L 3 AS 228/12

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 5 AS 4166/11
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 3 AS 228/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. „Urkundsbeamter der Geschäftsstelle“ ist eine Funktionsbezeichnung, „Justizangestellte“ eine Berufsbezeichnung.

2. Die Verjährungsregelung des § 45 Abs. 1 SGB I wird durch die Ausschlussfrist betreffend die rückwirkende Erbringung von Leistungen nach § 44 Abs. 4 SGB X in den Fällen verdrängt, in denen durch Verwaltungsakt eine Sozialleistung zu Unrecht abgelehnt oder zu niedrig festgesetzt worden ist (Anschluss an BSG, Urteil vom 22. Oktober 1996 – 13 RJ 17/96 -).

3. Eine Frist, innerhalb derer ein Antrag auf Überprüfung eines Verwaltungsaktes zu stellen ist, ergibt sich weder aus § 44 SGB X noch aus § 40 SGB II.

4. Für einen Überprüfungsantrag wird weder in § 44 SGB X noch in § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II auf den Zeitpunkt, zu dem der zur Überprüfung gestellte Bescheid erlassen worden ist, abgestellt.
I. Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 9. März 2012 und der Bescheid des Beklagten vom 1. Juni 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. August 2011 aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, über den Überprüfungsantrag des Klägers vom 20. Mai 2011 für die Zeit ab 1. Januar 2010 in der Sache zu entscheiden. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

II. Der Beklagte hat die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Instanzen zu tragen.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Überprüfung einer früheren Antragsablehnung.

Der Kläger beantragte am 29. Juni 2009 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II). Dies lehnte die ARGE Vogtlandkreis (im Folgenden: ARGE) mit Bescheid vom 17. Juli 2009 ab. Den Widerspruch im Schreiben vom 21. Juli 2009 wies die ARGE mit Widerspruchsbescheid vom 30. Oktober 2009 zurück. Gegen diesen am selben Tag zur Post gegebenen Bescheid erhob der Kläger keine Klage.

Der Kläger beantragte mit dem am 20. Mai 2011 bei dem nunmehr zuständigen Jobcenter Vogtland, dem Beklagten, eingegangenen Schreiben, den Bescheid vom 17. Juli 2009 abzuändern. Den Überprüfungsantrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 1. Juni 2011 ab, weil die Jahresfrist aus § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II abgelaufen sei. In dem hiergegen eingelegten Widerspruch verwies der Kläger zum einen auf die vierjährige Verjährungsfrist in § 45 des Sozialgesetzbuches Erstes Buch – Allgemeiner Teil – (SGB I) sowie zum anderen darauf, dass beim Sozialgericht eine Klage und beim Europäischen Gerichtshof eine Beschwerde (Az.: Nr. 48/08) anhängig sei. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 18. August 2011 zurück.

Der Kläger hat am 7. September 2011 Klage erhoben. Neben der Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 18. August 2011 hat er einen Schadensersatzanspruch "wie in anhängiger Beschwerde Nr. 48/08 beim EuGH" geltend gemacht. Im Schreiben vom 8. Oktober 2011 hat er von ihm vor verschiedenen Gerichten betriebene Verfahren aufgelistet. Im Schreiben vom 14. Januar 2012 hat er sich gegen die Terminsmitteilung des Sozialgerichtes gewandt, Forderungen zur weiteren Verfahrensgestaltung gestellt und einen Betrag in Höhe von 2.998,80 EUR für seinen Zeit- und Arbeitsaufwand zuzüglich einer Entschädigung für anhaltende seelische und körperliche Folterung geltend gemacht. Mit Schreiben vom 2. Februar 2012 hat der Kläger erklärt, dass er das Protokoll über den Erörterungstermin am 27. Januar 2012 nicht anerkenne. Zur Anfrage bezüglich der beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid hat der Kläger im Schreiben vom 12. Februar 2012 Stellung genommen. Im Schreiben vom 20. Februar 2012 hat er beantragt, die Klage auf den Widerspruchsbescheid vom 30. Oktober 2009 zu erweitern, den Bescheid des Jobcenters vom 1. Juni 2011 zu ändern, weil der Überprüfungsantrag an die ARGE gerichtet gewesen sei, sowie zu diesem Klageverfahren alle anhängigen Klagen ab 1998 hinzuzuverbinden.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 9. März 2012 abgewiesen. Gegenstand des Verfahrens sei die Klage gegen den Bescheid vom 1. Juni 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. August 2011. Der Überprüfungsantrag sei verfristet, weil er nicht innerhalb der Jahresfrist gestellt worden sei. Auf die 4-Jahresfrist in § 44 Abs. 2 des Sozialgesetzbuches Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) könne sich der Kläger nicht berufen, weil sie für das SGB II durch die Sonderregelung des § 40 Abs.1 Satz 2 SGB II mit Wirkung ab 1. April 2011 ersetzt worden sei. Der Kläger erfülle auch nicht die Voraussetzungen der Übergangsregelung in § 77 Abs. 13 SGB II. Soweit sich der Kläger auf andere anhängige Verfahren berufe, beträfen diese andere Zeiträume und seien im Übrigen rechtskräftig abgeschlossen.

Der Kläger hat mit Schreiben vom 15. März 2012, eingegangen am 30. März 2012, Berufung eingelegt. Er fordert mit Hinweis auf das Verfahren beim "EuGH" eine Vorabentscheidung über die Zuständigkeit, erstattet eine Strafanzeige (wohl gegen den Kammervorsitzenden des Sozialgerichtes), erhebt eine "Notwehr-Klage" zur Fristwahrung sowie eine Nichtigkeits- und Restitutionsklage gegen den Gerichtsbescheid vom 9. März 2012 wegen verschiedener Form- und Verfahrensfehlern und fordert Schadensersatz und eine gerechte Entschädigung, wie er sie in der Beschwerde 48/08 beim EuGH beantragt habe.

Der Berichterstatter hat mit Schreiben vom 14. März 2013 darauf hingewiesen, dass der Kläger wohl einen Anspruch auf Überprüfung des Ablehnungsbescheides für die Zeit ab 1. Januar 2010 habe. Der Beklagte ist im Schriftsatz vom 19. März 2013 dem nicht entgegengetreten und hat seine Bereitschaft erklärt, auf den Überprüfungsantrag hin den Ablehnungsbescheid vom 17. Juli 2009 nochmals zu prüfen. Der Kläger hat auf keines der beiden Schreiben reagiert.

Der Kläger beantragt im Berufungsschreiben,

"1) Vorab-Entscheidung über Zuständigkeit 2) Strafanzeige wegen Fälschung 3) Notwehr-Klage 4) Nichtigkeits- u. Restitutionsklage gegen: Gerichtsbescheid vom 09.03.2012 von SD ‚C’ Az.: S 5 AS 4166/11". 5) "Schadensersatz und eine gerechte Entschädigung wie in Beschwerde 48/08 bei EuGH beantragt".

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten aus beiden Verfahrenszügen sowie die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

I. Das Gericht konnte trotz Ausbleibens des Klägers verhandeln und entscheiden, weil er hierauf in der Terminsmitteilung hingewiesen worden ist (vgl. § 153 Abs. 1 i. V. m. § 110 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]).

Soweit der Kläger im Schreiben vom 22. Februar 2013 erklärte, dass er die Terminsmitteilung wegen Fälschung nicht anerkenne, weil die Unterschriften der drei Richter sowie eine Beglaubigung fehlen würden und außerdem jetzt der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag wegen mehrfach von Deutschland begangener Straftaten zuständig sei, steht dies einer Entscheidung trotz Ausbleibens des Klägers nicht entgegen. Die vom Kläger gerügten Verfahrensmängel bestehen nicht. Denn nur Urteile sind gemäß § 153 Abs. 3 Satz 1 SGG von den Mitgliedern des Senates zu unterschreiben (im erstinstanzlichen Verfahren vom Kammervorsitzenden: § 134 Abs. 1 SGG) und nur Urteile sind gemäß § 137 SGG auszufertigen. Entsprechendes gilt für Gerichtsbescheide (vgl. § 105 Abs. 1 Satz 3 SGG) und Beschlüsse (vgl. § 142 Abs. 1 und 3 SGG). Für Terminsmitteilungen (vgl. § 110 Abs. 1 Satz 1 SGG) oder Ladungsschreiben (vgl. § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 377 Abs. 1 und 2, § 402 der Zivilprozessordnung [ZPO]) gelten diese Regelungen nicht. Für den vom Kläger behaupteten Verfahrens- und Entscheidungsvorrang des Internationalen Strafgerichtshofes gibt es in dem am 17. Juli 1998 angenommenen Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (vgl. United Nations, United Nations Diplomatic Conference of Plenipotentiaries on the Establishment of an International Criminal Court, A/CONF.183/9, ILM 37 (1998) p. 1002; weitere Veröffentlichung: http://untreaty.un.org/ cod/icc/docs.htm; amtliche Übersetzung in deutscher Sprache: BGBl. II 2000, 1393; vgl. zum Inkrafttreten für die Bundesrepublik Deutschland: BGBl. II 2003, 293) keine Rechtsgrundlage. Auf Grund dessen ist es unerheblich, ob sich der Kläger überhaupt an den Gerichtshof gewandt hat.

II. Die Berufungsanträge in der vom Kläger formulierten Fassung bleiben ohne Erfolg; sie sind überwiegend unzulässig (Nummer 1 bis 4). In der sachdienlichen Auslegung als Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichtes Chemnitz vom 9. März 2012 haben sie teilweise Erfolg (Nummer 5 bis 8).

1. Mit dem Antrag Nummer 1 begehrt der Kläger eine "Vorab-Entscheidung über Zuständigkeit". In der Begründung hierzu bezieht er sich auf § 17a Abs. 3 des Gerichtsver-fassungsgesetzes (GVG). Gemäß § 17a Abs. 3 Satz 1 GVG kann das Gericht, wenn der beschrittene Rechtsweg zulässig ist, dies vorab aussprechen. Es hat gemäß § 17a Abs. 3 Satz 2 GVG vorab zu entscheiden, wenn eine Partei die Zulässigkeit des Rechtsweges rügt. Aus der weiteren Begründung wird jedoch deutlich, dass es dem Kläger nicht um die Frage des Rechtsweges zu einer der fünf Gerichtsbarkeiten, nämlich der ordentliche Gerichtsbarkeit mit den Zivil- und Strafgerichten, der Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Sozialgerichtsbarkeit, der Finanzgerichtsbarkeit, und der Arbeitsgerichtsbarkeit (vgl. hierzu auch Artikel 95 Abs. 1 des Grundgesetzes [GG]) geht, sondern um die Frage, ob das Be-schwerdeverfahren mit dem Az. 48/08 vor dem "EuGH" vorgreiflich ist. Nach dem angegebenen Aktenzeichen dürfte allerdings wohl ein Verfahren vor der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gemeint sein, zumal die Rechtssache C-48/08 vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ein Vertragsverletzungsverfahren der Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Irland (ABl. C 92 vom 12.4.2008, S. 18–18) und die Rechtssache T-48/08 die Klage Fusco/HABM – Fusco International (FUSCOLLECTION) (ABl. C 92 vom 12.4.2008, S. 37–37) betrafen. Auch die Schadensersatzforderung mit den hierzu gegebenen Begründungen verweist eher auf ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Dieses prozessuale Begehren ist sachdienlich (vgl. § 123 SGG) als Antrag auf Aussetzung des Verfahrens im Sinne von § 114 Abs. 2 Satz 1 SGG auszulegen. Danach kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsstelle festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsstelle auszusetzen sei. Diese Voraussetzungen sind ersichtlich nicht gegeben, sodass es einer vertieften Auseinandersetzung damit, welche Verfahrensschritte dem vom Kläger angesprochenen Verfahren mit dem Az. 48/08 vorausgingen, welchen Gegenstand das Beschwerdeverfahren hatte und wie der Verfahrensstand dieses Ver-fahrens ist, nicht bedarf. Denn bereits aus dem Aktenzeichen des Verfahrens ist zu ersehen, dass es im Jahr 2008 bei der zuständigen Stelle einging, mithin lange vor dem Über-prüfungsantrag vom 20. Mai 2011, aber auch vor dem vom Überprüfungsantrag betroffenen Leistungsantrag vom 29. Juni 2009. Damit kann es für das Überprüfungsverfahren und das nachfolgende Gerichtsverfahren nicht vorgreiflich sein.

2. Die Strafanzeige unter Antrag Nummer 2 eröffnet nicht die Entscheidungskompetenz des Sächsischen Landessozialgerichtes, sondern der Staatsanwaltschaft. Die Anzeige einer Straftat kann gemäß § 158 Abs. 1 der Strafprozessordnung (StPO) bei der Staatsanwaltschaft, den Behörden und Beamten des Polizeidienstes und den Amtsgerichten mündlich oder schriftlich angebracht werden. Gemäß § 160 Abs. 1 StPO hat die Staatsanwaltschaft, sobald sie durch eine Anzeige oder auf anderem Wege von dem Verdacht einer Straftat Kenntnis erhält, zu ihrer Entschließung darüber, ob die öffentliche Klage zu erheben ist, den Sachverhalt zu erforschen.

3. Mit der "Notwehr-Klage" unter Antrag Nummer 3 verfolgt der Kläger nach eigenen Angaben das Ziel, Fristen einzuhalten. Da dieser Antrag vom Gerichtsbescheid des Sozialgerichtes Chemnitz vom 9. März 2012 ausgeht, kann die "Klage" möglicherweise sachdienlich als Berufung ausgelegt werden (vgl. Nummer 5).

4. Die unter Antrag Nummer 4 erhobenen Nichtigkeitsklage und Restitutionsklage sind unzulässig. Denn die in § 579 ZPO geregelte Nichtigkeitsklage und die in § 580 ZPO ge-regelte Restitutionsklage sind die beiden in § 578 Abs. 1 ZPO benannten Arten der Wiederaufnahme eines Verfahrens. Auf diese Vorschriften in der Zivilprozessordnung wird in § 179 Abs. 1 SGG für das Wiederaufnahmeverfahren nach dem Sozialgerichtsgesetz Bezug genommen. § 179 Abs. 1 SGG setzt aber, ebenso wie § 578 Abs. 1 ZPO, ein rechtskräftig beendetes Verfahren voraus. Der angefochtene Gerichtsbescheid ist jedoch wegen des Rechtsmittels des Klägers noch nicht rechtskräftig. Zudem ist gemäß § 179 Abs. 1 SGG i. V. m. § 584 Abs. 1 Alt 1 ZPO für die Nichtigkeits- oder Restitutionsklage ausschließlich das Gericht, das im ersten Rechtszug erkannt hat, zuständig. Dies ist vor-liegend das Sozialgericht Chemnitz.

5. Da nach den vorstehenden Ausführungen die Anträge unter Nummer 1 bis 4 unzulässig sind, der Kläger aber andererseits deutlich gemacht hat, mit dem Gerichtsbescheid vom 9. März 2012 nicht einverstanden zu sein und eine Kontrolle durch das Sächsische Landessozialgericht zu wünschen, sind seine Anträge sachdienlich (vgl. § 123 SGG) als Berufung auszulegen.

6. Gegenstand dieses Berufungsverfahrens ist nur die Entscheidung des Sozialgerichtes über den Antrag des Klägers, den Beklagten zu verpflichten, über den Überprüfungsantrag in der Sache zu entscheiden. Soweit der Kläger darüber hinaus in der Klageschrift einen Schadensersatzantrag gestellt hat, hat das Sozialgericht hierüber nicht entschieden. Insoweit besteht die Möglichkeit, einen Antrag auf Urteilsergänzung gemäß § 140 SGG zu stellen. Für die Entscheidung über einen solchen Antrag wäre das Sozialgericht zuständig. Hierbei wäre unter anderem zu prüfen, ob ein solcher Antrag konkludent in einem der Anträge im Berufungsschreiben des Klägers enthalten sein könnte. Das Sozialgericht wäre, wenn das Vorliegen der formellen Voraussetzungen für eine Urteilsergänzung zu bejahen sein sollte, allerdings nicht gehindert, diesen abtrennbaren Klagegegenstand unter Beachtung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (vgl. BSG, Beschluss vom 20. Oktober 2010 – B 13 R 63/10 B – SozR 4-1500 § 153 Nr. 11; BSG, Beschluss vom 31. Oktober 2012 – B 13 R 437/11 B – JURIS-Dokument) an das zuständige Landgericht zu verweisen, wenn es den Rechtsweg zu den Sozialgerichten als nicht eröffnet ansehen sollte.

7. Wegen des unter Nummer 6 beschriebenen beschränkten Umfanges des Gegenstandes des Berufungsverfahrens liegt in dem Schadensersatzantrag, der im Berufungsschreiben enthalten ist, eine Klageerweiterung im Sinne von § 99 SGG. Eine Klageänderung ist zwar gemäß § 153 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 99 SGG grundsätzlich auch im Berufungsverfahren möglich (vgl. BSG, Urteil vom 7. Februar 2012 – B 13 R 85/09 R – SozR 4-1200 § 52 Nr. 5 = JURIS-Dokument, jeweils Rdnr. 35, m. w. N.; Leitherer, in: Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz [10. Aufl., 2012], § 99 Rdnr. 12). Sie ist jedoch im Vergleich zum übrigen Berufungsbegehren wegen des gänzlich anderen Streitgegenstandes und dem diesem zugrundeliegenden Lebenssachverhalt nicht sachdienlich. Auch hat der Beklagte weder in die Klageerweiterung eingewilligt (§ 99 Abs. 1 SGG) noch sich rügelos eingelassen (§ 99 Abs. 2 SGG). Die Klageerweiterung im Berufungsschreiben ist deshalb nicht zulässig.

8. Die solchermaßen beschriebene Berufung ist teilweise begründet, weil das Sozialgericht zu Unrecht die Klage in vollem Umfang abgewiesen hat (b). Der Gerichtsbescheid als solcher ist jedoch nicht formell fehlerhaft (a).

a) Die vom Kläger gerügten Mängel bestehen nicht.

(1) Soweit der Kläger rügt, der Gerichtsbescheid sei nicht unterschrieben, ist dies unzutreffend. Das in der Gerichtsakte befindliche Original ist gemäß § 134 Abs. 1 SGG vom Kammervorsitzenden unterschrieben. Zuzustellen ist nur die Ausfertigung des Urteils (oder des im gemäß § 105 Abs. 3 Halbsatz 1 SGG gleichstehenden Gerichtsbescheides), die vom Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zu unterschreiben ist (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz [10. Aufl., 2012], § 135 Rdnr. 2 und § 137 Rdnr. 2).

(2) Entgegen der Auffassung des Klägers ist eine Sitzungsniederschrift (vgl. § 122 SGG i. V. m. §§ 159 bis 165 ZPO) als solche nicht einem Beteiligten zur Genehmigung vorzu-legen. Gemäß § 122 SGG i. V. m. § 162 ZPO ist ein Protokoll nur insoweit genehmigungspflichtig, als es Feststellungen oder Anträge im Sinne von § 162 Abs. 1 Satz 1 ZPO enthält. Da der Kläger aber am Erörterungstermin vom 27. Januar 2012 nicht teilnahm, bestand ihm gegenüber keine Genehmigungspflicht.

(3) Soweit der Kläger rügt, ihm sei kein rechtliches Gehör zu den von ihm im Einzelnen bezeichneten Schreiben gewährt worden, ist dies nicht zutreffend. Denn der Anspruch auf rechtliches Gehör (vgl. Artikel 103 Abs. 1 Satz 1 GG, § 62 SGG) umfasst lediglich das Recht auf Information, auf Äußerung und auf Berücksichtigung der Äußerung (vgl. Schmidt-Aßmann, in. Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz [67. Erg-Lfg., November 2012], Art. 103 Rdnr. 69 ff.; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichts-gesetz [10. Aufl., 2012], § 62 Rdnr. 6). Es beinhaltet jedoch keinen Anspruch darauf, dass das Gericht auf jedes Schreiben eines Beteiligten antworten, vor seiner Entscheidung die Beteiligten über seine Rechtsauffassung oder den beabsichtigten Inhalt der Entscheidung unterrichten (vgl. Keller, a. a. O., Rdnr. 8a), allen Anträgen entsprechen oder auf jeden Vortrag eingehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. Mai 1993 – 1 BvR 345/83BVerfGE 88, 366 [375] = JURIS-Dokument Rdnr. 38) muss. Sofern das Sozialgericht gleichwohl zu einem Punkt den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht beachtet haben sollte, hätte dieser Mangel im Berufungsverfahren geheilt werden können (vgl. BSG, Urteil vom 28. Mai 1957 – 2 RU 18/55 – BSGE 5, 159 [164] = JURIS-Dokument Rdnr. 25; Keller, a. a. O., Rdnr. 11e) – gegebenenfalls noch in der mündlichen Verhandlung am 28. März 2013.

(4) Der Einwand des Klägers, er habe seine Klage gegen die ARGE "V" (gemeint ist Vogtlandkreis) gerichtet, ist unzutreffend. Denn in der Klageschrift ist nur an einer Stelle, nämlich im Betreff, eine Behörde benannt. Dies ist das "Jobcenter Vogtland". Im Übrigen wäre eine Klage gegen die ARGE Vogtlandkreis unzulässig gewesen. Denn mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisation der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 3. August 2010 (BGBl. I S. 1112) wurden die Regelungen über die Arbeitsgemeinschaften (insbes. in § 44b SGB II) durch die über die gemeinsamen Einrichtungen mit Wirkung ab 1. Januar 2011 ersetzt. Die gemeinsamen Einrichtungen tragen die Bezeichnung Jobcenter (vgl. § 6d SGB II). Da die Rechtsgrundlagen für die Arbeitsgemeinschaften ersatzlos entfallen sind, wäre eine Klage gegen die ARGE Vogtlandkreis nicht nur wegen der fehlenden Passivlegitimation unbegründet, sondern wegen der fehlenden Parteifähigkeit (vgl. § 70 SGG) unzulässig.

(5) Die Rüge, das Briefgeheimnis sowie Privat- und Geschäftsgeheimnisse seien verletzt, weil die Zustellpost vom 14. März 2012 (gemeint ist der zuzustellende Brief mit dem Gerichtsbescheid vom 9. März 2012) offen gewesen sei, ist unbegründet. Auf die Rechtmäßigkeit des Gerichtsbescheides vom 9. März 2012 können denknotwendig etwaige Vorkommnisse im Rahmen der zeitlich späteren Zustellung keinen Einfluss haben.

(6) Die Zuständigkeit des Sozialgerichtes war entgegen der Auffassung des Klägers nicht offen. Denn der Kläger hatte sich mit seiner Klage an das Sozialgericht Chemnitz gewandt. Damit war es verpflichtet, über seine Klage zu entscheiden. Die Voraussetzungen einer der Rechtsvorschriften, auf Grund derer das Klageverfahren ausgesetzt oder unterbrochen, das Sozialgericht mithin an einer Entscheidung gehindert gewesen wäre, lagen nicht vor.

(7) Soweit der Kläger schließlich rügt, für die Zustellung von Klagen und anderem sei der Urkundsbeamte zuständig, hingegen habe er Post von einer Justizangestellten erhalte, verkennt er, dass "Urkundsbeamter der Geschäftsstelle" eine Funktionsbezeichnung ist, wohingegen "Justizangestellte" eine Berufsbezeichnung ist (vgl. Rubrik "Tätigkeitsbezeichnung" zum Suchbegriff "Justizfachangestellte" unter http://berufenet.arbeits-agentur.de). Im Übrigen wirken sich Zustellungsmängel nicht auf die Rechtmäßigkeit einer Gerichtsentscheidung aus.

(8) Lediglich ergänzend wird angemerkt, dass das Sozialgericht über die Klage durch Gerichtsbescheid entscheiden konnte, weil es entsprechend § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG die Beteiligten zuvor angehört hatte.

b) Das Begehren des Klägers, den Beklagten zur sachlichen Bescheidung des Über-prüfungsantrages im Sinne von § 44 SGB X zu verpflichten, ist für die Zeit ab 1. Januar 2010 begründet.

Allerdings findet die vom Kläger zitierte Regelung des § 45 Abs. 1 SGB I keine Anwendung Danach verjähren Ansprüche auf Sozialleistungen in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entstanden sind. Die Verjährungsregelung des § 45 Abs. 1 SGB I wird jedoch durch die Ausschlussfrist betreffend die rückwirkende Erbringung von Leistungen nach § 44 Abs. 4 SGB X in den Fällen verdrängt, in denen durch Verwaltungsakt eine Sozialleistung zu Unrecht abgelehnt oder zu niedrig festgesetzt worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 22. Oktober 1996 – 13 RJ 17/96BSGE 79, 177 [179] = JURIS-Dokument Rdnr. 27; Rolfs, in; Hauck/Noftz, SGB I [Stand: 36. Erg.-Lfg, Dezember 2012], § 45 Rdnr. 12; Wagner, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I [2. Auflage 2011], § 45 Rdnr. 26). So liegt hier der Fall. Der Leistungsantrag des Klägers vom 29. Juni 2009 war durch Bescheid vom 17. Juli 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 2009 abgelehnt worden.

Anspruchsgrundlage für das Überprüfungsbegehren des Klägers ist § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II i. V. m. § 44 SGB X. Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Gemäß § 44 Abs. 3 Halbsatz 1 SGB X entscheidet über die Rücknahme nach Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes die zuständige Behörde. Dies gilt auch dann, wenn der zurückzunehmende Verwaltungsakt von einer anderen Behörde erlassen worden ist (vgl. § 44 Abs. 3 Halbsatz 2 SGB X). Dies bedeutet vorliegend, dass über die Aufhebung des Ablehnungsbescheides der ARGE das beklagte Jobcenter zu entscheiden hat.

Eine Frist, innerhalb derer ein Antrag auf Überprüfung eines Verwaltungsaktes zu stellen ist, ergibt sich weder aus § 44 SGB X noch aus § 40 SGB II. Insoweit sind die Ausführungen des Sozialgerichtes unter Ziffer I Nr. 1 Buchst. b Abs. 1 der Entscheidungsgründe des angefochtenen Gerichtsbescheide, dass der Überprüfungsantrag verfristet sei, unzutreffend.

Eine Frist gibt es hingegen in § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X. Danach werden, wenn ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist, Sozial-leistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Diese Frist ist für das Grundsicherungsrecht in § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II in der seit 1. April 2011 geltenden Fassung (vgl. Artikel 2 Nr. 32 des Gesetzes vom 24. März 2011 [BGBl. I S. 453]) modifiziert. Danach gilt § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X mit der Maßgabe, dass anstelle des Zeitraums von vier Jahren ein Zeitraum von einem Jahr tritt. Beide Regelungen betreffen aber nicht eine Frist zur Antragstellung, sondern zur Nachzahlung einer Leistung.

Für den vorliegenden Fall bedeutet dies Folgendes: Der Überprüfungsantrag des Klägers ist – vorbehaltlich einer hier nicht gegebenen Verwirkung – nicht fristgebunden. Befristet ist jedoch der Anspruch auf Nachzahlung von Sozialleistungen. Für die Jahresfrist aus § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II ist grundsätzlich der Zeitpunkt maßgebend, zu dem der zur Über-prüfung gestellte Bescheid zurückgenommen wird. Gemäß § 44 Abs. 4 Satz 2 SGB X wird der Zeitpunkt der Rücknahme vom Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Ver-waltungsakt zurückgenommen wird. Wenn – wie vorliegend möglich – die Rücknahme auf Antrag erfolgt, tritt gemäß § 44 Abs. 4 Satz 3 SGB X bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, an die Stelle der Rücknahme der Antrag. Wegen des Antrages des Klägers vom 20. Mai 2011 wird die Frist vom 1. Januar 2011 an berechnet. Die Jahresfrist für eine mögliche Nachzahlung reicht damit bis zum 1. Januar 2010 zurück. Lediglich der Zeitraum vom 29. Juni 2009 (Tag des Leistungsantrages) bis zum 31. Dezember 2009 wird von der Ausschlussfrist erfasst.

Soweit im Widerspruchsbescheid vom 18. August 2011 darauf abgestellt wurde, dass der Ablehnungsbescheid am 17. Juli 2009 erlassen worden sei, kommt es auf Grund der vorstehenden Ausführungen hierauf nicht an. Denn auf den Zeitpunkt, zu dem der zur Überprüfung gestellte Bescheid erlassen worden ist, wird weder in § 44 SGB X noch in § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II abgestellt.

In zeitlicher Hinsicht ist die Überprüfungspflicht des Beklagten, vom 1. Januar 2010 in die Zukunft betrachtet, nicht beschränkt. Denn wenn ein Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II wie vorliegend im Bescheid am 17. Juli 2009 ohne zeitliche Beschränkung ("ab 29.06.2009") abgelehnt wird, erstreckt sich der der streitige Zeitraum bis zur letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz (vgl. BSG, Urteil vom 7. Mai 2009 – B 14 AS 35/08 RSozR 4-4200 § 12 Nr. 14 = JURIS-Dokument, jeweisl Rdnr. 15; vgl. die weiteren Nachweise bei Aubel, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II [3. Aufl., 2012], § 37 Rdnr. 27 FN 45), weil zwischenzeitlich kein Ereignis eingetreten ist, auf Grund dessen eine Begrenzung der Geltungsdauer des abgelehnten Leistungsantrages eingetreten wäre.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG. Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass der Kläger mit seinem Rechtsschutzbegehren nur zum Teil erfolgreich war.

IV. Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

Dr. Scheer Höhl Atanassov
Rechtskraft
Aus
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