L 13 SB 232/12

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 199 SB 2083/11
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 232/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 19. Oktober 2012 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung auch über die Kosten des Verfahrens an das Sozialgericht Berlin zurückverwiesen. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der 1963 geborene Kläger begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50 und des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).

Mit bestandskräftigem Bescheid vom 16. Juli 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. November 2007 war zuletzt zugunsten des Klägers der Einschätzung des Arztes für Orthopädie J in seinem Gutachten vom 24. September 2007 folgend ab Antragstellung am 30. März 2007 ein GdB von 40 aufgrund folgender Funktionsbeeinträchtigungen festgestellt worden:

Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Bandscheibenschäden, Nervenwurzelreizerscheinungen der Wirbelsäule (Einzel-GdB 30)

Hautleiden (Einzel-GdB 20)

Harnentleerungsstörung (Einzel-GdB 10).

Zugleich stellte der Beklagte fest, dass die Funktionsbeeinträchtigungen zu einer dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit geführt hätten. Das zudem begehrte Merkzeichen "G" lehnte der Beklagte indes ab.

Auf den Verschlimmerungsantrag des Klägers vom 8. April 2010, mit dem er erneut das Merkzeichen "G" geltend machte, und insbesondere auch auf einen Hallux rigidus bds. verwies, zog der Beklagte einen Befundbericht des Orthopäden Dr. M vom 8. Juni 2010 bei und lehnte den Antrag der gutachtlichen Einschätzung des Facharztes für Chirurgie Dr. Sch vom 19. Oktober 2010 und der Ärztin für Chirurgie Dr. G vom 14. Januar 2011 folgend mit Bescheid vom 15. November 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. August 2011 ab. Die Versteifung der mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewertenden Großzehengrundgelenke rechtfertige eine Erhöhung des GdB nicht; die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" lägen weiterhin nicht vor.

Mit seiner Klage vor dem Sozialgericht Berlin verfolgte der Kläger sein Begehren weiter. Das Sozialgericht hat Befundberichte der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. B (Eingang 9. Januar 2012 und vom 17. August 2012) und des Facharztes für Orthopädie Dr. M vom 16. April 2012 eingeholt.

Mit Gerichtsbescheid vom 19. Oktober 2012 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. In Auswertung der eingeholten Befundberichte habe der Kläger keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 40. Auch lägen danach nicht die gesundheitlichen Voraussetzungen für das begehrte Merkzeichen "G" vor.

Gegen den ihm am 24. Oktober 2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 1. November 2012 Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.

Er ist der Auffassung, dass sein GdB höher zu bewerten ist und Anspruch auf die Zuerkennung des Merkzeichen "G" bestehe und nimmt auf das ärztliche Attest des Orthopäden Dr. M vom 20. Dezember 2012 Bezug.

Die Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 19. Oktober 2012 aufzuheben und den Rechtsstreit an das Sozialgericht Berlin zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist gemäß §§ 143, 144 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben und im Sinne einer Zurückverweisung auch begründet.

Die Zurückverweisung beruht auf § 105 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG in der seit dem 1. Januar 2012 geltenden Fassung des Art. 8 Nr. 8 a) des Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 22. Dezember 2001 (BGBl. I. S. 3057), die mangels Schaffung einer Übergangsregelung in Art. 23 des vorgenannten Änderungsgesetzes nach dem allgemeinen Grundsatz des intertemporalen Prozessrechts auch schon vor Ihrem Inkrafttreten anhängige Rechtsstreitigkeiten erfasst. Danach kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und – so die Neufassung des Gesetzes - aufgrund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist.

Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG ist gegeben, wenn ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift vorliegt. Wesentlich ist dieser Verfahrensmangel, wenn die Entscheidung des Sozialgerichts darauf berufen kann (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 159 Rdnr. 3). Die Entscheidung des Sozialgerichts leidet in zweierlei Hinsicht an einem wesentlichen Verfahrensmangel. Zum einen hat das Sozialgericht durch Gerichtsbescheid entschieden, obwohl die dafür gesetzlich vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt waren (1.). Zum anderen hat das Sozialgericht den Sachverhalt nicht entsprechend aufgeklärt (2.). Infolge dieses Mangels ist eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig (3.)

1. Das Sozialgericht hat verfahrensfehlerhaft durch den Kammervorsitzenden als Einzelrichter mittels Gerichtsbescheid ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter (§ 12 Abs. 1 Satz 2 SGG) entschieden, obwohl die Voraussetzungen von § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG für eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid nicht vorgelegen haben. Dadurch hat es dem Kläger entgegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz seinen gesetzlichen Richter, nämlich der Kammer in voller Besetzung (§ 12 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. mit § 125 SGG), entzogen.

Nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG ist der Erlass eines Gerichtsbescheides nur dann möglich, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Diese Voraussetzungen waren vorliegend nicht gegeben. Unabhängig davon, dass Gerichtsbescheide in medizinisch geprägten Fällen ohnehin nur äußerst zurückhaltend eingesetzt werden sollten, ist nicht davon auszugehen, dass der Sachverhalt geklärt ist. Ein Sachverhalt ist grundsätzlich nur dann als geklärt im Sinne des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG anzusehen, wenn ein verständiger Prozessbeteiligter in Kenntnis des gesamten Prozessstoffes keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des vom Gericht zugrunde gelegten entscheidungserheblichen Sachverhalts haben wird. Der Senat geht insoweit davon aus, das unter Klärung des Sachverhalts im Sinne von § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG mehr zu verstehen ist, als die dem Gericht im sozialgerichtlichen Verfahren ohnehin gemäß §§ 103, 106 SGG obliegende Verpflichtung zur umfassenden Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen. Dafür, dass die Voraussetzungen in § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG enger zu fassen sind, spricht der Umstand, dass der Gesetzgeber für den Gerichtsbescheid einen geklärten Sachverhalt als zusätzliche Voraussetzung ausdrücklich in den Wortlaut aufgenommen hat (vgl. Urteil des Senats vom 7. April 2011, L 13 SB 80/10, bei Juris).

Im vorliegenden Fall schied danach mangels Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter aus, zumal bereits nicht der allgemeinen Amtsermittlungspflicht hinreichend Rechnung getragen worden ist (siehe dazu unter 2.). Der bestehende Besetzungsmangel ist auch als wesentlich anzusehen, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Kammer in ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Besetzung zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre.

2. Das Sozialgericht hat verfahrensfehlerhaft gegen seine Aufklärungspflicht gemäß § 103 SGG verstoßen, wonach alle entscheidungserheblichen Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln sind. Die Aufklärung eines medizinisch geprägten Sachverhalts durch ein Tatsachengericht unterliegt in allen Gerichtsinstanzen einheitlichen Qualitätsanforderungen. Im Hinblick auf die Amtsermittlung erstinstanzlicher Gerichte sind danach im Grundsatz die gleichen Anforderungen heranzuziehen, die auch das Bundessozialgericht an die Sachverhaltsaufklärung durch die Landessozialgerichte stellt. Dabei berechtigen ungeachtet etwaiger medizinischer Grundkenntnisse durch richterliche Tätigkeit in medizinischen Sparten diese jedenfalls im Regelfall nicht zu einer eigenständigen Beurteilung medizinischer Sachverhalte. Soweit das Gericht einen medizinischen Sachverhalt auf Grund eigener Sachkunde bewerten will, wäre überdies die Grundlage darzulegen gewesen, auf der diese Sachkunde beruht, damit die Beteiligten hierzu hätten Stellung nehmen können (vgl. Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 10. Dezember 1987 – 9a RV 36/85 = SozR 1500 § 128 Nr. 31). Die Auswertung eingeholter Befundberichte der behandelnden Ärzte genügt im Regelfall nicht, um den Erfordernissen der Amtsermittlung gerecht zu werden. Sie sind nur schriftliche Zeugenaussagen. Den behandelnden Ärzten fehlt überdies in aller Regel eine sozialmedizinische Schulung und Erfahrung. Außerdem sollte die richterliche Sachaufklärung nicht (auch nicht ungewollt) dazu führen, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient beeinträchtigt wird, solange geeignetere Methoden der Sachverhaltsaufklärung zur Verfügung stehen. Zur Aufklärung eines Sachverhalts in medizinischer Hinsicht bedarf es nach alledem regelmäßig der Einholung eines Sachverständigengutachtens, wobei sowohl im Hinblick auf das jeweilige medizinische Fachgebiet als auch im Hinblick auf die sozialmedizinischen Erfordernisse auf eine hinreichende Qualifikation und Erfahrung von Sachverständigen zu achten ist (vgl. auch insoweit Urteil des Senats vom 7. April 2011).

Dies zu Grunde gelegt, hätte sich das Sozialgericht zu weiteren medizinischen Ermittlungen gedrängt fühlen und den Kläger sowohl hinsichtlich der Feststellung der Höhe des Gesamt-GdB als auch des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Erteilung des begehrten Merkzeichens "G" zumindest durch einen Orthopäden begutachten lassen müssen. Mangels entsprechender medizinischer Fachkenntnisse durfte es seine Entscheidung nicht (allein) auf die vorhandenen ärztlichen Unterlagen und insbesondere die eingeholten Befundberichte stützen. Zwar verkennt der Senat nicht, dass der Kläger im Verwaltungsverfahren bereits durch den Orthopäden J sowohl zur Beurteilung des GdB als auch des Merkzeichens "G" begutachtet worden ist. Dieses Gutachten des Beklagten datiert indes bereits aus dem Jahre 2007 und konnte daher weder die unstreitig gegebene Verschlimmerung des Gesundheitszustandes in orthopädischer Hinsicht mit Blick auf die Versteifung der Großzehengrundgelenke bds. noch hinzutretende Erkrankungen mit Blick auf den Bluthochdruck sowie den Diabetes mellitus berücksichtigen. Zur Gesamtbeurteilung des Gesundheitszustandes des Klägers, der daraus abzuleitenden Funktionsbeeinträchtigungen und der sich daraus ergebenden Folgewirkungen für das begehrte Merkzeichen "G" hätte sich das Sozialgericht nicht allein auf Befundunterlagen der den Kläger behandelnden Ärzte stützen dürfen, sondern hätte sich zur Einholung eines (gerichtlichen) Zusammenhangsgutachtens zumindest auf orthopädischem Gebiet gedrängt fühlen müssen. Die Befragung der behandelnden Ärzte kann entsprechende Feststellungen gerade mit Blick auf die letztlich maßgebliche Ermittlung eines Gesamt-GdB nicht ersetzen. Auch wenn gutachtliche Einschätzungen keine verbindliche Wirkung für die richterliche Entscheidung haben, so sind sie jedoch zumeist - und so auch hier - eine unentbehrliche Grundlage. Der danach vorliegende Verfahrensmangel ist auch wesentlich, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Sozialgericht nach gebotener Aufklärung durch Einholung eines – hier naheliegenden - orthopädischen Sachverständigengutachtens zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre.

3. Der Mangel macht auch eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme im Sinne der Neufassung des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG erforderlich. Davon ist auszugehen, wenn sie einen erheblichen Einsatz von personellen und sächlichen Mitteln erfordert (vgl. hierzu Bundestags-Drucksache 17/6764, S. 27 zu Nummer 8). Dies ist hier der Fall. Das Sozialgericht hat es nämlich fehlerhaft unterlassen, den Sachverhalt durch Einholung eines jedenfalls orthopädischen Sachverständigengutachtens aufzuklären. Mit der Einholung eines Gutachtens ist aber typischerweise der Einsatz erheblicher sächlicher und mit Blick auf die Auswertung und Bewertung des einzuholenden Gutachtens auch erheblicher personeller Mittel verbunden, das je nach der Sach- und Rechtslage ggf. auch weitere Ermittlungen nach sich ziehen kann. Ob nach Einholung eines entsprechenden Gutachtens weiterer Aufklärungsbedarf - etwa durch Einholung eines Gutachtens auf internistischem Gebiet - besteht, bleibt abzuwarten.

4. Im Rahmen seines nach § 159 SGG auszuübenden Ermessens hat das Gericht das Interesse des Klägers an einer möglichst zeitnahen Erledigung des Rechtsstreits gegenüber den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz abgewogen und sich angesichts der erheblichen Mängel des sozialgerichtlichen Verfahrens für eine Zurückverweisung entschieden. Hierbei hat es berücksichtigt, dass der Rechtsstreit noch weit von einer Entscheidungsreife entfernt ist und weitere tatsächliche Ermittlungen erfordert, weshalb der Verlust einer Tatsacheninstanz, wie er wegen der vom Sozialgericht unterlassenen Aufklärung praktisch eingetreten ist, besonders ins Gewicht fiel. Die Zurückverweisung stellt die dem gesetzlichen Modell entsprechenden zwei Tatsacheninstanzen wieder her. Auch der Grundsatz der Prozessökonomie führt nicht dazu, den Rechtsstreit bereits jetzt abschließend in der Berufungsinstanz zu behandeln. Es ist prozessökonomischer, dem Sozialgericht zunächst Gelegenheit zur Aufklärung des Sachverhalts zu geben. Dabei hat sich der Senat im Rahmen der Ermessensausübung insbesondere auch dadurch leiten lassen, dass die Sache erst gut 3 1/2 Monate in der Berufungsinstanz anhängig ist, mithin die durch die Fehlerhaftigkeit der Sachaufklärung eintretende Verfahrensverzögerung als gering einzuschätzen ist. Die Wahrung zweier Tatsacheninstanzen entspricht auch der Interessenlage des Klägers.

5. Das Sozialgericht hat nach alledem nunmehr zur Aufklärung des Sachverhalts zunächst eine Begutachtung des Klägers durch einen orthopädischen Sachverständigen zu veranlassen.

Das Sozialgericht wird in seiner Kostenentscheidung auch über die Kosten der Berufung zu befinden haben.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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