L 3 AL 21/13 B ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 19 AL 638/12 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 3 AL 21/13 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Zur Frage, ob ein Anordnungsgrund vorliegt, wenn dem Antragsteller die Möglichkeit offen steht, Leistungen der Grundsicherung in Anspruch zu nehmen.

2. Ausnahmsweise kann ein Anordnungsgrund dann vorliegen, wenn die beanspruchte Leistung, hier das Arbeitslosengeld, erheblich über dem Grundsicherungsniveau nach dem SGB II oder dem SGB XII liegt und der Antragsteller bei einer Verweisung auf die Leistung der Grundsicherung schwerwiegende und unzumutbare Nachteile erleiden würde.
I. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 17. Dezember 2012 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin begehrt die Verpflichtung der Antragsgegnerin, ihr vorläufig Arbeitslosengeld zu gewähren.

Die Antragstellerin meldete sich am 12. Juli 2012 bei der Antragsgegnerin arbeitslos und beantragte die Bewilligung von Arbeitslosengeld mit Wirkung zum 21. August 2012. Ihr Arbeitsverhältnis war zum 31. Dezember 2011 beendet worden. Vom 4. April 2011 bis 20. August 2012 bezog sie bis zur Erschöpfung des Anspruchs Krankengeld.

Am 6. August 2012 wurde die Antragstellerin durch den Ärztlichen Dienst der Antragsgegnerin sozialmedizinisch begutachtet. Bei ihr wurde eine Erkrankung des psychiatrischen Formenkreises, eine Minderbelastbarkeit der Wirbelsäule, Übergewicht, Diabetes und Migräne-Neigung festgestellt. Mit diesen Gesundheitsstörungen sei sie in der Lage, vollschichtig gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten, gelegentlich sitzend, gelegentlich stehend und gelegentlich gehend, auszuüben. Hohe Anforderungen an das Umstellungs- und Anpassungsvermögen, Zeitdruck, anhaltende Zwangshaltungen der Wirbelsäule, häufiges Bücken, häufiges Heben und Tragen ohne mechanische Hilfsmittel und eine Tätigkeit in Nachtschicht seien auszuschließen. Damit bestehe auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtige Leistungsfähigkeit, wobei die im negativen Leistungsbild angegebenen Ausschlüsse dauerhaft Beachtung finden sollten.

Am 20. September 2012 sprach die Antragstellerin persönlich bei der Antragsgegnerin vor. Über das Gespräch wurde folgender Vermerk gefertigt: "Anfrage von 231, Restleistungsvermögen klären kein Fall nach § 145, AN ist weiterhin krank (derzeit bis 151012) hat Rentenantrag gestellt, AG ausgewertet - kann VZ vollschichtig arbeiten, Reha Verfahren wurde bereits durch 161 geprüft und abgelehnt, AN stellt sich nicht dem AM zur Verfügung, RR mit 231 erfolgt - ALG wird abgelehnt - Hinweis AN kann sich beim Sozialamt melden und muss sich um ihre Krankenkasse kümmern, Bewa abgemeldet, Kundin nicht verfügbar, Hinweis zu WS Ablehnung ALG gegeben" Mit Bescheid vom 25. Dezember 2012 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf Bewilligung von Arbeitslosengeld ab. Die Antragstellerin könne nur weniger als 15 Stunden pro Woche arbeiten. Sie habe erklärt, weiterhin arbeitsunfähig erkrankt zu sein und sich dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stellen zu können. Sie sei daher nicht arbeitslos und habe keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld.

Dagegen legte die Antragstellerin am 9. Oktober 2012 Widerspruch ein. Sie habe parallel zur Beantragung von Arbeitslosengeld bei der Deutschen Rentenversicherung Bund einen Antrag auf Bewilligung einer Erwerbsminderungsrente gestellt, da sie auf Grund der vorliegenden Erkrankungen und Einschränkungen dauerhaft in der Erwerbsfähigkeit gemindert sei. Es bestehe ein Anspruch auf Arbeitslosengeld nach § 145 des Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsforderung – (SGB III). Diese Nahtlosigkeitsregelung solle Versorgungslücken bis zur Entscheidung der Rentenversicherung über die bestehende Erwerbsminderung vermeiden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 19. Oktober 2012 wies die Antragsgegnerin den Widerspruch als unbegründet zurück. Ein Anspruch auf Arbeitslosengeld nach § 145 Abs. 1 SGB III habe auch eine Person, die allein deshalb nicht arbeitslos ist, weil sie wegen einer mehr als sechsmonatigen Minderung ihrer Leistungsfähigkeit keine mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende versicherungspflichtige Beschäftigung unter arbeitsmarktüblichen Bedingungen ausüben kann. Nach dem vom ärztlichen Dienst der Agentur für Arbeit festgestellten Leistungsvermögen könne aber die Antragstellerin noch mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigungen ausüben. In dem Gespräch vom 20. September 2012 habe sie erklärt, sich dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung zu stellen.

Dagegen hat die Antragstellerin Klage erhoben (Az. S 19 AL 657/12).

Den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes vom 6. Dezember 2012 hat das Sozialgericht Dresden mit Beschluss vom 17. Dezember 2012 abgelehnt. Die Antragstellerin habe schon einen Anordnungsgrund nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Sie habe weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht, dass sie einen Antrag auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) oder nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe – (SGB XII) gestellt habe und dieser abgelehnt worden sei. Werde die Gewährung von Arbeitslosengeld durch einstweiligen Rechtsschutz beantragt, sei aber zur Glaubhaftmachung des erforderlichen Anordnungsgrundes unter anderem zu belegen, ob die Möglichkeiten zur Selbsthilfe genutzt wurden. Dazu gehöre auch die Stellung eines Antrages auf Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII. Die anwaltlich vertretene Antragstellerin habe zudem auch nach Aufforderung des Gerichts weder ihre Bedürftigkeit glaubhaft gemacht noch dargetan, aus welchem Grund nunmehr eine Notlage eingetreten sein soll, obwohl sie eigenen Angaben zu Folge bereits seit September 2009 und damit seit über drei Jahren ohne geregeltes Einkommen gewesen sei und die ablehnende Entscheidung der Antragsgegnerin vom 25. September 2012 stamme. Ob die Antragstellerin einen Anspruch auf Arbeitslosengeld habe, sei offen und bleibe der Entscheidung im bereits anhängigen Hauptsacheverfahren vorbehalten.

Dagegen richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin vom 18. Januar 2013. Sie sei mit dem am 20. September 2012 eröffneten Ergebnis der medizinischen Begutachtung nicht einverstanden gewesen. Die getroffene Einschätzung entspreche nicht den Angaben ihrer behandelnden Ärzte, auch habe die Rentenversicherung noch nicht über ihren Antrag entschieden. Sie sei durchgängig seit 2011 arbeitsunfähig erkrankt und nicht in der Lage, eine Arbeit von wirtschaftlichem Wert für mindestens 15 Stunden wöchentlich zu verrichten. Bei der Deutsche Rentenversicherung Bund sei ein Antrag auf Bewilligung einer Rente gestellt worden, es bestehe daher ein Anspruch auf Bewilligung von Arbeitslosengeld nach § 145 SGB III. Die Möglichkeit der Selbsthilfe durch Antragstellung nach dem SGB II oder SGB XII stehe einem Anordnungsgrund nicht entgegen. Nach § 12a SGB II seien Leistungen nach dem SGB II grundsätzlich nachrangig, die Betroffenen hätten zunächst gegenüber anderen Leistungsträgern ihre Rechte durchzusetzen.

Die Antragstellerin beantragt (sachdienlich gefasst):

den Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 17. Dezember 2012 aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten, der Antragstellerin vorläufig ab Antragstellung Arbeitslosengeld zu gewähren.

Die Antragsgegnerin hat keinen Antrag formuliert.

Wegen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt des beigezogenen Verwaltungsvorgangs sowie der Gerichtsakten beider Instanzen verwiesen.

II.

1. Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Voraussetzung für den Erlass einer derartigen einstweiligen Anordnung ist stets, dass sowohl ein Anordnungsgrund, das heißt, die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, als auch ein Anordnungsanspruch, das heißt die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs, glaubhaft gemacht werden (vgl. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]).

Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander. Es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung der Art, dass die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils, dem Anordnungsgrund, zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (vgl. Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz [10. Aufl., 20128], § 86b Rdnr. 27 und 29). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so mindern sich die Anforderungen an einen Anordnungsgrund. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden.

Unter Beachtung dieser Grundsätze war der Antrag auf Gewährung von Arbeitslosengeld, wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat, wegen des fehlenden Anordnungsgrundes abzulehnen.

Hinsichtlich des Anordnungsgrundes ist geklärt, dass dieser grundsätzlicher nach den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung zu beurteilen ist, es sei denn, dass sich aus dem materiellen Recht (ausdrückliche gesetzliche Reglung, Zweckrichtung oder zeitliche Beschränkung des materiellen Anspruchs in der Hauptsache) oder aus Gründen prozessualen Bestandsschutzes ein anderer Beurteilungszeitpunkt oder Zeitraum (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 4. Februar 2010 – L 3 SO 51/09 B ER – JURIS-Dokument Rdnr. 34, m. w. N.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4. Januar 2008 – L 28 B 2130/07 AS ER – JURIS-Dokument Rdnr. 3, m. w. N.; Bay. LSG, Beschluss vom 9. Dezember 2011 – L 17 U 356/11 B ER – JURIS-Dokument Rdnr. 16; Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren [3. Aufl., 2012], Rdnr. 387, m. w. N.).

Vorliegend steht dem Anordnungsgrund entgegen, dass die Antragstellerin keine Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II und/oder nach dem SGB XII beantragt hat.

Zwar ist die Frage umstritten, ob ein Anordnungsgrund vorliegt, wenn dem Antragsteller die Möglichkeit offen steht, Leistungen der Grundsicherung in Anspruch zu nehmen (be-jahend z. B. LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23. November 2009 – L 19 B 37/09 AL ER – JURIS-Dokument Rdnr. 12 ff.; verneinend z. B. Bay. LSG, Beschluss vom 9. Dezember 2011, a. a. O., Rdnr. 24, m. w. N.). Nach der Kommentarliteratur wird ein Anordnungsgrund für die Zahlung von Arbeitslosengeld nur dann bejaht, wenn ein Antrag auf Leistungen nach dem SGB II abgelehnt wurde und der Anspruch auf Arbeitslosengeld offensichtlich unbegründet ist (vgl. Brand, in: Niesel, SGB III [5. Aufl., 2010], § 118 Rdnrn. 11). Dem hat sich zum Teil die Rechtsprechung angeschlossen (vgl. z. B. LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 8. November 2010 – L 19 AL 244/10 B ER – JURIS-Dokument Rdnr. 25). Der erkennende Senat hat im Beschluss vom 19. März 2003 einen Anordnungsgrund verneint, nachdem die dortige Antragstellerin nach der Ablehnung des Antrages auf einstweilige Gewährung von Arbeitslosenhilfe durch das Sozialgericht einen Antrag auf Sozialhilfe gestellt hatte (vgl. Sächs. LSG vom 19. März 2003 – L 3 B 120/00 AL-ER – JURIS-Dokument Rdnr. 24 ff.). Insbesondere fehlt der Anordnungsgrund, wenn Grundsicherungsleistungen bereits bewilligt wurden (vgl. Sächs. LSG vom 23. Februar 2012 – L 3 AL 164/11 B ER – JURIS-Dokument Rdnr. 21). Im vorliegenden Zusammenhang ist auch auf eine Passage im Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 19. Oktober 1977 zu verweisen. Das Bundesverfassungsgericht hat unter anderem festgestellt, dass "bei den Vornahmesachen, für die die Sozialgerichte zuständig sind, vor allem wegen des subsidiär eingreifenden Bundessozialhilfegesetzes das Bedürfnis nach dem Erlass einstweiliger Anordnungen oftmals nicht oder nicht in dem Maße bestehen mag wie bei der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit" (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Oktober 1977 – 2 BvR 42/76BVerfGE 46, 166 [179] = JURIS-Dokument Rdnr. 35).

Zwar kann ausnahmsweise ein Anordnungsgrund dann vorliegen, wenn die beanspruchte Leistung, hier das Arbeitslosengeld, erheblich über dem Grundsicherungsniveau nach dem SGB II oder dem SGB XII liegt und der Antragsteller bei einer Verweisung auf die Leistung der Grundsicherung schwerwiegende und unzumutbare Nachteile erleiden würde. Ein solcher Ausnahmefall ist vorliegend aber nicht gegeben. Zwar mag das der Antragstellerin für den Fall des Bestehens des Anspruchs zustehende Arbeitslosengeld der Höhe nach über den realisierbaren Grundsicherungsleistungen liegen. Es ist aber nichts vorgetragen oder nach Aktenlage ersichtlich, das darauf schließen lässt, dass die Antragstellerin durch die vorübergehende und nicht endgültige finanzielle Einbuße schwerwiegende oder unzumutbare Nachteile erleiden würde. Damit fehlt es am Anordnungsgrund.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG entsprechend.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (vgl. § 177 SGG).

Dr. Scheer Höhl Krewer
Rechtskraft
Aus
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