S 15 U 304/12 FdV

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Landshut (FSB)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
15
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 15 U 304/12 FdV
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Unfallversicherung
I. Die Beklagte wird verurteilt, unter Abänderung des Bescheides vom 24.08.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.12.2010 und des Bescheides vom 04.12.2012 bei der Klägerin als (weitere) Unfallfolge eine "spezifische Phobie im Sinne einer Fahrphobie" anzuerkennen.

II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

III. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu 3/10.



Tatbestand:


Die Klägerin begehrt weiterhin die Anerkennung einer "Anpassungsstörung" als Folge des Unfalles vom 28.07.2008, sowie die Neuanerkennung einer "depressiven Störung" als weitere Unfallfolge, sowie die Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 30 v. H. über den 31.12.2012 hinaus.

Die am ...1967 geborene Klägerin war im Unfallzeitpunkt als Büroangestellte bei der Fa. L.-G. in A. beschäftigt. Am 28.07.2008 befand sie sich gerade mit ihrem Pkw auf dem Weg von der Arbeit nach Hause. Plötzlich fuhr eine ältere Fahrradfahrerin aus einer Einfahrt heraus und nahm ihr die Vorfahrt. Aus diesem Grund kollidierte der Pkw der Klägerin mit der Fahrradfahrerin, wobei der Zusammenstoß für die Klägerin unvermeidbar war. Zum Kollisionszeitpunkt betrug die Fahrgeschwindigkeit des klägerischen Fahrzeugs etwa 30 bis 40 km/h. Die Fahrradfahrerin stürzte und zog sich hierbei eine Arm- und Rippenfraktur, sowie eine stark blutende Kopfplatzwunde zu. Die Klägerin half der Fahrradfahrerin auf. Ein Krankenwagen wurde gerufen.

Die Klägerin selbst wurde vom Krankenwagen ins verbracht. Aus dem dortigen Durchgangsarztbericht vom 28.07.2008 (17.27 Uhr) ergibt sich zum primären Unfallfolgezustand der Klägerin folgender Befund: "Keine Verletzungen, RR 130/90, Herzfrequenz 72 Schläge/min., Temperatur 38,2°, psychisch stabil, keine commotio-Symptomatik, Cor: rein rhythmische Herztöne, Pulmo: vesikuläre AG´s, Abdomen unauffällig". Als Erstdiagnose wurde vom gestellt: "Psychischer Aufregungszustand (Ziff. F 43.0 des ICD10 aus dem Jahr 2012)".

In ihrer Unfallschilderung vom 07.08.2008 gab die Klägerin an, dass sie bei dem Unfall vom 28.07.2008 folgende Gesundheitsstörungen erlitten habe: "HWS-Schleudertrauma, Schockzustand mit ausgeprägten Schlafstörungen, Unruhezustand und depressive Verstimmung". Sie könne sich derzeit nicht ins Auto setzen, geschweige denn damit fahren. Der Unfall verfolge sie Tag und Nacht. Außerdem könne sie nicht mehr richtig schlafen. Der Hausarzt der Klägerin, Dr. H., bescheinigte ihr am 04.08.2008 deutliche Muskelverspannungen, sowohl im Bereich der HWS, BWS und der Schultern beidseits. Die HWS sei in beiden Richtungen schmerzbedingt deutlich eingeschränkt. Bei der Klägerin bestünde wegen des Unfallereignisses ein Schockzustand mit ausgeprägten Schlafstörungen, ein Unruhezustand und eine depressive Verstimmung. Als Therapie sei eine antiphlogistische und analgetische Therapie, sowie eine antidepressive Medikation erfolgt. Mit einer Ausheilung der Unfallfolgen sei in ca. 4 bis 5 Wochen zu rechnen. Dauerschäden seien nicht zu erwarten. Er attestierte zunächst Arbeitsunfähigkeit vom 28.07.2008 bis 01.08.2008.

Aus dem D-Arztbericht des Orthopäden Dr. T. (C-Stadt) vom 02.09.2008 ergibt sich, dass die Klägerin weiterhin über schmerzhafte Nackenverspannungen mit Ausstrahlungen in den rechten Arm und Einschlafen der drei medialen Finger rechts klage. Es wurde Krankengymnastik verordnet und eine Überweisung zur neurologischen Abklärung ausgestellt. Der Neurologe Dr. B. führte im Befund vom 08.09.2008 aus, dass bei der Klägerin keine unfallbedingten Schädigungen der Nervenwurzeln an der HWS und auch kein posttraumatisches Carpaltunnel-Syndrom rechts festzustellen seien. Am ehesten handle es sich bei den Beschwerden der Klägerin um ein unfallunabhängiges HWS-Syndrom und unfallunabhängige Spannungskopfschmerzen. Ein Kernspintomogramm der HWS vom 03.09.2008 ergab ebenfalls keine frischen traumatischen Verletzungen, lediglich eine Bandscheibenprotrusion bei HWK 4/5 und nur geringfügige Spondylchondrosen, keine Spondylarthrose. Es liege eine myogene Streck-Fehlhaltung vor.

Mit Schreiben vom 28.10.2008 wurde Dr. P. des Krankenhauses C-Stadt von der Beklagten gebeten, mitzuteilen, ob die attestierte Arbeitsunfähigkeit immer noch von den Folgen des Unfalles vom 28.07.2008 herrühre. Im Bericht vom 17.11.2008 teilte Dr. P. der Beklagten mit, dass bei der Klägerin weiterhin rezidivierende Hypästhesien im Bereich des rechten Armes, sowie rezidivierende Schmerzen im HWS-Bereich, sowie Kopfschmerzen vorlägen.

Die erste psychotherapeutische Behandlung nach dem streitigen Unfallereignis begann am 16.02.2009 bei der Psychiaterin F. in F-Stadt. Mit Kurzarztbrief vom 16.02.2009 stellte die Psychiaterin folgende Diagnosen: "Mittelschwere depressive Episode (F32.1); posttraumatische Belastungsstörung (F43.1)". Seit dem Unfall vom 28.07.2008 liege eine zunehmende depressive und agoraphobische Symptomatik mit Schlaf- und Vitalstörungen vor. Die Stimmung bei der Klägerin sei gedrückt, der Antrieb reduziert. Es bestehe eine Agoraphobie, ein Grübeln und Schuldgefühle, sowie Ein- und Durchschlafstörungen mit Früherwachen.

Zur Klärung der Zusammenhänge hat die Beklagte ein Gutachten vom Neurologen Dr. K. (St.) eingeholt. Im Gutachten vom 26.08.2009 kam Dr. K. zu dem Ergebnis, dass sich bei der Klägerin als Unfallfolge eine "Anpassungsstörung im Sinne einer länger dauernden depressiven Reaktion" entwickelt habe. Bei der Klägerin sei zwar eine einschlägige Vorerkrankung, eine Depression im Jahr 1997, bekannt. Sie sei damals zwei Monate lang wegen der depressiven Erkrankung arbeitsunfähig gewesen. Sie habe auch ansonsten viel Schlimmes hinter sich, u. a. einen körperlichen und sexuellen Missbrauch durch den Vater, den Tod der Eltern im Jahr 2001, die Scheidung vom ersten Ehemann im Jahr 2001, eine Zwillingsschwangerschaft im Jahr 2003/2004, wobei ein Zwilling gestorben sei. Der zweite Zwilling sei zu früh auf die Welt gekommen. Dr. K. kam daher zu dem Schluss, dass bei der Klägerin eine ausgeprägte Disposition zu einer depressiven Funktionsstörung als konkurrierende Ursache vorläge. Dennoch sei das Ereignis vom 28.07.2008 geeignet gewesen, die sich daran anschließende Anpassungsstörung zu verursachen. Die Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung seien jedoch nicht erfüllt. Die vorbestehende psychische Schadensanlage sei in ihrer Entwicklung durch das Unfallereignis vorübergehend verschlimmert worden. Es sei von einer maximalen Behandlungsdauer zu Lasten der BG von zwei Jahren auszugehen. Zunächst sei aber eine stationäre psychosomatische Rehabilitationsbehandlung anzuraten.

Im Zeitraum vom 06.10.2009 bis 17.11.2009 befand sich die Klägerin in stationärer psychotherapeutischer Behandlung in der H.-Klinik (Bad-G ...). Aus dem Entlassungsbericht vom 23.11.2009 ergeben sich folgende Diagnosen: "Posttraumatische Belastungsstörung; schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome; HWS-Syndrom; Asthma bronchiale bei Pollen- und Hausstauballergie; allergische Rhinitis, Nasenpolypen; anamnestisch Nephrolithiasis; Endometriose; grippaler Infekt mit Sinusitis und Tubenmittelohrkatarrh beidseits". Die Klägerin sei wegen der Erkrankungen weiterhin arbeitsunfähig. Seit dem Unfall vom 28.07.2008 leide sie unter Schlaflosigkeit, Albträumen, sie könne selbst nicht mehr Auto und Rad fahren und verbiete es ihrer 5-jährigen Tochter, Rad zu fahren. Vor dem Unfall habe sie ihre ganze Vorgeschichte für sich selbst lösen können, habe alles "gut verdrängt". Mit dem Unfall sei eine "Luftblase" geplatzt und sie sei "wie ein anderer Mensch" geworden. Ihre Kindheit sie problematisch gewesen. Zur Mutter habe sie ein sehr enges Verhältnis gehabt, diese sei oft vom Vater geschlagen worden, sowie auch die Klägerin selbst. Der Vater habe die Klägerin des Weiteren kontrolliert, gedemütigt und habe zweimal sogar versucht, sie umzubringen. Der Vater sei Alkoholiker gewesen und habe sie auch zwischen dem 8. und 13. Lebensjahr sexuell missbraucht (Vergewaltigungen). Mit 19 Jahren habe sich die Klägerin selbst zwei große Narben an den Armen zugefügt, um der Mutter zu beweisen, dass der Vater sie missbraucht habe. Die Mutter habe ihr jedoch nicht geglaubt. Der Vater sei 2001 an einer Leberzirrhose gestorben, die Mutter 5 Wochen später an einem Gehirnschlag. Die Klägerin trauere immer noch um ihre Mutter, diese sei "das Beste" gewesen, was sie in ihrem Leben gehabt habe. Bis zum Unfall vom 28.07.2008 habe sie aber eine gute Zeit erlebt, die Ehe sei sehr gut gewesen, man hätte viel Spaß zusammen gehabt und das Leben genossen. Seit dem Unfall sei nichts mehr so wie vorher.

Die H.-Klinik in Bad-G ... empfahl, die Klägerin ggf. im Wege von Fahrstunden wieder an das Autofahren heranzuführen, um auch wieder eine berufliche Rehabilitation zu ermöglichen. Die Beklagte teilte der Klägerin im Schreiben vom 10.12.2009 mit, dass die behandelnde Psychiaterin, Frau F., oder der behandelnde Psychologe, Herr S., gebeten würden, mit ihr die Fahrstunden zu organisieren und sie zu den Fahrstunden zu begleiten. Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation seien nicht angezeigt, wichtig sei aber die Wiederherstellung der Fahrfähigkeit. Das Verletztengeld würde spätestens mit Ablauf der 78. Woche, also am 24.01.2010, enden.

Zur Festlegung der Verletztenrente wurde ein weiteres Gutachten vom Neurologen und Psychiater Dr. K. (St.) in Auftrag gegeben. Im weiteren Gutachten vom 23.02.2010 kam Dr. K. zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin als Unfallfolge eine "ausgeprägte psychische Veränderung in Form von Ängsten und Depressionen, sowie eine anhaltende Arbeitsunfähigkeit auf Grund einer schweren depressiven Störung in Verbindung mit traumaassoziierter Angstreaktion" bestünden. Die unfallbedingte MdE sei ab 25.01.2010 mit 50 v. H. einzuschätzen.

Der beratende Arzt der Beklagten, Dr. D., hat in seiner Stellungnahme vom 29.03.2010 der Bewertung von Dr. K. entgegen gehalten, dass dieser sich nun im Vergleich zu seinem ersten Gutachten vom 26.08.2009 selbst widerspreche. Damals sei Dr. K. noch davon ausgegangen, dass sich eine ausgeprägte Schadensanlage nur vorübergehend verschlimmert habe. Es sei nach seiner Auffassung davon auszugehen, dass die Klägerin seit dem streitigen Unfall an einer Anpassungsstörung leide und hierfür eine MdE von 30 v. H. in Ansatz zu bringen sei.

Im Bescheid vom 24.08.2010 hat die Beklagte eine "Anpassungsstörung" als Unfallfolge anerkannt und ab 25.01.2010 eine Verletztenrente nach einer MdE von 30 v. H. gewährt. Die mittelgradige depressive Episode wurde dagegen als unfallunabhängig eingestuft. Der eingelegte Widerspruch der Klägerin vom 03.09.2010 wurde im Widerspruchsbescheid vom 02.12.2010 zurückgewiesen.

Hiergegen wurde mit Schreiben vom 06.10.2010 Klage beim Sozialgericht Landshut erhoben. Das Gericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte der Klägerin, Dr. H. und Frau F. in F-Stadt, Dr. S. in A., und Entlassungsberichte der "Klinik am s. M." in Bad S., sowie der Klinik F. beigezogen. Auch wurden zahlreiche radiologische Aufnahmen der Halswirbelsäule, sowie eine Erkrankungsliste der Krankenkasse der Klägerin angefordert. Die Neurologin und Psychiaterin Dr. K.-R. wurde zur ärztlichen Sachverständigen ernannt. Im Gutachten vom 27.12.2011 führte Dr. K.-R. aus, dass aus ihrer Sicht der Unfall vom 28.07.2008 mit Wahrscheinlichkeit keine wesentliche Ursache sei für die rezidivierende depressive Erkrankung der Klägerin, sowie die generalisierte Angststörung. Bei der Klägerin habe bereits vor dem Unfallereignis ein einschlägiger Vorschaden auf psychiatrischem Fachgebiet basierend auf diversen psychosozialen Belastungen bestanden. Nach den Angaben der Klägerin sei ihre Kindheit geprägt gewesenvon Schlägen, Demütigungen und sogar sexuellem Missbrauch durch den leiblichen Vater. Gerade kindlicher Missbrauch sei aus psychiatrischer Erfahrung mit späterer Depression und Angststörung assoziiert. Ein psychischer Primärschaden sei nach dem Unfall vom 28.07.2008 nicht hinreichend dokumentiert. Im sei am Unfalltag lediglich ein "psychischer Aufregungszustand" beschrieben worden. Zu vertreten sei allenfalls die Annahme einer "akuten Belastungsreaktion" nach dem Unfall. Der unfallnah behandelnde Neurologe Dr. B. habe im Befundbericht vom 08.09.2008 ausdrücklich die Kriterien für ein "posttraumatisches Syndrom" ausgeschlossen. Über die "akute Belastungsreaktion" hinaus lägen laut Dr. K.-R. keinerlei Unfallfolgen mehr auf ihrem Fachgebiet vor. Die Anerkennung einer Anpassungsstörung durch die Beklagte sei somit unzutreffend gewesen.

Der beratende Arzt der Beklagten Dr. D., hielt den Ausführungen von Dr. K.-R. in seiner Stellungnahme vom 13.02.2012 entgegen, dass die Anerkennung einer "Anpassungsstörung" aus seiner Sicht nicht unrichtig gewesen sei. Gleichwohl sei die Anpassungsstörung zum Zeitpunkt der Begutachtung bei Frau Dr. K.-R. mit hoher Wahrscheinlichkeit weitgehend abgeklungen gewesen. Im üblichen diagnostischen Klassifikationssystem des ICD-10 sei die Dauer einer Anpassungsstörung auf 2 Jahre begrenzt. Im Vordergrund stünde mittlerweile eindeutig die im Bescheid vom 24.08.2010 als unfallunabhängig eingestufte depressive Erkrankung. Die unfallbedingte MdE sei spätestens zum Zeitpunkt der Begutachtung von Dr. K.-R. (im Dezember 2012) mit unter 10 v. H. zu bewerten.

Zur Prüfung der weiteren Entwicklung der MdE hat die Beklagte ein Gutachten vom Neurologen und Psychiater Dr. St. (B-Stadt) in Auftrag gegeben. Dieser kam im Gutachten vom 18.09.2012 zu der Einschätzung, dass aus seiner Sicht die depressive Entwicklung nach dem streitigen Ereignis als Unfallfolge zu werten sei. Auch läge eine spezifische Phobie im Sinne einer Fahrphobie vor, weil die Klägerin seit dem Unfall nicht mehr selbst Auto fahren könne. Die MdE von 30 v. H. bestehe weiter. Zu diesem Gutachten hat erneut Dr. D. Stellung genommen. Am 23.10.2012 meinte er, dass er der Einschätzung von Dr. St. nicht folgen könne. Bereits in der Vorgeschichte der Klägerin sei eine länger dauernde depressive Episode bekannt geworden. Depressionen würden nach psychiatrischer Erfahrung häufig zu Rezidiven neigen. Die Ausführungen des Dr. St. zur Unfallkausalität seien im Übrigen nicht nachvollziehbar. Er bleibe dabei, dass unfallnah eine "Anpassungsstörung" entstanden sei, diese jedoch spätestens bis zur psychiatrischen Begutachtung durch Dr. K.-R. abgeklungen sei. Die ab diesem Zeitpunkt bestehende depressive Symptomatik sei aus seiner Sicht unfallunabhängig. Die Fahrphobie sei dagegen mit Wahrscheinlichkeit wesentlich auf den Unfall zurückzuführen. Hierfür sei eine MdE von 10 v. H. gerechtfertigt.

Auf Grund des Vorschlages von Dr. D. hat die Beklagte im Bescheid vom 04.12.2012 die Verletztenrente ab dem 01.01.2013 entzogen. Unfallfolgen wurden in diesem Bescheid ab 01.01.2013 nicht mehr anerkannt.

Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, unter Abänderung des Bescheides vom 24.08.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.12.2010 und unter Aufhebung des Bescheides vom 04.12.2012 bei ihr eine spezifische Phobie im Sinne einer Fahrphobie, eine chronifizierte Anpassungsstörung und eine depressive Störung als Unfallfolge anzuerkennen und über den 31.12.2012 hinaus eine Verletztenrente nach einer MdE von 30 v. H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Im Hinblick auf die weiteren Einzelheiten, insbesondere auf den Inhalt der genannten Befundberichte und Gutachten wird auf die beigezogene Beklagtenakte, sowie auf die vorliegende Streitakte verwiesen.




Entscheidungsgründe:


Die zulässige Klage ist zum Teil begründet.
Die Klägerin hat einen Anspruch darauf, dass die "spezifische Phobie im Sinne einer Fahrphobie" als Unfallfolge anerkannt wird. Insoweit sind der Bescheid vom 24.08.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.12.2010, sowie der Bescheid vom 04.12.2012 abzuändern. Im Übrigen waren die Entscheidungen der Beklagten rechtlich nicht zu beanstanden.

Die Anerkennung und Entschädigung einer Gesundheitsstörung nach § 8 Abs.1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) setzt voraus, dass sie Folge eines Arbeitsunfalls ist. Der Arbeitsunfall, sowie der damit verbundene Unfallmechanismus und der dadurch verursachte unmittelbare Gesundheitsschaden (Primärschaden) bedürfen des vollen Beweises dergestalt, dass sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen müssen. Die Beweiserleichterung der hinreichenden Wahrscheinlichkeit gilt insoweit, als der ursächliche Zusammenhang im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung zwischen dem Arbeitsunfall und der maßgeblichen Erkrankung bestehen muss (vgl. Kasseler Kommentar - Ricke, § 8 SGB VII, Rz. 257 ff.).

Die Theorie der wesentlichen Bedingung beruht, ebenso wie die im Zivilrecht geltende Adäquanztheorie auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie. Danach ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolgs, das nicht hinweg gedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (sog. conditio sine qua non). Auf Grund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachen ist im Sozialrecht eine zweite Selektionsstufe für die Summe der möglichen Ursachen eingeführt worden - die sog. "Theorie der wesentlichen Bedingung". Danach ist im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung nur diejenige Ursache rechtserheblich, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg dessen Eintritt wesentlich mitbewirkt hat. Nach der herrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnis muss dieser Zusammenhang wahrscheinlich sein, d. h. es muss mehr dafür als dagegen sprechen (vgl. ständige Rechtsprechung, etwa im Urteil des BSG vom 09.05.2006, Az.: B 2 U 1/05 R).

Nach der Überzeugung der Kammer ist es unter Vollbeweis nachgewiesen, dass es bei der Klägerin nach dem streitigen Unfall zu einer sog. "Anpassungsstörung" gekommen ist. Nach den überzeugenden Stellungnahmen von Dr. D. vom 23.10.2010, vom 21.04.2011 und vom 23.10.2012 lagen die Kriterien einer "Anpassungsstörung" (nach ICD10 F43.2) zweifelsfrei vor. Die Stellungnahmen des Dr. D. können im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden. Der Vollkriterien einer "posttraumatischen Belastungsstörung" (Ziff. F43.1 des ICD10) waren jedoch zu keinem Zeitpunkt gegeben. Allem voran war das Ereignis vom 28.07.08 für die Klägerin nicht existentiell bedrohlich. Auch hier folgt die Kammer der Einschätzung von Dr. D. in den genannten Stellungnahmen und in diesem Punkt auch dem Gutachten von Dr. K.-R. vom 27.12.2011. Die Kammer ist aber entgegen der Bewertung von Dr. K.-R. der Auffassung, dass die psychische Reaktion der Klägerin auf den Unfall vom 28.07.2008 über eine "akute Belastungsreaktion" (nach Ziff. F43.0) hinausging.

Bei der "akuten Belastungsreaktion" handelt es sich um eine vorübergehende Störung, die sich bei einem psychisch nicht manifest gestörten Menschen als Reaktion auf eine außergewöhnliche psychische oder physische Belastung entwickelt und die im Allgemeinen innerhalb von Stunden oder Tagen abklingt (Ziff. F43.0). Wie die Erstbefunde deutlich zeigen, ist die psychische Belastung durch den streitigen Unfall bei der Klägerin nicht innerhalb von Stunden oder wenigen Tagen abgeklungen. So erwähnte der behandelnde Hausarzt der Klägerin, Dr. H., im ärztlichen Attest vom 04.08.2008, dass die Klägerin unter einem Schockzustand mit ausgeprägten Schlafstörungen, einem Unruhezustand und einer depressiven Verstimmung leide. Auch unfallnah, am 29.07.2008, hatte er dies berichtet. Das sprach am Unfalltag von einem "psychischen Aufregungszustand". Auch ging Dr. P. () noch im Befund vom 17.11.2008 davon aus, dass bei der Klägerin weiterhin unfallbedingte Schlafstörungen, sowie ein heftiges Durchdenken des Traumas auftreten würden, so dass eine Psychotherapie in Form einer Kurzzeittherapie empfohlen würde. Unmittelbar im Anschluss daran bemühte sich die Klägerin um eine Psychotherapie, welche dann auch im Februar 2009 bei Frau F. in F-Stadt begonnen wurde. Man kann also nicht davon ausgehen, dass die unfallbezogenen psychischen Beschwerden bald nach dem Unfall abgeklungen wären oder der Klägerin vorhalten, sie habe sich nicht zeitnah um eine Psychotherapie bemüht.

Die "Anpassungsstörung" (Ziff. F43.2 nach ICD10 2012) ist wie folgt definiert:
"Hierbei handelt es sich um Zustände von subjektiver Bedrängnis und emotionaler Beeinträchtigung, die im Allgemeinen soziale Funktionen und Leistungen behindern und während des Anpassungsprozesses nach einer entscheidenden Lebensveränderung oder nach belastenden Lebensereignissen auftreten. Diese Belastung kann das soziale Netz des Betroffenen beschädigt haben (wie bei einem Trauerfall oder Trennungserlebnissen) oder das weitere Umfeld sozialer Unterstützung oder sozialer Werte (wie bei Immigration oder nach Flucht) ... Die individuelle Prädisposition oder Vulnerabilität spielt bei dem möglichen Auftreten und bei der Form der Anpassungsstörung eine bedeutsame Rolle; es ist aber dennoch davon auszugehen, dass das Krankheitsbild ohne die Belastung nicht entstanden wäre. Die Anzeichen sind unterschiedlich und umfassen depressive Stimmung, Angst oder Sorge (oder eine Mischung von diesen). Außerdem kann ein Gefühl bestehen, mit den alltäglichen Gegebenheiten nicht zu Recht zu kommen, diese nicht vorausplanen oder fortsetzen zu können".

Die in den Befunden der behandelnden Psychiater und Psychologen beschriebenen Symptome der Klägerin passen genau auf diese Definition der "Anpassungsstörung". Die Klägerin hat zwar auch vor dem Unfallereignis schon zahlreiche traumatische Ereignisse durchlebt. Sie litt auch bereits im Jahr 1997 an einer nicht unwesentlich ausgeprägten Depression, welche zu einer zweimonatigen Arbeitsunfähigkeit geführt hatte. In den Jahren vor dem streitigen Unfallereignis aber war die Klägerin insoweit psychisch stabil, als hier keine psychiatrische Behandlung dokumentiert ist oder Arbeitsunfähigkeitszeiten wegen einer psychischen Erkrankung aufgetreten wären. Sie war als Bürokauffrau berufstätig und konnte für ihre Familie sorgen. Auch der Hausarzt Dr. H. dokumentierte in diesem Zeitraum laut seinem Befundbericht vom 09.06.2011 keine psychischen Erkrankungen. Aus diesem Grund muss das Gericht davon ausgehen, dass das Ereignis vom 28.07.2008 die Klägerin sozusagen "aus der Bahn geworfen hat", weil dieses eine längere Arbeitsunfähigkeit und letztlich auch die Kündigung durch den Arbeitgeber zur Folge hatte. Auch war sie durch ihre unfallbedingte "Fahrphobie" nicht mehr in der Lage, selbst Auto zu fahren. Ihr Ehemann musste sie ab dem Unfallzeitpunkt überall hinfahren, was auch Spannungen zwischen den Ehepartnern zur Folge hatte. Es ist nachvollziehbar, dass diese Belastungen das soziale Netz der Klägerin beschädigt haben und für diese Veränderungen durchaus das streitige Ereignis eine wesentliche Mitursache war. Es war damit zutreffend, dass die Beklagte im streitigen Bescheid vom 24.08.2010 als Unfallfolge eine "Anpassungsstörung" anerkannt hatte.

Mittlerweile, mehr als vier Jahre nach dem streitigen Ereignis, kann aber nicht mehr vom Vorliegen einer "Anpassungsstörung" ausgehen. Wie sich schon aus der Definition der "Anpassungsstörung" (nach Ziff. F43.2) ergibt, handelt es sich dabei um emotionale Beeinträchtigungen "während des Anpassungsprozesses" nach einer belastenden Lebensveränderung. Ein "Anpassungsprozess" ist per definitionem schon zeitlich begrenzt, weil man nicht von einer "Anpassung" sprechen kann, wenn sich überhaupt nichts verändert. Auch in der medizinischen Wissenschaft ist die zeitliche Begrenztheit der "Anpassungsstörung" herrschende Meinung: Der Psychiater Prof. Dr. F. und andere haben zu diesem Thema im Aufsatz "Vorschläge zur MdE-Einschätzung bei psychoreaktiven Störungen in der gesetzlichen Unfallversicherung" Stellung genommen (vgl. "Der medizinischen Sachverständige", 103/2 2007, S.52 ff.). Diese Vorschläge wurden weitgehend in die Erfahrungssätze zur Begutachtung in der gesetzlichen Unfallversicherung übernommen (vgl. beispielsweise Mehrhoff/Ekkernkamp/Wich, "Unfallbegutachtung", 13. Auflage, S.299 ff.). Die Annahme einer Anpassungsstörung ist danach zeitlich begrenzt, es kommt eine Anerkennung dieser Unfallfolge nur für längstens 2 Jahre (nach dem Ereignis) in Betracht. In der Frühphase kann bei stärkergradig ausgeprägten Störungen eine MdE bis 30 v. H. angemessen sein (vgl. Förster, a.a.O., S.54).

Welche Unfallfolgen und welche MdE vorliegt, ist nicht nur eine medizinische, sondern auch eine Rechtsfrage. Diese hat das Gericht nach § 128 Abs.1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu bewerten (vgl. beispielsweise BSGE 4,147 (149); 6, 267 (268)). Bei der Beurteilung dieser Frage sind die von der Rechtsprechung, sowie vom versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeitete Erfahrungssätze in der gesetzlichen Unfallversicherung zu beachten. Zwar sind diese nicht im Einzelfall bindend, aber sie sind geeignet, die Grundlage für eine gleiche und gerechte Beurteilung in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis zu bilden (vgl. beispielsweise Urteil des BSG vom 23.04.1987, Az.: 2 RO 42/86).

Nach diesen Erfahrungssaätzen ist bei der Einschätzung der Unfallfolgen und der MdE nach einem längeren Zeitraum zu erwägen, ob sich die Ursachen der zunächst angenommenen Unfallfolgen im zeitlichen Verlauf geändert haben (insbesondere Wegfall oder Ersatz durch andere, nicht mit dem Unfall zusammenhängende Ursachen, sog. Verschiebung der Wesensgrundlage). Dieses erfordert eine Kausalprüfung, in der die verschiedenen Ursachen für eine psychische Störung gewichtet werden müssen (nach der Theorie der wesentlichen Bedingung). Dieses Ergebnis kann zu einer Staffelung der MdE für die Vergangenheit oder zu einer erheblichen Änderung der MdE für die Zukunft führen (vgl. Förster, etc. in den "Vorschlägen zur MdE-Einschätzung bei psychoreaktiven Störungen ...", S.53 unten; Mehrhoff/Ekkernkamp/Wich, a.a.O., S. 305). Nach der Überzeugung der Kammer ist es bei der Klägerin in den Jahren nach dem streitigen Unfall im Bezug auf ihr psychisches Leiden zu einer "Verschiebung der Wesensgrundlage" gekommen. Die Ursachen ihrer psychischen Störung haben sich im zeitlichen Verlauf geändert und wurden ganz oder teilweise durch unfallunabhängige Ursachen ersetzt (vgl. hierzu auch Mehrhoff/Ekkernkamp/Wich, a.a.O., S.305). Aus den vorliegenden ärztlichen Befunden, insbesondere aus dem Befundberichten von F. vom 06.06.2011 und vom 06.02.13 wird deutlich, dass die Klägerin ab dem Beginn der dortigen Behandlung (Februar 2009) zwar schon anfangs an den Folgen des streitigen Ereignisses litt, später aber allgemein ein "Grübeln über die (vielen) Traumatisierungen" im Leben der Klägerin im Vordergrund stand. Frau F. meinte auch, dass sich die pathologischen Befunde der Klägerin sich seit Behandlungsbeginn sukzessive verschlechtert hätten, insbesondere seit Januar 2011 durch mehrere Todesfälle - insbesondere seien zwei der engsten Vertrauenspersonen der Klägerin verstorben. Frau F. drückt sich wie folgt zum Zustand der Klägerin aus: "Tod und Sterben in der direkten Umgebung und Verwandtschaft rauben ihr zusätzlich Halt und Stärke. Die Tochter (der Klägerin) sei nun auch in kinderpsychiatrischer Behandlung und besuche die Förderschule". Daneben erwähnt sie: "Die Ehe (der Klägerin) sei durch ihre Erkrankung am Ende, zu Hause leben sie nebeneinander her. Ein Schicksalsschlag folgt dem anderen". Aus dieser Beschreibung der behandelnden Psychiaterin wird deutlich, dass bei der Klägerin im Laufe der Jahre nach dem Unfallereignis durchaus weitere belastende Lebensereignisse hinzu gekommen sind und vordergründig darauf auch die Verschlechterung ihres psychischen Leidens beruht. Demgegenüber ist davon auszugehen, dass die Folgen des streitigen Unfalls durch regelmäßige psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungen, auch stationär, immer mehr verarbeitet wurden und sich aktuellere belastende Lebensereignisse in den Vordergrund drängten. Die Kammer geht daher davon aus, dass es bei der Klägerin zu einer "Verschiebung der Wesensgrundlage" gekommen ist und spätestens, wie die Beklagte angenommen hat, ab Januar 2013 nicht mehr von einer "Anpassungsstörung" im Sinne des ICD10 auszugehen ist.

Nichts desto trotz hat die Beklagte aber bislang eine Unfallfolge nicht anerkannt, nämlich die "Fahrphobie". Es dürfte unstreitig sein und ergibt sich auch aus sämtlichen Befundberichten und Gutachten, dass die Klägerin seit dem Unfall vom 28.07.08 nicht mehr in der Lage ist, selbst einen Pkw zu fahren. Es wurden Fahrversuche unternommen, dennoch war es aber nicht möglich für die Klägerin, hierbei ihre Ängste zu überwinden. Laut Bericht der Psychiaterin F. vom 06.06.2011 hatte die Klägerin beim letzten Versuch, ein Auto zu fahren, einen Kreislaufzusammenbruch erlitten. Auch Dr. D. geht in seiner Stellungnahme vom 23.10.2012 davon aus, dass die Fahrphobie mit Wahrscheinlichkeit als wesentliche Ursache auf den Unfall vom 28.07.2008 zurückzuführen ist und die MdE hierfür mit 10 v. H. einzuschätzen ist. Trotz der generell bei der Klägerin vorliegenden Angstproblematik war der streitige Verkehrsunfall - nach Meinung der Kammer - eine ganz entscheidende Ursache dafür, dass die Klägerin seither nicht mehr in der Lage ist, selbst Auto zu fahren. Die Kammer geht davon aus, dass für diese "spezifische Phobie im Sinne einer Fahrphobie" eine MdE von 10 v. H. anzusetzen ist (vgl. Mehrhoff/Ekkernkamp/Wich, a.a.O., S. 308).

Alles in allem war die Beklagte deshalb zu verurteilen, den streitigen Bescheid vom 24.08.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.12.2010 und den Bescheid vom 04.12.2012 insoweit abzuändern, als eine "spezifische Phobie im Sinne einer Fahrphobie" als (weitere) Unfallfolge anzuerkennen ist. Im Übrigen ist der Bescheid vom 04.12.2012 rechtlich nicht zu beanstanden, auch im Hinblick auf den Entzug der Verletztenrente ab 01.01.2013. Der letztgenannte Bescheid ist nach der Rechtsauffassung des Gerichts nach § 96 SGG Gegenstand dieses Streitverfahrens geworden. Weil auch die Entziehung der Verletztenrente ab 01.01.2013 (wegen einer nunmehr vorliegenden MdE von 10 v. H.) und auch die Entscheidung, dass die "Anpassungsstörung" nicht mehr weiter anerkannt wurde, vom Gericht als zutreffend eingeschätzt werden, war die Klage im Übrigen abzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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