrag gestellt habe. Mit Bescheid vom 2. Oktober 2012 seien ihm jedoch ab 1. Januar 2013 Pflegeleistungen für Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz unter Zugrundelegung der Pflegestufe 0 bewilligt worden.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Senatsakte, die Akte des SG und den von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgang Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers, über die der Senat gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 (Sozialgerichtsgesetz (SGG) mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und auch statthaft. Der Beschwerdewert des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG von EUR 750,00 ist überschritten. Für den Zeitraum vom 23. März bis 30. November 2011 ergibt sich ein Pflegegeld nach der Pflegestufe I in Höhe von EUR 1.867,50 (EUR 67,50 für die Zeit vom 23. bis 31. März 2011 (9/30 von EUR 225,00), EUR 225,00 für die Monate April bis November 2011 (8 x EUR 225,00)).

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 3. Mai 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. November 2011 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Für die im Berufungsverfahren allein noch begehrte Zeit vom 23. März bis 30. November 2011 bestand kein Anspruch auf Pflegegeld der Pflegestufe I.

Pflegebedürftige können nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB XI anstelle der Pflegesachleistungen ein Pflegegeld erhalten. Pflegebedürftig sind nach § 14 Abs. 1 SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens, die im Einzelnen in § 14 Abs. 4 SGB XI genannt sind, auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate in erheblichem oder höherem Maß (§ 15 SGB XI) der Hilfe bedürfen. Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) sind nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XI Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen (§ 15 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI). Die Grundpflege umfasst die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen aus den Bereichen der Körperpflege (§ 14 Abs. 4 Nr. 1 SGB XI), der Ernährung (§ 14 Abs. 4 Nr. 2 SGB XI) und der Mobilität (§ 14 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI). Zur Grundpflege zählt ein Hilfebedarf im Bereich der Körperpflege beim Waschen, Duschen, Baden, der Zahnpflege, dem Kämmen, Rasieren, der Darm- und Blasenentleerung, im Bereich der Ernährung beim mundgerechten Zubereiten der Nahrung und der Aufnahme der Nahrung sowie im Bereich der Mobilität beim selbstständigen Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, dem An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen und dem Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung. Das Ausmaß des Pflegebedarfs ist nach einem objektiven ("abstrakten") Maßstab zu beurteilen. Maßgebend für den zeitlichen Aufwand ist grundsätzlich die tatsächlich bestehende Pflegesituation unter Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse des zu Pflegenden, allerdings am Maßstab des allgemein Üblichen. § 14 SGB XI stellt allein auf den "Bedarf" an Pflege und nicht auf die im Einzelfall unterschiedliche Art der Deckung dieses Bedarfs oder die tatsächlich erbrachte Pflege ab (vgl. BSG, Urteil 21. Februar 2002 - B 3 P 12/01 R - in juris). Bei der Bestimmung des erforderlichen Zeitbedarfs für die Grundpflege sind als Orientierungswerte die Zeitkorridore der Begutachtungs-Richtlinie zu berücksichtigen. Diese Zeitwerte sind zwar keine verbindlichen Vorgaben; es handelt sich jedoch um Zeitkorridore mit Leitfunktion (Abschnitt F Nr. 1 Begutachtungs-Richtlinie; vgl. dazu BSG, Urteil vom 22. Juli 2004 - B 3 P 6/03 R - in juris m.w.N.). Dabei beruhen die Zeitkorridore auf der vollständigen Übernahme der Verrichtungen durch eine Laienpflegekraft. Die Zeiten für den Hilfebedarf bei den einzelnen Verrichtungen beruhen regelmäßig auf Schätzungen, denen eine gewisse und auf wenige Minuten beschränkte Unschärfe nicht abgesprochen werden kann und die dennoch hinzunehmen sind (vgl. BSG, Urteil vom 10. März 2010 - B 3 P 10/08 R - in juris).

Beim Kläger bestand in der Zeit vom 23. März bis 30. November 2011 bei den Verrichtungen der Grundpflege ein täglicher Hilfebedarf von maximal 21 Minuten, wobei der Senat einen Hilfebedarf in dieser Höhe bereits ab Juli 2011 für eher überhöht hält.

Beim Kläger besteht eine bipolare affektive Störung und eine leichte kognitive Störung. Diese hatte von März bis November 2011 zur Folge, dass der Kläger zum Duschen, zur Zahnpflege, und auch zum Rasieren der Anleitung und teilweise Überwachung bedurfte, zur Nahrungsaufnahme aufgefordert werden musste und auch im Bereich des An- und Entkleidens der Unterstützung bedurfte. Aufgrund der dem Kläger im März 2011 verordneten Medikation war in dieser Zeit auch das Gangbild des Klägers eher mittelschrittig bzw. etwas gebunden und nach vornüber gebeugt. Abgesehen davon bestanden jedoch keine motorischen Beeinträchtigungen und auch weder eine Darm- noch eine Blasenschwäche. Die Toilettenbenutzung war dem Kläger selbstständig möglich. Im Juni 2011 wurden beim Kläger die Medikamente umgestellt, worauf es ihm schrittweise besser ging. Ab November 2011 führt der Kläger nach den Angaben der bei der am 23. Januar 2012 durch Pflegefachkraft F. durchgeführten Begutachtung anwesenden Personen die Körperpflege wieder alleine durch, zieht sich selbstständig an und aus und richtet sich sein Essen selbst. Auch die Gangunsicherheit besteht nicht mehr. Dies ergibt sich aus den Gutachten von Pflegefachkraft L. vom 26. April 2011, Pflegefachkraft B. vom 16. Juni 2011, dem Gutachten der Sachverständigen F. vom 22. April 2012 und ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 27. Mai 2012 und der sachverständigen Zeugenauskunft des Dr. M. vom 31. Januar 2012 sowie den Arztbriefen des Dr. N. vom 24. Mai und 26. Juli 2011. Eine Bestätigung der mittlerweile wieder stabilen Situation des Klägers findet sich auch im Gutachten des Dr. B. vom 13. März 2012.

Wie das SG stützt sich der Senat bezüglich des notwendigen Hilfebedarfs des Klägers im Bereich der Grundpflege im streitgegenständlichen Zeitraum auf die schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten der Pflegefachkräfte L. und B. und der Sachverständigen F ... Der von Pflegefachkräften L. und B. geschätzte Hilfebedarf von 14 Minuten für die Körperpflege erscheint plausibel. Der Kläger war in der streitgegenständlichen Zeit in der Lage, die Verrichtungen der Grundpflege selbstständig durchzuführen. Er bedurfte lediglich der Motivation und Anleitung sowie teilweise der Überwachung für das Duschen, Rasieren und die Zahnpflege, wobei diese Beaufsichtigung hier zu berücksichtigen ist, da sie im Zusammenhang mit den in § 14 SGB XI abschließend aufgezählten Verrichtungen steht. In seiner Mobilität war der Kläger jedoch abgesehen von der Gangunsicherheit, die aber einem selbstständigen Stehen und Gehen nicht entgegenstand, nicht eingeschränkt. Berücksichtigt wird insoweit die Notwendigkeit eines täglichen Hilfebedarfs. Darauf, ob die Pflegeperson des Klägers diesen täglich unterstützte, kommt es nicht an. Entscheidend ist, dass der Hilfebedarf notwendig gewesen wäre. Die Angaben des Klägers in seinem Antrag und der Widerspruchsbegründung bezüglich des Duschens, des Kämmens, der Zahnpflege und der Rasur sind insoweit, nachdem nur eine Anleitung und Motivation des Klägers, jedoch nicht die tatsächliche Übernahme der Verrichtung erforderlich war, überhöht und deshalb nicht geeignet einen Hilfebedarf in einem höheren Umfang zu begründen. Der vom Kläger darüber hinaus angesetzte Bedarf im Bereich der Körperpflege in Form einer täglichen Teilwäsche des Unterkörpers ist deswegen nicht plausibel, weil ein tägliches Duschen zugrunde gelegt wurde und der Kläger weder darm- noch stuhlinkontinent war. Auch ein Hilfebedarf mit Blick auf das Richten der Bekleidung ist angesichts fehlender Mobilitätseinschränkungen des Klägers nicht ersichtlich.

Hinsichtlich der Ernährung war wegen der Notwendigkeit, den Kläger zum Essen aufzufordern, von einem Hilfebedarf von insgesamt drei Minuten auszugehen, was der übereinstimmenden Schätzung der Gutachterinnen entspricht und auch vom Kläger nicht beanstandet wird.

Für Mobilität bestand ein täglicher Hilfebedarf von fünf Minuten. Der Kläger benötigte Unterstützung und Anleitung beim An- und Entkleiden. Insbesondere musste ihm witterungsgerechte Kleidung bereit gelegt werden. Der vom Kläger insoweit angegebene Bedarf von zehn Minuten erscheint auch insoweit überhöht, nachdem der Kläger sich selbst an- und entkleiden konnte. Nicht nachvollziehbar ist in diesem Zusammenhang der vom Kläger angegebene Hilfebedarf mit Blick auf das Aufstehen und Zubettgehen, nachdem zu keiner Zeit darüber berichtet wurde, dass der Kläger die Tage im Bett verbringen würde und der Kläger in der Lage war, sich selbstständig abzulegen und wieder aufzustehen.

Die Kostenentscheidung folgt aus §193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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