S 10 VE 18/11

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
10
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 10 VE 18/11
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Leitsätze
1) Der Beweismaßstab des § 1 Abs. 3 S. 1 BVG umfasst sowohl die haftungsbegründende als auch die haftungsausfüllende Kausalität.
2) Zu den Beweisanforderungen für die Anerkennung einer Tuberkuloseerkrankung als Schädigungsfolge eines Lageraufenthalts i.S.d. § 1 Abs. 2 a BVG in der Zeit von 1945 - 1949.
1. Der Bescheid vom 04.02.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.12.2011 wird aufgehoben.

2. Der Beklagte wird verurteilt, die Tuberkuloseerkrankung des Klägers als Schädigungsfolge im Sinne des § 1 BVG anzuerkennen und dem Kläger Versorgungsleistungen in gesetzlichem Umfang ab Antragstellung zu gewähren.

3. Der Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung und Entschädigung einer Tuberkuloseerkrankung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Der Kläger wurde 1941 geboren. In der Zeit von Mai 1945 bis Juni 1949 hielt er sich in einem Lager unter russischer Führung bei EE. in der Nähe der Bahnstation QQ. bei Posen (Polen) auf. Am 29.06.1949 wurde er nach Deutschland in ein Auffanglager in WW. (Frankfurt Oder) repatriiert, bevor er nach Leipzig kam. Der Kläger ist an Tuberkulose erkrankt. In der Zeit vom 03.05.1957 bis 04.08.1958 verbrachte der Kläger einen Klinikaufenthalt im Rehabilitationszentrum RR. in RT ... Das Bezirksamt Schöneberg – Tuberkulosefürsorgestelle – bewertet die beim Kläger bestehenden Lungenfunktionseinschränkungen mit Befundbericht vom 29.12.1976 mit einer MdE von 70. Das Hessische Amt für Versorgung und Soziales Kassel berücksichtigt – zuletzt im Bescheid vom 21.11.2007 – die Lungenkrankheit bei der Bemessung des Grades der Behinderung.

Am 21.01.2010 beantragte der Kläger die Anerkennung der Tuberkulose als Schädigungsfolge im Sinne des BVG. Zur Begründung führte der Kläger aus, dass die Tuberkulose Folge seines Lageraufenthalts in QQ. war. Mit der beigefügten Bescheinigung des Deutschen Roten Kreuzes vom 14.01.2010 ließ sich ein Aufenthalt im Lager in QQ. nicht nachweisen. Auf Nachfrage des Beklagten legte der Kläger ein "Erklärung" seiner Schwester, B., geb. A., vom 10.02.2010 vor. Darin bestätigt die Schwester den Aufenthalt im Lager in QQ. Aus Gesprächen mit ihrer 1989 verstorbenen Mutter wüsste sie, dass der Kläger das Lager mit einer Tuberkuloseerkrankung verlassen habe. Bei der Ankunft in Leibzig habe sich der Kläger bei der Tuberkulosefürsorgestelle melden müssen.

Ermittlungen des Beklagten zu Krankenhausaufenthalten in den Jahren 1949/1950 blieben – weitestgehend wegen zwischenzeitlich vernichteter Akten – erfolglos. Nachgewiesen werden konnte ein Klinikaufenthalt in der Zeit vom 03.05.1957 bis 04.08.1958 im Rehabilitationszentrum RR. in RT.

Mit Bescheid vom 04.02.2011 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers ab. Selbst wenn man unterstellte, dass ein Sachverhalt im Sinne des BVG vorliege, käme ein Anspruch auf Versorgungsleistungen nicht in Betracht, weil sich der Nachweis nicht führen ließe, dass der Kläger im Lager an Tuberkulose erkrankt sei. Er selbst sei zum Zeitpunkt der Entlassung noch ein Kleinkind gewesen und könne bereits deshalb weder die Art der Krankheit verstehen noch beurteilen. Auch die Schwester kenne den Sachverhalt nur vom Hörensagen. Ermittlungen nach weiteren medizinischen Unterlagen seien erfolglos geblieben. Nach dem versorgungsrechtlichen Grundsatz der objektiven Beweislast ginge die Folge der objektiven Beweislosigkeit zu seinen Lasten.

Am 16.02.2011 erhob der Kläger dagegen Widerspruch. In Bezug auf den Bescheid vom 04.02.2011 wies er darauf hin, dass sich der Ersteller des Bescheides keine Vorstellungen über die Verhältnisse im Lager gemacht habe. Er habe die Verhältnisse sehr wohl einschätzen können, andernfalls hätte er das Lager nicht überlebt. Seine Schwester sei an der so genannten "Englischen Krankheit" erkrankt. Seiner Mutter seien bei Arbeitsdiensten in der näheren Umgebung des Lagers sämtliche Zehen abgefroren. Dergleichen wüsste er nicht vom Hörensagen. Als Folge des Lageraufenthalts habe er begonnen zu stottern. Dieser Sprachfehler habe ihn bis ins hohe Alter begleitet.

Während der Überführung nach Deutschland sei er im Lager WW. wegen der Tuberkulose sofort in Quarantäne verlegt worden. In Leipzig habe er sich unverzüglich auf der Tuberkulose-Meldestation einfinden müssen und sei sodann ständiger Kontrolle ausgesetzt gewesen. 1957 sei die Krankheit ausgebrochen, was einen Heilstättenaufenthalt notwendig gemacht habe.

Am 04.05.2011 legte der Kläger eine Bescheinigung des Deutschen Roten Kreuzes vor, mit der sein Lageraufenthalt bestätigt wurde. Eine Sachstandsanfrage vom 02.06.2011 blieb unbeantwortet.

Mit Widerspruchsbescheid vom 02.12.2011 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Zwar liege ein Internierungstatbestand im Sinne von § 1 Abs. 2 c BVG vor, jedoch sei nicht nachgewiesen, dass der Kläger bereits während der Inhaftierungszeit bzw. zeitlich früher als 1957 an Tuberkulose erkrankt sei. Der Grundsatz der objektiven Beweislast ginge zu seinen Lasten.

Am 20.12.2011 hat der Kläger dagegen Klage zum Sozialgericht Kassel erhoben, mit der er seinen Anspruch weiterverfolgt.

Der Kläger beantragt (sinngemäß):
1. Den Bescheid vom 04.02.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.12.2011 aufzuheben.
2. Den Beklagten zu verurteilen, die Tuberkuloseerkrankung als Schädigungsfolge im Sinne des § 1 BVG anzuerkennen und Versorgungsleistungen in gesetzlicher Höhe ab Antragstellung zu gewähren.

Der Beklagte beantragt:
Die Klage abzuweisen.

Er verteidigt den angegriffenen Bescheid.

Am 08.05.2012 hat das Gericht einen Erörterungstermin durchgeführt, in dem der Kläger ausführlich zu den maßgebenden Umständen vernommen wurde. Wegen der weiteren Einzelheiten wird insoweit auf das Protokoll des Erörterungstermins Bezug genommen.

Am 23.05.2012 hat der Kläger eine weitere Bescheinigung des Deutschen Roten Kreuzes vorgelegt. Darin heißt es – in Bezug auf die Zustände im Lager in QQ. – wörtlich:

Über die hygienischen/gesundheitlichen Verhältnisse im Lager liegen nur wenige Angaben vor. Es finden sich einige Einzeläußerungen: "Erkrankte kamen in die Sanitätsbaracke", "Hunderte starben an Bauchtyphus, Hunger und Wasser", "Zuerst Massengräber, später Einzelgräber", "Die Sterblichkeit bei Alten und unterernährten Kindern war groß", "Im Lager starben viele Frauen und Kinder". Von Krankentransporten ist nur zweimal die Rede, einmal für 1945 als 700 Kranke und Schwerbehinderte entlassen worden sein sollen und für das Frühjahr 1950 als ein Transport mit Frauen nach Fürstenwalde/Spree zur Entlassung ging.

Auch für die späteren Jahre, 1948 – 1950 werden in zwei Aussagen relativ hohe Todeszahlen angegeben.

Da es sich bei dem Lagerbereich um einen relativ kleinen bzw. dicht belegten Komplex handelte, der bis auf diejenigen Internierten, die zum Arbeitseinsatz außerhalb des Lagers eingesetzt waren, relativ geschlossen war, kann das Grassieren von Krankheiten im Lagerbereich durchaus epidemischen Charakter angenommen haben. Die Rede ist hier in den wenig erhaltenen Aussagen von Typhus. Nach den hiesigen Erfahrungen ist das gleichzeitige Aufkommen von Tuberkulose kaum auszuschließen, zumal die "Einweisungen" in das Lager Deutsche der umliegenden Siedlungsgebiete ebenso betraf wie Flüchtlinge aus weiter entfernt gelegenen Regionen, alles unter den Lebens- und Versorgungsbedingungen des Krieges.

Der Beklagte hält die Ausführungen des Klägers für "zu vage", um sie einer Entscheidung zugrunde zu legen. Weiterhin weist der Beklagte darauf hin, "dass das menschliche Erinnerungsvermögen rekonstruktiv und nicht reproduktiv angelegt" sei.

Mit Verfügung vom 18.07.2012 hat das Gericht darauf hingewiesen, dass es die Ausführungen des Klägers – in Übereinstimmung mit dem Sitzungsvertreter des Beklagten – für glaubhaft erachte. Die Beteiligten wurden ferner zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.

Der Beklagte hat weder zum Hinweis des Gerichts, noch zu den Ausführungen des Roten Kreuzes Stellung genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, die beigezogenen Beklagtenakte sowie auf das Protokoll des Erörterungstermins vom 08.05.2012 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Rechtsstreit konnte ohne mündliche Verhandlung gem. § 105 Abs. 1 S. 1 SGG durch Gerichtsbescheid in Beschlussbesetzung – ohne ehrenamtliche Richter – entschieden werden, nachdem die Beteiligten zuvor darüber angehört wurden und die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist sowie der Sachverhalt darüber hinaus, wie er für die Entscheidung allein rechtlich relevant ist, geklärt ist. Der Gerichtsbescheid wirkt insoweit als Urteil, § 105 Abs. 3, 1. HS SGG.

Die zulässige Klage ist auch begründet.

Der angegriffene Bescheid des Beklagten vom 04.02.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.12.2011 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Beklagte hat den Antrag des Klägers zu Unrecht abgelehnt. Der Kläger hat Anspruch auf Versorgung nach § 1 BVG.

Der Beklagte geht selbst davon aus, dass ein Internierungstatbestand im Sinne des § 1 Abs. 2c BVG vorliegt. Danach besteht Anspruch auf Versorgung gem. § 1 Abs. 1 BVG für Schädigungen, die herbeigeführt worden sind durch eine Internierung im Ausland wegen deutscher Staatsangehörigkeit oder deutscher Volkszugehörigkeit. Weitere Ausführungen sind insoweit entbehrlich.

Entgegen der Auffassung des Beklagten ist die beim Kläger vorhandene Tuberkulose auch als Schädigungsfolge anzuerkennen.

Gem. § 1 Abs. 1 BVG ist ein Entschädigungsanspruch grundsätzlich von einem Kausalzusammenhang abhängig. Als Beweismaßstab legt § 1 Abs. 3 S. 1 BVG Wahrscheinlichkeit fest. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab umfasst dabei sowohl die haftungsbegründende als auch die haftungsausfüllende Kausalität (BSG, Urt. v. 15.12.1999 – B 9 VS 2/98 R, juris Rn. 18 ff. unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung; Knickrehm, in: Knickrehm (Hg.), Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 1 BVG Rn. 31). Die anspruchsbegründenden Tatsachen, namentlich schädigendes Ereignis respektive schädigender Vorgang, Primärschädigung und die Schädigungsfolge müssen indessen nachgewiesen sein. Dies ist vorliegend zwischen den Beteiligten nicht (mehr) streitig. Der Beklagte geht selbst davon aus, dass der Kläger in der Zeit von 1945 bis 1949 in einem Lager untergebracht war (schädigendes Ereignis/ schädigender Vorgang). Unstreitig ist auch, dass der Kläger an Tuberkulose erkrankt ist (Primärschädigung) und dass sich daraus entsprechende Schädigungsfolgen ergeben.

Entgegen der Ansicht des Beklagten hält es das Gericht insoweit für wahrscheinlich, dass die Tuberkulose Folge des Lageraufenthalts war. Wahrscheinlichkeit i.S.d. § 1 Abs. 3 S. 1 BVG liegt vor, wenn unter Berücksichtigung der herrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (Knickrehm, in: Knickrehm (Hg.), Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 1 BVG Rn. 30). Dabei berücksichtigt die Kammer, dass die Tuberkulose beim Kläger nicht bereits während des Lageraufenthalts ausgebrochen ist, mithin der zeitliche Zusammenhang nicht unmittelbar ist. Zu beachten ist aber insoweit, dass Tuberkuloseerkrankungen häufig nicht unmittelbar nach der Infektion, sondern erst später ausbrechen. Insgesamt erkranken nur zwischen 5 und 10 % der Infizierten. Die Hälfte erkrankt innerhalb der ersten beiden Jahre nach der Infektion, die andere Hälfte im Laufe des Lebens (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl. 2010, S. 743 9.4 m.w.N.). Die vom Kläger glaubhaft geschilderten Vorsorgemaßnahmen während und nach seiner Repatriierung hält das Gericht für ausreichend, um die Wahrscheinlichkeit der Kausalität zwischen Lageraufenthalt und Tuberkuloseerkrankung herzustellen. Weiterhin bestätigt auch die Bescheinigung des Roten Kreuzes zu den Zuständen im Lager QQ. unter Einbeziehung der allgemeinen Erfahrungen in Bezug auf die Zustände in vergleichbaren Lagern die Wahrscheinlichkeit für eine dortige Infektion. Zumal die hygenischen Verhältnisse maßgeblich das Infektionsrisiko bestimmen. Ferner werden Gefangene als Risikogruppe in Bezug auf Tuberkuloseinfektionen angeführt (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl. 2010, S. 743 9.4.1 m.w.N.). Dabei verkennt die Kammer auch nicht, dass die allgemeinen Zustände 1949 und in den Folgejahren durchaus auch eine Erkrankung erst zu diesem Zeitpunkt möglich erscheinen lassen. Gleichwohl hält es das Gericht für wahrscheinlich, dass sich der Kläger die Erkrankung während des Lageraufenthalts von 1945 bis 1949 zugezogen hat.

Zur Überzeugung der Kammer betrifft die Beweiserleichterung des § 1 Abs. 3 S. 1 BVG gerade Fälle wie den vorliegenden. Soweit der Beklagte, unter Rekurs auf das junge Alter des Klägers zum Zeitpunkt des Lageraufenthalts und seine später fehlende Erinnerungs- und Bewertungsfähigkeit, einen Anspruch des Klägers ablehnt, verkürzt er damit in unzulässiger Weise den Beurteilungsrahmen. Insgesamt lässt die Entscheidung des Beklagten eine angemessene Auseinandersetzung mit den tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten vermissen.

Der Kläger hat die Schädigung auch nicht im Sinne des § 1 Abs. 4 BVG absichtlich herbeigeführt. Mithin steht dem Kläger ein Entschädigungsanspruch nach § 1 Abs. 1 BVG zu.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 S. 1 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache. Gem. § 183 S. 1 SGG ist das Verfahren für den Kläger gerichtskostenfrei.
Rechtskraft
Aus
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