L 19 AS 727/11

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 14 AS 2096/10
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 19 AS 727/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 15. März 2011 wird zurückgewiesen. Kosten sind für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Pflicht des Beklagten zur Überprüfung und Rücknahme aller Bescheide über die Gewährung, Aufhebung und Erstattung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende seit Januar 2006 im Zugunstenverfahren.

Der 1973 geborene Kläger bezieht von dem Beklagten seit dem 01. Januar 2005 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende in Gestalt der Regelleistung und Leistungen für die Kosten der Unterkunft und Heizung.

Mit Schriftsatz vom 28. Juli 2010 beantragte der anwaltlich vertretene Kläger "die Überprüfung sämtlicher bestandskräftiger Bescheide über Grundsicherung seit dem 01. Januar 2006 auf ihre Rechtmäßigkeit".

Der Beklagte bat den Kläger (am 29. Juli 2010) um eine detaillierte Aufstellung der entsprechenden Bescheide. Eine Prüfung der Bescheide in der Sache sei ansonsten nicht vorzunehmen. Unter Fristsetzung bis zum 15. August 2010 teilte er in dem Schreiben ergänzend mit, eine Überprüfung des Sachverhaltes werde ansonsten nicht erfolgen.

Mit Bescheid vom 16. August 2010 lehnte der Beklagte eine Prüfung der Bescheide in der Sache ab. Es sei durch den Kläger nichts vorgetragen worden, was für die Unrichtigkeit der Entscheidungen sprechen würde. Ein schlüssiger Vortrag diesbezüglich stelle jedoch die Minimalanforderung an die Einleitung eines Überprüfungsverfahrens dar. Ein Antrag ohne Darlegung etwaiger Anknüpfungspunkte sei als rechtsmissbräuchliche Inanspruchnahme anzusehen. Der Beklagte müsse sich insoweit auf die Bindungswirkung der Bescheide berufen und daher von einer Prüfung absehen dürfen.

Der Bevollmächtigte des Klägers erhob mit Schreiben vom 23. August 2010 Widerspruch. Er begründete diesen nicht.

Der Widerspruchsbescheid (W ) vom 11. Oktober 2010 wies den Widerspruch als unbegründet zurück. Der Kläger habe – auch nach entsprechender Aufforderung durch den Beklagten – nichts vorgebracht, was für die Unrichtigkeit der Entscheidungen des Beklagten sprechen könne. Es fehle zunächst an der Bezeichnung der Entscheidungen, die nach Auffassung des Klägers unrichtig bzw. rechtswidrig sein sollen. Ein schlüssiger Vortrag stelle jedoch eine Minimalanforderung an die Einleitung eines Überprüfungsverfahrens dar. Ein solcher Antrag, der ohne Darlegung etwaiger Anknüpfungspunkte gestellt werde, sei als rechtsmissbräuchliche Inanspruchnahme zu sehen. Würden keine neuen Tatsachen oder Erkenntnisse vorgetragen, die für die Unrichtigkeit der Vorentscheidung sprechen könnten, dürfe sich der Beklagte ohne weitere Sachprüfung auf die Bindungswirkung der früheren Bescheide berufen.

Der Kläger hat am 27. Oktober 2010 Klage zum Sozialgericht Cottbus (SG) erhoben. Eines Antrags bedürfe es für die Einleitung eines Verfahrens nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) nicht. Der Beklagte habe auf einen Antrag seiner Verpflichtung aus § 20 SGB X nachzukommen. Im Bewilligungsbescheid vom 23. November 2005 und Bescheid vom 12. Juni 2006, Bescheid vom 14. Dezember 2006, Bescheid vom 29. Mai 2007, Bescheid vom 26. November 2007, Bescheid vom 02. Juni 2008 und vom 24. November 2008 seien Kosten der Unterkunft und Heizung falsch ermittelt, der Beklagte habe den Abzug der Kosten für die Warmwasseraufbereitung falsch vorgenommen, darüber hinaus müsse im Monat August 2006 eine Nachforderung aus einer Betriebskostenabrechnung iHv Euro berücksichtigt werden, gleiches gelte für die Betriebskostenabrechnung 2006 (Bescheid vom 22. Juni 2007) und Betriebskostenabrechnung 2007 (Bescheid vom 08. Mai 2008). Der Beklagte habe dabei jeweils einen unzutreffenden, zu niedrigen Betrag berücksichtigt. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 10. Juni 2009 sei deshalb rechtswidrig, weil das darin berücksichtigte Guthaben aus Betriebskostenabrechnung 2008 in unzutreffender Höhe, nämlich überhöht, berücksichtigt worden sei und zudem das Guthaben im Monat Juli 2009, dagegen nicht im Juni 2009 anzurechnen gewesen sei.

Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt, den Bescheid vom 16. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Oktober 2010 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, den Kläger nach Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.

Der Beklagte hat erstinstanzlich beantragt, die Klage abzuweisen.

Mit Urteil vom 15. März 2011 hat das SG die Klage teilweise als unzulässig, im Übrigen als unbegründet abgewiesen. Soweit in der im Klageverfahren erfolgten Begründung des Überprüfungsantrags ein erneuter Überprüfungsantrag zu erblicken sei, sei das Vorverfahren nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden und die Klage insoweit unzulässig. Bei der in § 44 SGB X vorgesehenen Korrekturmöglichkeit handele es sich – schon im Wortlaut ("Einzelfall") erkennbar – um eine Einzelfallprüfung der Behörde. Der vom Kläger gestellte "globale" Überprüfungsantrag werde von der Norm nicht erfasst. Diese setze vielmehr voraus, dass der Antragsteller konkret den Bescheid, welcher zur Überprüfung gestellt werde, benenne. Bezogen auf das Rechtsgebiet der Grundsicherung für Arbeitssuchende bedeute dies, dass der jeweilige Bewilligungs- oder Sanktionsbescheid benannt werden müsse. Im Rahmen des § 44 SGB X könnten rechtsdogmatisch keine anderen Anforderungen gelten als im Rahmen der Vorschriften über Aufhebung von Verwaltungsakten und Erstattungen von Leistungen nach § 45 ff. SGB X. Für diese sei in der Rechtsprechung anerkannt, dass stets sich aus der Aufhebungsentscheidung selbst ergeben müsse, welcher Bescheid in welcher Höhe für welchen Zeitraum aufgehoben würde. Dies gelte auch im Bereich der Dauerverwaltungsakte auf der Grundlage des Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) und sei ua Ausfluss des Gebotes der Bestimmtheit von Verwaltungsakten und des Spannungsfeldes zwischen materieller Gerechtigkeit auf der einen und Rechtssicherheit auf der anderen Seite. Zu den Minimalanforderungen, die Voraussetzungen für eine Überprüfungsentscheidung nach § 44 SGB X seien, gehöre neben der Benennung des Bescheiddatums die Kennzeichnung des Regelungsgegenstandes nach bewilligtem Betrag, den begünstigten Personen und dem Bewilligungszeitraum. Dem stehe der allgemeine Amtsermittlungsgrundsatz nicht entgegen. Dieser komme erst zum Tragen, wenn ein ordnungsgemäßer Antrag vorliege, die Behörde sei zu "Ermittlungen ins Blaue hinein" nicht verpflichtet; auch im Hinblick auf das spezielle Amtsermittlungsgebot des § 44 SGB X gelte, dass die Behörde nicht verpflichtet sei, Akten auf Rücknahmemöglichkeiten durchzuarbeiten. Für eine hinreichende Konkretisierung des Antrags im Rahmen des § 44 SGB X spreche schließlich die Beweislastverteilung der Regelung. Der Antragsteller trage die Beweislast für die Tatsachen, aus denen sich die Unrichtigkeit des jeweiligen Bescheides ergebe. Die bezeichneten Minimalanforderungen könnten im Klageverfahren nicht nachgeholt werden. Werde die Behörde hier erstmals in die Lage versetzt, dem Überprüfungsbegehren konkret nachzugehen, sei dies faktisch als Antrag nach § 44 SGB X zu werten, mit der Folge, dass hinsichtlich dieses Antrags noch kein Vorverfahren durchgeführt sei. Die Entscheidung des Beklagten, sich auf die Bestandskraft der Bescheide zu berufen, erweise sich nach der dem Beklagten bekannten Tatsachenlage zumindest nicht als rechtswidrig. Das SG hat die Sprungrevision zum Bundessozialgericht (BSG) zugelassen.

Gegen das ihm am 11. April 2011 zugestellte Urteil hat der Kläger am 13. April 2011 Berufung eingelegt. Entgegen der Auffassung des SG bedürfe es für die Einleitung eines Überprüfungsverfahrens gerade keiner Benennung der zur Prüfung gestellten Bescheide. Eine solche Pflicht bestehe nicht im Rahmen der gesetzlichen Mitwirkungspflichten. Eine Benennung der Bescheide müsse nur erfolgen, wenn die Abgrenzung zwischen verschiedenen Bescheiden erfolgen müsse. Im Übrigen sei es dem Beklagten möglich, anhand seiner Verwaltungsakte bzw. seiner EDV-Systeme zu ermitteln, welche Bescheide erlassen, aufgehoben oder geändert seien. Er unterliege dem Amtsermittlungsgrundsatz. Der 9. Senat des BSG habe ausgeführt, dass das Überprüfungsverfahren – anders als § 51 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVerfG) mit dem Institut des Wiederaufgreifens des abgeschlossenen Verwaltungsverfahrens – gerade kein gestuftes Verfahren sei und die Möglichkeit für die Behörde eröffne, sich schlicht auf die Bindungswirkung früherer bestandskräftiger Bescheide zu berufen. Eine möglicherweise fehlende Begründung sei im Übrigen im Klageverfahren nachgeholt. Es sei mit Sinn und Zweck des Überprüfungsverfahrens nicht zu vereinbaren, vor einer – wenn auch erst im Klageverfahren – dargelegten Rechtswidrigkeit von Bescheiden die Augen zu verschließen.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 15. März 2011 wird aufgehoben und der Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 16. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Oktober 2010 verurteilt, die Bescheide vom 23. November 2005, 12. Juni 2006, 14. Dezember 2006, 29. Mai 2007, 22. Juni 2007, 26. November 2007, 08. Mai 2008, 02. Juni 2008, 24. November 2008 teilweise zurückzunehmen und ihm für die mit den Bescheiden geregelten Bewilligungszeiträume höhere Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er verweist auf seine Ausführungen im Widerspruchsbescheid sowie auf die Ausführungen des erstinstanzlichen Urteils. Der in der Klagebegründung enthaltene nunmehr konkretisierte Antrag des Klägers sei als neuer Überprüfungsantrag zur Überprüfung in der Sache und Bescheidung in die zuständige Fachabteilung gegeben worden. Damit sei im vorliegenden Verfahren Erledigung eingetreten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, die Gerichtsakte S 14 AS 2096/10 sowie die von dem Beklagten angefertigten und übersandten Leistungsakten (2 Bände) verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidung durch den Senat gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

I. Die Berufung ist statthaft. Nach § 144 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist die Berufung statthaft, wenn sie – unabhängig von der Höhe der erstrebten Leistungen im Einzelnen - sog. "wiederkehrende Leistungen" für mehr als ein Jahr betrifft. Das sind solche, die in regelmäßigen oder unregelmäßigen Abständen wiederkehren (Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. A., § 144 Rn. 22). Die Berufung des Klägers betrifft wiederkehrende Leistungen für mehr als ein Jahr. Sie betrifft nach dem Klageantrag Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende über einen Zeitraum von rund vier Jahren, nämlich seit dem 01. Januar 2006 längstens bis zu dem Antrag auf Überprüfung vom 28. Juli 2010.

II. Die Berufung ist unbegründet, denn das Urteil des SG ist im Ergebnis zutreffend. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Änderung des erstinstanzlichen Urteils. Der Bescheid des Beklagten vom 16. August 2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides (11. Oktober 2010) ist rechtmäßig und beschwert den Kläger nicht. Einen Anspruch auf Überprüfung und Rücknahme von (bestandskräftigen) Bewilligungsbescheiden des Beklagten hat er nicht.

Rechtsgrundlage für den Überprüfungsantrag vom 28. Juli 2011 ist § 44 SGB X i. V. m. § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II in der bis zum 31. März 2011 geltenden Fassung. Danach ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind (§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht (§ 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X).

Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger nicht. Er hat keinen Anspruch auf eine schranken- und voraussetzungslose Sach- und Rechtsprüfung der seit Januar 2006 erlassenen Bescheide des Beklagten. Der Beklagte war berechtigt, sich ohne inhaltliche Prüfung auf die Bestandskraft der im Einzelnen nicht benannten Verwaltungsentscheidungen zu berufen.

Dem Kläger ist zwar darin zuzustimmen, dass die von § 44 SGB X vorgesehene Überprüfung nicht antragsabhängig ist, sondern auch von Amts wegen erfolgen kann (Schütze in von Wulffen, SGB X, 7. A. 2010, § 44 RdNr. 39). Die Behörde hat daher, wenn ihr ein Fehler bekannt wird, die Pflicht, den Verwaltungsakt von Amts wegen zurückzunehmen (Voelzke/Hahn, Bestandskraft versus materielle Gerechtigkeit – Grenzen bei der Überprüfung bestandskräftiger belastender Verwaltungsakte, in SGb 2012, 685, 686 m. w. N.). Wird ein Antrag nach § 44 SGB X gestellt, hat die Behörde auf diesen das Verfahren eröffnenden Antrag (i. S. des § 16 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – SGB I -) auch eine rechtsbehelfsfähige Entscheidung über das Überprüfungsbegehren zu treffen (Schütze, a. a. O., § 44 RdNr. 38). Das hat der Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid vom 16. August 2010 getan.

Der Kläger kann seinen geltend gemachten Anspruch aber nicht mit Erfolg auf die fehlende Antragsabhängigkeit stützen, denn der Anspruch auf Überprüfung nach § 44 SGB X ist ein subjektiv-öffentliches Recht, das inhaltlichen Grenzen unterliegt.

§ 44 SGB X entscheidet im Grundsatz die mit der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung einerseits und der Rechtssicherheit andererseits bestehenden widerstreitenden Interessen nahezu durchgehend zugunsten der Gesetzmäßigkeit und zulasten der Bestandskraft des Verwaltungsakts. Er eröffnet damit eine weitgehende Durchbrechung der Bestandskraft rechtswidriger, nicht begünstigender unanfechtbarer Verwaltungsakte (Baumeister in juris-PK, § 44 RdNr. 18).

Die weitgehende Durchbrechung der Bestandskraft von Verwaltungsentscheidungen ist mit § 44 SGB X aber nicht grenzenlos eingeräumt. Dies ergibt sich schon aus Wortlaut und Systematik des § 44 SGB X selbst.

Mit der Regelung, dass Sozialleistungen, die sich aus der Aufhebung eines überprüften Verwaltungsaktes ergeben, nur mit Rückwirkung von bis zu vier Jahren gewährt werden (§ 44 Abs. 4 SGB X), gibt der Gesetzgeber einen ersten Hinweis auf die Grenzen eines Anspruchs auf Rücknahme bestandskräftiger Entscheidungen. Maßgebend für den Beginn der Frist des § 44 Abs. 4 SGB X ist das Antragsdatum (Abs. 4 Satz 3). Obwohl es sich bei der Regelung des § 44 Abs. 4 SGB X nach der Rechtsprechung des BSG nicht nur um eine spezialgesetzliche materiell-rechtliche Einschränkung des nachträglich bewilligten Anspruchs auf Sozialleistungen für die Vergangenheit handelt (so BSG, Urteil vom 11. April 1985 - 4b/9a RV 5/84 -; BSG in SozR 1300 § 44 Nr. 17), sondern um eine analogiefähige Regelung, die auch im Anwendungsbereich des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zur Anwendung kommt (BSG, Urteil vom 27. März 2007 - B 13 R 58/06 R -; BSG in SozR 4 - 1300 § 44 Nr. 9), wird an ihrer Ausgestaltung zweierlei erkennbar: Das Gesetz begrenzt mit § 44 Abs. 4 SGB X praktisch die Folgen der Durchbrechung der Bestandskraft des Abs. 1 und 2 im Interesse der Rechtssicherheit (dazu BSG, Urteil vom 23. Juli 1986 - 1 RA 31/85 -, zitiert nach juris). Beruht die positive Überprüfungsentscheidung im Zugunstenverfahren auf einem Antrag des Berechtigten, ist dieser für die Berechnung des rückwirkenden Zeitraumes maßgebend und erlangt somit im Rahmen der Anspruchsbegrenzung zugunsten der Rechtssicherheit und Finanzierungsstabilität Bedeutung. Für den Bereich des SGB II hat der Gesetzgeber mit Wirkung zum 01. April 2011 die Bedeutung der Rechtssicherheit weiter hervorgehoben und durch eine Ergänzung in § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II die Rückwirkung auf nur ein Jahr begrenzt. Damit sollte auch zur Entlastung der Leistungsträger und Sozialgerichte beigetragen werden (BT-Drucksache 17/3404 S. 114).

§ 44 Abs. 1 SGB X umschreibt zudem bereits im Wortlaut eine Anspruchsbegrenzung sachlich-inhaltlicher Art für das Recht eines Antragstellers auf Überprüfung. Dieser hat jeweils nur Anspruch auf Überprüfung einzelner Verwaltungsakte und –entscheidungen, nicht auf ein gesamtes ggf. umfangreiches Verwaltungshandeln über einen Zeitraum von mehreren Jahren (so auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12. Juni 2012 – L 20 AS 947/12 B PKH -, zitiert nach juris). Erkennbar wird das im Text an den beiden Tatbestandsmerkmalen, wonach sich "im Einzelfall" ergeben muss, dass "bei Erlass eines Verwaltungsaktes" Recht unrichtig angewandt oder ein unzutreffender Sachverhalt zugrund gelegte wurde. Schon der verwandte Begriff des "Einzelfalles" steht in unmittelbarem Bezug zum erlassenen Verwaltungsakt (vgl. § 31 SGB X). Darüber hinaus benennt die Vorschrift den Gegenstand der Überprüfungsentscheidung, nämlich den (einzelnen) Verwaltungsakt. Daraus folgt objektiv-rechtlich, dass die Behörde nicht verpflichtet ist – zumal bei einem Dauerrechtsverhältnis – (regelmäßig) ihre Akten auf fehlerhafte Verwaltungsakte/Verfügungssätze zu durchforsten. Dies gilt selbst dann, wenn bedeutsame Rechtsprechungsänderungen bekannt werden (Kasseler Kommentar- Steinwedel, 75. Ergänzungslieferung 2012, § 44 SGB X RdNr. 24; Voelzke/Hahn, a. a. O., S. 685, 686). Mangels Fehlens einer solchen objektiven Pflicht kann konsequenterweise auch kein subjektiv-öffentliches Recht des Leistungsempfängers auf eine entsprechend umfassende Sach- und Rechtsprüfung aller vergangenen Bescheide oder Leistungsbewilligungen/-absenkungen, respektive des gesamten Verwaltungshandelns während eines Zeitraums von mehreren Jahren, bestehen, zumal ohne äußeren Anlass. Das Merkmal "im Einzelfall" bedeutet demgemäß: Eine Pflicht zur Sach- und Rechtsprüfung ist damit zunächst auf einzelne Verwaltungsakte konzentriert. Damit korrespondiert der Anspruch des Einzelnen. Er kann näher bestimmte Verwaltungsakte oder eine bestimmte Mehrzahl von Verwaltungsakten mit einem entsprechenden Antrag zur Überprüfung stellen. Die Behörde hat dann eine Überprüfungsentscheidung zu treffen.

Damit ist noch keine Aussage dazu getroffen, auf welchen Prüfungsumfang (Sach- und Rechtsprüfung) der Behörde der Leistungsberechtigte im Einzelfall Anspruch hat. Dieser ergibt sich aus Sinn und Zweck der Regelung unter Berücksichtigung der systematischen Stellung des § 44 SGB X im Sozialleistungsrecht, sowie der Entstehungsgeschichte insbesondere in Abgrenzung zu vergleichbaren Vorschriften (z. B. des allgemeinen Verwaltungsrechts). Anders als § 51 VwVfG des Bundes gibt § 44 SGB X der Behörde trotz der grundsätzlichen Anerkennung der Bestandskraft von Verwaltungsakten (§ 77 SGG) für den Fall eines Überprüfungsantrags kein gestuftes Verfahren der Prüfung vor. Die Rechtsprechung hat zwar, erkennbar geleitet von der Erkenntnis, dass der Anspruch auf Überprüfung von bestandskräftigen Verwaltungsakten auch in § 44 SGB X nicht grenzenlos ist, eine restriktive Auslegung i. S. eines gestuften Verfahrens für § 44 SGB X entwickelt (dazu näher Voelzke/Hahn, a. a. O., S. 686/687 m. w. N. aus der Rechtsprechung). Vor einer erneuten Sachprüfung auf einen Überprüfungsantrag hin sind danach zwei Stufen zu überwinden: Nur bei Änderung der Sach- und Rechtslage, bei Vorliegen von neuen Beweismitteln oder Wiederaufnahmegründen soll die Behörde die Aufhebbarkeit des früheren Verwaltungsaktes in der Sache prüfen und bescheiden müssen. Ergibt sich danach nichts, was für die Unrichtigkeit des früheren Bescheides spricht, darf sie sich ohne Sachprüfung auf die Bestandskraft berufen. Liegen die neuen Tatsachen tatsächlich nicht vor oder können sie keine Auswirkung auf die Richtigkeit der früheren Entscheidung haben, darf sich die Behörde ebenfalls auf die Bindungswirkung berufen (zweiter Prüfungsschritt). Nur wenn sich ergibt, dass die neuen Beweismittel vorliegen und für die Entscheidung erheblich sind, ist in einem dritten Prüfungsschritt in der Sache neu zu entscheiden.

Für § 44 SGB X sind diese Grundsätze teilweise dergestalt übertragen worden, dass in dem Fall, in dem es um einen unrichtigen Sachverhalt geht, auf den der Überprüfungsantrag gestützt wird, nur dieser Gegenstand der behördlichen Überprüfung sein soll. In dem anderen Fall, in dem also Gegenstand oder Anlass der Überprüfung eine unrichtige Rechtsanwendung ist, soll dagegen eine umfassende Prüfpflicht und demgemäß ein Anspruch des Betreffenden bestehen, auf dessen Antrag hin die Prüfung erfolgt (vgl. z. B. BSG, Urteile vom 03. Februar 1988 - 9/9a RV 18/86 – und vom 03. April 2001 - B 4 RA 22/00 R -, jeweils zitiert nach juris; BSGE 63, 33; BSGE 88, 75; Überblick über die Rechtsprechung des BSG beiVoelzke/Hahna. a. O., S. 686/687 m. w. N.).

Gegen die Anwendung dieser aus dem VwVfG entlehnten Grundsätze im Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X spricht vor allem dessen abweichender Wortlaut, seine schon im Text erkennbare abweichende Struktur und seine Entstehungsgeschichte, die gerade nicht an die Regelungen des VwVfG zum Wiederaufgreifen für das SGB X anknüpft (so zutreffend Voelzke/Hahn, a. a. O., S. 688 m. w. N.).

Ein Verfahren nach § 44 SGB X lässt sich vielmehr auch unter Berücksichtigung der allgemeinen verfahrensrechtlichen Grundsätze ohne Rückgriff auf ein wie immer geartetes Stufenschema oder eine analoge Anwendung von § 51 VwVfG einerseits, aber auch ohne vollständige Aushebelung der Bindungswirkung andererseits entscheiden. Aus Sinn und Zweck des § 44 SGB X, fehlerhafte, für den Bürger nachteilige bestandskräftige Verwaltungsentscheidungen zu korrigieren, folgt: Die Überprüfung eines Verwaltungsaktes durch die Behörde nach § 44 SGB X hat grundsätzlich inhaltlich umfassend zu erfolgen, wenn der Betroffene diesen benennt und die Gründe nennt, warum er ihn für rechtswidrig hält. Dies gilt unabhängig davon, ob Fehler in der Sachverhaltsermittlung oder der rechtlichen Bewertung vorliegen.

Diese bereits anfangs dargestellte, der Norm des § 44 SGB X innewohnende Grenze des Anspruchs auf die Prüfung in der Sache wirkt sich vor allem bei unbestimmten oder pauschal gehaltenen Überprüfungsanträgen aus. Grundsätzlich steht bei jedem Überprüfungsantrag des Einzelnen das Interesse, unrichtige Entscheidungen trotz Bestandskraft zugunsten des (Sozial-) Leistungsempfängers zu korrigieren, dem Interesse an einer funktionsfähigen Sozialleistungsverwaltung gegenüber. Für das Gerichtsverfahren entspringt dem letzteren Interesse der Grundsatz, dass niemand die Gerichte grundlos oder für unlautere Zwecke in Anspruch nehmen darf bzw. im Gerichtsverfahren notwendig ein allgemeines Rechtsschutzbedürfnis bestehen muss. Diese (immanente) Grenze einer grundsätzlich bestehenden Rechtsmacht des Einzelnen hat ihre Grundlage u. a. in § 242 Bürgerliches Gesetzbuch, dem Verbot des Missbrauchs prozessualer Rechte sowie dem Grundsatz der Effizienz staatlichen Handelns (dazu jüngst BSG, Urteil vom 12. Juli 2012 - B 14 AS 35/12 R -, zitiert nach juris). Sie gilt es – im allgemeinen Interesse einer funktionierenden (Massen-) Sozialleistungsverwaltung – auch in § 44 SGB X im Fall eines Antrags des Einzelnen auf Prüfung (vergangenen) staatlichen Handelns entsprechend zu bestimmen. Daraus folgt für die Anwendung von § 44 SGB X, dass pauschal formulierte, weit in die Vergangenheit reichende Überprüfungsanträge nicht voraussetzungslos zu einer ebenso umfassenden Sachprüfungspflicht der Behörde führen.

Im Hinblick auf die "vor die Klammer gezogenen" Aufträge der §§ 2 Abs. 2, 16 und 17 SGB I und § 1 Abs. 1 SGB II bzw. Art. 20 Grundgesetz, wonach gerade bei Anträgen sichergestellt sein muss, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden, muss die obige Grenze allerdings schonend und bezogen auf das soziale Recht gezogen werden. Das in § 44 SGB X angelegte Spannungsfeld zwischen Gesetzmäßigkeit auf der einen Seite und Funktionsfähigkeit der Verwaltung auf der anderen Seite rechtfertigt es jedenfalls, die Prüfdichte der Behörde nicht völlig losgelöst von Mitwirkungsobliegenheiten des die Überprüfung beantragenden Betroffenen zu lassen. Umfangreiche, weit gefasste oder unsubstantiierte Anträge können deshalb die zur Überprüfung berufene Behörde im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren berechtigen, den Antragsteller zur weiteren Konkretisierung bzw. zu weiterem Sachvortrag aufzufordern, bevor sie in eine Überprüfung der bestandskräftigen Sachentscheidungen einsteigt.

Obige Überlegungen zur Struktur des § 44 SGB X gelten umso mehr im Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende.

§ 44 SGB X trifft zwar mit seinem Normbefehl schon bei seiner Schaffung auf eine Sozialleistungsverwaltung und –realität, die seit jeher von Dauerrechtsverhältnissen geprägt ist. Eine Besonderheit erfährt diese aber noch im Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende. In diesem Bereich wird das Leistungsverhältnis Bürger – Behörde schon materiell-rechtlich, d. h. aufgrund des Gegenstandes und des Normprogrammes, durch Veränderungen in der Lebenswirklichkeit der Betreffenden ungleich mehr als im Sozialrecht sonst üblich geprägt. Das zeigt sich an der Tatsache, dass der Anspruch des Betreffenden auf Leistungen der Grundsicherung grundsätzlich ein einheitlicher ist. Das BSG hat lediglich für die Bedarfe für Unterkunft und Heizung eine Abtrennbarkeit dieses Leistungsanspruchs anerkannt (vgl. zuletzt BSG, Urteil vom 12. Juli 2012 - B 14 AS 153/11 R -, zitiert nach juris: jedenfalls bei Regel- und Mehrbedarf handelt es sich nicht um voneinander trennbare Ansprüche). Ein Anspruch setzt u. a. stets Hilfebedürftigkeit voraus, diese wird nach dem SGB II durch eine Vielzahl von Einzelumständen bestimmt. So müssen auch bei einem Anspruch auf einen Mehrbedarf (§ 21 SGB II) stets alle Voraussetzungen des Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen dem Grunde nach geprüft werden. Darüber hinaus regeln die existenzsichernden Leistungen nahezu die gesamte Lebenswelt der Betroffenen. Sie sehen neben Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts Bedarfe für Unterkunft und Heizung sowie zahlreiche sog. Sonderbedarfe, dabei auch einmalige (wiederkehrende) Bedarfe, vor (Schule, Schwangerschaft, Mehrbedarfe wegen Krankheit und Schwerbehinderung). Der Leistungsanspruch des Einzelnen ist von den Lebensverhältnissen und damit auch ihren (täglichen) Veränderungen mehr als andere Leistungsansprüche, die z. B. ein Stammrecht kennen, abhängig. Die Mehrzahl der Voraussetzungen für einen Anspruch ist stetigen, auch kurzfristig eintretenden Veränderungen unterworfen. So können z. B. Ansprüche von selbständig Tätigen monatlichen Schwankungen unterliegen. Vorläufige Bescheide spielen somit sowohl im Gesetz als auch der Praxis eine weitaus größere Rolle als in anderen Leistungsbereichen des Sozialgesetzbuches (vgl. nur BSG, Urteil vom 21. Juni 2011 - B 4 AS 21/10 R -, zitiert nach juris; BSGE 108, 258 ff.).

Diese Komplexität spiegelt sich im Verfahrensrecht wider. Nach § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II sollen Leistungen grundsätzlich (nur) für sechs Monate im Voraus bewilligt werden. Nach Abs. 1 Satz 5 kann davon nur abgewichen werden und Leistungen können längstens für bis zu 12 Monate im Voraus bewilligt werden, bei denen eine Veränderung der Verhältnisse in diesem Zeitraum nicht zu erwarten ist. § 40 SGB II reagiert mit Sondervorschriften zu den allgemeinen Verfahrensvorschriften, auch zur Bestandskraft. So ist der Vertrauensschutz in §§ 45 ff. SGB X für die Betroffenen schwächer ausgestaltet und ist seit dem 01. April 2011 § 44 Abs. 4 SGB X für die rückwirkende Bewilligung weiterer SGB II-Leistungen modifiziert und die Frist auf ein Jahr verkürzt.

Die aufgezeigte, schon im Gesetz angelegte, aber auch durch den Regelungsgegenstand bestimmte strukturell verstärkte Abhängigkeit von den sog. Wechselfällen des (menschlichen) Lebens wird anschaulich praktisch abgebildet durch eine größere Anzahl von erforderlichen Bescheiden der Sozialleistungsträger. Prüfungen in die Vergangenheit betreffen somit (im Regelfall) eine größere Anzahl von Bescheiden und einen vielfach unübersichtlichen (Streit-) Gegenstand.

Kann – zumal im Bereich des SGB II - nicht jeder Überprüfungsantrag des Berechtigten eine umfassende Sach- und Rechtsprüfung auslösen (ähnlich im Ergebnis Voelzke/Hahn, a. a. O., S. 685, 689) und erfährt § 44 SGB X insoweit hier im Interesse einer funktionsfähigen Verwaltung eine Einschränkung, gilt dies sowohl für die Behörde als auch für das die Entscheidung der Behörde überprüfende Gericht. Ob das auch andere Sozialleistungsbereiche betreffen kann, muss hier nicht bewertet werden.

Es ist unschädlich, dass die Mitwirkungserfordernisse in § 44 SGB X nicht ausdrücklich geregelt sind. Mitwirkungsobliegenheiten sind auch sonst im Sozialverwaltungsrecht üblich. Geht es um einen Antrag auf Sozialleistungen, bestimmt beispielsweise § 60 Abs. 1 Nr. 1 SGB I in den Grenzen des § 65 SGB I, dass der Betreffende alle Tatsachen anzugeben hat, die für die Leistung erheblich sind. Das BSG hat zuletzt für den Fall, dass der Kläger die Überprüfung sämtlicher bestandskräftiger Bescheide über Grundsicherung begehrt hat, ausgeführt, der Berechtigte habe damit nicht mehr die Überprüfung der Verfügungssätze des Bescheides oder jedenfalls einer ohne Weiteres bestimmbaren Zahl von Verfügungssätzen von Verwaltungsakten zur Überprüfung des Beklagten gestellt. Es könne nicht zweifelhaft sein, dass ein derart weitreichendes Überprüfungsbegehren mit entsprechenden Mitwirkungserfordernissen beim Berechtigten korrespondiere (BSG, Beschluss vom 14. März 2012 - B 4 AS 239/11 B -).

Das bedeutet – zumindest für den Bereich der Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende –, dass sich der Anspruch des Einzelnen relativ zum Antrag verhält. Je unbestimmter der einzelne Überprüfungsantrag gestellt ist, desto mehr hängt die behördliche Pflicht zur Überprüfung von weiteren Mitwirkungshandlungen des Antragstellers ab. Die einen Anspruch auf Überprüfung von Bescheiden mitbestimmenden Mitwirkungsobliegenheiten des Leistungsberechtigten können somit schon den Prüfauftrag, aber auch das Prüfprogramm im Bereich des § 44 SGB X prägen und ggf. beschränken. Das benachteiligt den einzelnen Antragsteller nicht unbillig und steht in Übereinstimmung mit dem (verfassungsrechtlichen) Gebot, existenzsichernde Leistungen möglichst umfassend zu gewährleisten. Begehrt demgemäß der Antragsteller beispielsweise die Überprüfung aller Bescheide der Verwaltung seit einem bestimmten in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt und begründet er sein Begehren nach (behördlicher) Aufforderung nicht, kann sich die Behörde auf die Bestandskraft des Bescheids ohne erneute Prüfung in der Sache berufen (Voelzke/Hahn,a. a. O., S. 685, 689). Beruft er sich auf einen unrichtigen Sachverhalt (vgl. dazu § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X), obliegt es ihm, diesen – zumindest grob – darzulegen.

Allein die Berufung auf die Amtsermittlungspflicht des § 20 SGB X führt zu keinem anderen Ergebnis. § 44 SGB X durchbricht die Bestandskraft, auch soweit es um Sachverhaltsfeststellungen und Ermittlungen geht. Im Übrigen ist zu beachten, dass das Beteiligtenvorbringen auch sonst die Sachverhaltsermittlungen steuert. Ermittlungen ins Blaue sind nicht angezeigt. Die Sachaufklärungspflicht findet in der Mitwirkungsobliegenheit der Verfahrensbeteiligten ihre Grenze (Voelzke/Hahna. a. O., S. 685, 689; BSG, Urteil vom 16. Mai 2012 - B 4 AS 109/11 R -). Das gilt auch für das gerichtliche Verfahren, vgl. dort §§ 103, 106 SGG. Beruft sich der Betroffene auf eine unrichtige Rechtsanwendung, gilt grundsätzlich die Pflicht zur Überprüfung von Amts wegen, vorausgesetzt, die zur Überprüfung gestellten Bescheide sind zumindest bestimmbar.

Im Fall des Klägers folgt unter Beachtung dieser Grundsätze aus seinem Antrag keine Pflicht zur Überprüfung von Bescheiden in der Sache. Er hat bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens die zur Überprüfung gestellten Bescheide nicht benannt. Soweit er alle Bescheide seit dem 01. Januar 2006 benennt, handelt es sich dabei (nach Maßgabe des BSG in seinem Beschluss vom 14. März 2012 - B 4 AS 239/11 B -) nicht mehr um die Überprüfung der Verfügungssätze jedenfalls einer ohne Weiteres bestimmbaren Zahl von Verfügungssätzen von Verwaltungsakten. Die Berufung darauf, der Beklagte müsse die Bescheide kennen, negiert gerade die Mitwirkungsobliegenheit, die bei einem solch langen Zeitraum besteht. Es kann nämlich nicht außer Acht gelassen werden, dass gerade der Kläger, der behauptet, die ihn betreffenden Bescheide seien rechtwidrig, diese auch kennen müsste. Dies kann dem Antragsteller im Rahmen der Mitwirkungsobliegenheit zulässigerweise vorgehalten werden. Insoweit ist es nicht zu beanstanden, dass sich der Beklagte im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren auf die Bestandskraft seiner Bescheide berufen hat, denn er hat vor seinem Bescheid den Kläger zur näheren Konkretisierung seines Begehrens aufgefordert (so auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 14. Juni 2012 - L 18 AS 1341/12 B PKH - und vom 12. Juni 2012 - L 20 AS 947/12 B PKH -; Urteil vom 29. September 2011 - L 29 AS 728/11 -). Auf die konkrete Benennung der zur Überprüfung gestellten Bescheide gegenüber dem Beklagten kann auch deshalb nicht verzichtet werden, weil dem Beklagten allein aus der Verwaltungsakte nicht erkennbar ist, welche Bescheide der Kläger zum Inhalt seines Antrags macht, denn er kann nicht ohne Weiteres überprüfen, welche Bescheide, die er im Wege einfacher Bekanntgabe versandt hat, dem Kläger tatsächlich zugegangen sind. Daraus kann der Kläger nicht den Schluss ziehen, dass solche Entscheidungen sogar noch unter erleichterten Bedingungen überprüft werden könnten. Denn ein Verwaltungsakt wird erst mit der Bekanntgabe gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist, wirksam (§ 39 Abs. 1 SGB X). Ein nicht bekannt gegebener Bescheid kann deshalb nicht nach § 44 SGB X überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden.

Kein anderes Ergebnis ergibt sich unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Kläger erstmals mit Begründung seiner Klage gegenüber dem Sozialgericht die zu überprüfenden Bescheide des Beklagten benannt und eine – sehr kurze - Begründung für die aus seiner Sicht rechtswidrigen Regelungen gegeben hat. Damit konnte der Kläger seinen Mitwirkungsobliegenheiten nicht mehr gerecht werden. Denn für das Gericht gilt im Klageverfahren kein anderer Maßstab als für die Behörde. Zwar ist im Fall der zulässigen Anfechtungs- und Verpflichtungsklage der für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgebliche Zeitpunkt der der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz. Dies betrifft nicht nur den Fall, dass Klagegegenstand Dauerverwaltungsakte sind, die laufende Leistungen betreffen und damit auch zukünftige Zeiträume erfassen (BSG, Urteil vom 17. Februar 2005 - B 13 RJ 31/04 - in SozR 4 - 2600 § 43 Nr. 3), sondern auch die Beurteilung von Bescheiden im Überprüfungsverfahren. Maßgeblicher Zeitpunkt ist auch hier grundsätzlich der der letzten mündlichen Verhandlung (BSG, Urteil vom 25. Januar 2012 - B 5 R 47/10 R -, zitiert nach juris). Maßgebend ist somit die Sach- und Rechtslage, wie sie sich, bezogen auf das Überprüfungsbegehren, dem Gericht zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlung darstellt. Hängt aber das Überprüfungsbegehren von Mitwirkungsobliegenheiten im Verwaltungsverfahren ab, sind Gerichte nicht verpflichtet, auf die Nachholung der schon bestehenden Mitwirkungsobliegenheit die nunmehr konkret benannten Bescheide erstmals zu überprüfen. Denn die Rechtmäßigkeitskontrolle, die der Senat vornimmt, reduziert sich in diesem Fall – auch als Konsequenz des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Gewaltenteilung - auf die Frage, ob der Beklagte sich ohne weitere Sachprüfung auf die Bestandskraft der Bescheide berufen konnte. Die Gerichte sind nicht dazu berufen, an Stelle der Verwaltung erstmals Verwaltungsakte ersetzende Regelungen zu treffen.

Ein im Klageverfahren konkretisierter Antrag auf Überprüfung stellt vielmehr einen neuen Antrag nach § 44 SGB X dar, über den der Beklagte zu entscheiden hat (vgl. Beschluss des Senats vom 07. Mai 2012 – L 19 AS 42/12 B PKH -).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war zuzulassen. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Zwar hat das BSG selbst in einem ähnlichen Fall im Rahmen der erhobenen Nichtzulassungsbeschwerde ausgeführt, dass ein vergleichbar weitreichendes Überprüfungsbegehren mit Mitwirkungserfordernissen beim Berechtigten korrespondiert (Beschluss vom 14. März 2012 - B 4 AS 239/11 B - unveröffentlicht). Die entscheidungserhebliche Frage, welche Auswirkungen es hat, wenn das Überprüfungsbegehren im Klage- oder Berufungsverfahren erstmals konkretisiert wird, ist jedoch noch offen.
Rechtskraft
Aus
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