L 32 AS 223/13 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
32
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 93 AS 763/13 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 32 AS 223/13 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 16. Januar 2013 wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe:

Im Streit ist der Anspruch der Antragstellerin auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) im Wege einstweiliger Anordnung.

Mit Bescheid vom 02. Oktober 2012 lehnte der Antragsgegner den Antrag der 1985 geborenen Antragstellerin polnischer Staatsbürgerschaft vom 29. September 2012 auf Weiterbewilligung von Leistungen nach dem SGB II ab, da der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II dem Anspruch entgegenstehe. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 18. Oktober 2012 zurück, soweit nicht mit Bescheid vom16.Oktober 2012 vom 1. Oktober 2012 bis 05.Januar 2013 von Leistungen nach dem SGB II bewilligt wurden.

Mit Schriftsatz vom 15. November 2012 erhob die Antragstellerin Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 18. Oktober 2012 und stellte am 04. Januar 2013 beim Sozialgericht (SG) Berlin eingehend den hier streitgegenständlichen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Die Voraussetzungen für den Erlass einer Regelungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG lägen vor. Die Anwendbarkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II sei nicht mit hinreichender Gewissheit gegeben. Ob der Leistungsausschluss europarechtskonform ist, sei durch die höchstrichterliche Rechtsprechung bisher nicht geklärt und in der Rechtsprechung der Instanzgerichte hoch umstritten. Das Verfahren sei deshalb nicht abschließend klärungsfähig. Es hängt von der Folgenabwägung davon ab, ob Leistungen vorläufig zuzusprechen seien. Eine Abwägung sei dann zugunsten der Antragstellerin zu treffen, denn zurzeit bestehe kein hinreichendes eigenes Vermögen oder Einkommen zur Verfügung, um elementare Bedürfnisse zu befriedigen. Allein der fiskalische Gesichtspunkt überwiege die grundrechtlich geschützte Position der Antragstellerin nicht. Sie unternehme alles, um auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Sie nehme an einer Maßnahme "Fit für Dienstleistungsberufe" bei der Firma Arbeit Sofort GbR teil.

Die Antragstellerin hat beantragt,

den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Antragsgegner hat beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Ein Anspruch auf Leistung nach dem SGB II bestehe nicht. Die Antragstellerin sei keine deutsche Staatsangehörige, besitze die polnische Staatsbürgerschaft und sei daher Unions- bürgerin. Sie habe vom 05.März 2012 bis 05. Juli 2012 gearbeitet. Da ihr Arbeitsverhältnis nach weniger als einem Jahr geendet habe, sei ihr Status als Arbeitnehmerin für weitere 6 Monate aufrechterhalten geblieben nach § 2 Abs. 3 Satz 2 Freizügigkeitsgesetz/EU (FReizügG/EU). Damit verweile die Antragstellerin mit dem 06. Januar 2013 nur zur Arbeitssuche in Berlin, sodass nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II der Anspruch dem Grunde nach ausgeschlossen sei. Dies sei auch europarechtskonform. Auf Rechtsprechung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg wurde Bezug genommen.

Mit Beschluss vom 16. Januar 2013 hat das SG den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab 06. Januar 2013 bis zur bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens bis 30. Juni 2013, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II im gesetzlichen Umfang zu gewähren. Der Antragsstellerin wurde Prozesskostenhilfe bewilligt. Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass Fragen hinsichtlich der Europarechtskonformität des Ausschlussgrundes des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht geklärt werden könnten, so dass der Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache offen sei. Die vorzunehmende Folgenabwägung führe dazu, dass Leistungen zu bewilligen seien und das rein fiskalische Interesse des Antragsgegners zurücktreten müsse. Da die Antragstellerin kein Einkommen habe, stehe mit Wahrscheinlichkeit fest, dass ein Geldbetrag zu zahlen sei. Das Gericht habe daher eine Verpflichtung des Antragsgegners gemäß § 130 SGG analog dem Grunde nach aussprechen können.

Gegen den dem Antragsgegner am 17. Januar 2013 zugestellten Beschluss richtet sich die am 25. Januar 2013 beim Landessozialgericht Berlin-Brandenburg eingegangene Beschwerde des Antragsgegners mit dem Antrag,

den Beschluss vom 16.Januar 2013 aufzuheben und den Antrag abzulehnen,

die Vollstreckung der einstweiligen Anordnung aus dem Beschluss auszusetzen

hilfsweise die Regelleistung auf 80 % zu beschränken.

Der Antragsgegner trug insbesondere zur Begründung vor, das Bundessozialgericht habe zwar im Urteil vom 19. Oktober 2010 (B 14 AS 23/10) entschieden, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für Staatsangehörige von Vertragsstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens keine Anwendung finde, nunmehr habe jedoch die Bundesrepublik Deutschland u. a. für Leistungen nach dem SGB II den folgenden Vorbehalt gegen das Europäische Fürsorgeabkommen vom 15. Dezember 2011 erklärt: "Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland übernimmt keine Verpflichtung, die im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – in der jeweils geltenden Fassung vorgesehenen Leistungen an Staatsangehörige der übrigen Vertragsstaaten in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen wie den eigenen Staatsangehörigen zuzuwenden". Der Vorbehalt sei mit Wirkung vom 19. Dezember 2011 in Kraft getreten. Damit fänden die Ausschlussgründe nach §7 Abs.1 Satz 2 Nr.1und 2 SGB II auf die Staatsangehörigen der Vertragsstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens wieder Anwendung.

Rechtssprechung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg wurde im Einzelnen zitiert.

Da die Höhe der Leistungen nach dem AsylBLG von dem Bundesverfassungsgericht mit dem Grundgesetz vereinbar sei, sei der Antragsgegner der Ansicht, dass 80 Prozent der Regelleistung im Rahmen einer Eilentscheidung das Existenzminimum sichern könnten.

Die Antragstellerin hat sich nicht geäußert.

Mit Beschluss vom 08.Februar 2013 wurde der Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung abgelehnt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der vorliegenden Gerichtsakten und Verwaltungsakten des Antragsgegner.

II.

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.

Das Gericht kann nach § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) stets die Glaubhaftmachung des Vorliegens des Anordnungsgrundes (die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile) als auch eines Anordnungsanspruchs (die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Hauptsache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs). Grundsätzlich soll wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung die endgültige Entscheidung der Hauptsache nicht vorweggenommen werden.

Ein Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft gemacht, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen überwiegend wahrscheinlich sind, dies erfordert, dass mehr für als gegen die Richtigkeit der Angaben spricht (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage § 86 b Rdnr. 16 b).

Unter Anwendung dieser Maßstäbe ist die sozialgerichtliche Entscheidung nicht zu beanstanden.

Der Anordnungsgrund ist hier für die Zeit ab 06. Januar 2013 zu bejahen. Die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, auf Leistungen nach dem SGB II zur Existenzsicherung angewiesen zu sein. Sie verfügt nach ihren Angaben über keine Einnahmen. Ihr steht auch grundsätzlich ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II zu. Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 SGB II sind erfüllt. Nach dieser Vorschrift erhalten Leistungen Personen, die

1. das 15. Lebensjahr vollendet, dieAltersgrenze nach § 7 a noch nicht erreicht haben oder 2. erwerbsfähig sind, 3. hilfebedürftig sind, 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben.

Die Antragstellerin erfüllt die Voraussetzungen zu 1. und ist auch hilfebedürftig, da sie nach ihren glaubhaften Angaben zu ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Desweiteren ist glaubhaft, dass sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat. Nach § 30 Abs. 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Die Antragstellerin ist seit dem 15.Januar 2012 in Berlin gemeldet und hat dort eine Wohnung mit der Absicht, in der Bundesrepublik zu bleiben. Nach ihren Angaben unternimmt sie Anstrengungen, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Die Antragstellerin ist auch erwerbsfähig, was sich ebenfalls aus ihren Angaben soweit ergibt, als sie an einer Maßnahme "Fit für Dienstleistungsberufe" teilgenommen und vorübergehend auch in Deutschland gearbeitet hat.

Die Frage, ob der Anspruch gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossen ist, kann im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend beurteilt werden. Nach dieser Vorschrift sind ausgenommen

1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmer, Selbständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 des Freizügigkeitsgesetzes – EU freizügigkeitsberechtigt sind und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts, 2. Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt und ihre Familienangehörigen, 3. Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.

Zwar dürfte sich hier das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergeben. Umstritten ist allerdings, ob die Ausschlussnorm des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II europarechtskonform ist. Das SG hat in der angefochtenen Entscheidung bereits hierauf hingewiesen. Die Schwierigkeit und Komplexität der Beurteilung erfordern, dass die Klärung dem Hauptsacheverfahren vorzubehalten ist. Es war daher im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Das gilt besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundsätzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 – abgedruckt in juris). Insoweit stellt Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen könnten, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären (BVerfG a.a.O., juris Rdnr. 24).

Die vom SG vorgenommene Folgenabwägung ist vorliegend nicht zu beanstanden.

Der Senat nimmt hierauf Bezug.

Insoweit bleibt die Beschwerde erfolglos.

Auch hinsichtlich des Hilfsantrags, einen Abschlag in der bewilligten Leistung vorzunehmen, bleibt die Beschwerde erfolglos. Dabei verkennt der Senat nicht, dass der Grundsatz der unzulässigen Vorwegnahme der Hauptsache insoweit begegnet werden kann, dass Leistungen nur mit einem Abschlag zugesprochen werden können (BVR 569/05 AO Rz. 36 bei juris). Allerdings erscheint dies auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Höhe der Leistungen nach dem AsylBLG hier nicht geboten.

Die Entscheidung über die Kostenerstattung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.

Diese Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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