L 8 SO 4/10

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
8
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 9 SO 193/07
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 8 SO 4/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Kenntnis vom Vorliegen der Voraussetzungen für Leistungen der Sozialhilfe

1. § 18 Abs. 1 SGB XII erfordert keine Antragstellung oder sonstige Initiative des Leistungsberechtigten. Ausreichend ist die Kenntnis des Sozialhilfeträgers von einem Kern an Tatsachen, der die Notlage in ihren wesentlichen Grundlagen beschreibt.

2. Die Kenntnis entfällt nicht allein deshalb, weil der Leistungsberechtigte es trotz Hinweises des Sozialhilfeträgers unterlässt, seinen Hilfebedarf nochmals ausdrücklich geltend zu machen.

3. Der Kenntnis vom Vorliegen der Voraussetzungen für Leistungen der Sozialhilfe steht die noch nicht endgültige Klärung der vorrangigen Zuständigkeit eines anderen Leistungsträgers - insbesondere des Trägers der Grundsicherung für Arbeitssuchende - nicht entgegen.
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 21. Juli 2009 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 6. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Dezember 2007 verurteilt, dem Kläger Hilfe zum Lebensunterhalt für die Zeit vom 23. September 2006 bis 21. Februar 2007 in Höhe von insgesamt 903,60 EUR zu gewähren.

II. Die Beklagte hat die dem Kläger in beiden Rechtszügen entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) für die Zeit vom 23.09.2006 bis 21.02.2007.

Der am 2006 geborene Kläger ist deutscher Staatsangehöriger. Seine Mutter (A M ) ist serbische Staatsangehörige und bezog in den Jahren 2006 und 2007 Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Im streitigen Zeitraum bewohnten der Kläger, seine Mutter und deren 2003 geborene Tochter (P M ) eine Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber in D (F -G -S ). Der Vater des Klägers (D S ) ist deutscher Staatsangehöriger, war damals ebenfalls in der Gemeinschaftsunterkunft auf derselben Etage untergebracht und bezog vom 01.11.2006 bis jedenfalls 31.10.2007 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Bescheide der ARGE D vom 09.10.2006 und 29.03.2007).

Im März 2006 übernahm die Beklagte die Kosten der Krankenhausbehandlung der Mutter des Klägers vom 16.02.2006 bis 19.02.2006; aus der Entlassungsanzeige des Krankenhauses ergab sich eine Schwangerschaft. Anlässlich der Beantragung von Leistungen nach dem AsylbLG am 16.03.2006 reichte die Mutter des Klägers u. a. den Mutterpass (errechneter Entbindungstermin 18.09.2006) und am 04.04.2006 die Urkunde über die vorgeburtliche Anerkennung der Vaterschaft zur Akte.

Die Beklagte vermerkte nach Vorsprache der Mutter des Klägers am 04.05.2006: "Kind deutsch – kein Anspruch nach AsylbLG, Muter b. der Vorsprache informiert à Beide Eltern sollen zur ARGE gehen." und am 05.09.2006: "Frau M. wurde erneut darüber aufgeklärt, dass ihr ungeborenes Kind deutsch ist u. somit kein Anspruch nach AsylbLG hat. Die am 03.08.2006 ausgereichten Gutscheine sind zum Teil also zu Unrecht gewährt worden. Bedarf für das Kind soll der Kindesvater bei der ARGE bzw. Ortsamt P (B ) anmelden (beide Eltern in Gemeinschaftsunterkunft untergebracht). Eventuelle Ablehnungen der ARGE oder des Ortsamtes umgehend bei uns vorlegen (Name der Sachbearbeiter u. Tel.-Nummer aufschreiben, damit wir ggf. reagieren/rückfragen können)." Weitere Vermerke über Vorsprachen der Mutter des Klägers bei der Beklagten am 02.03.2006, 09.03.2006, 16.03.2006, 21.03.2006, 04.04.2006, 06.06.2006, 06.07.2006, 03.08.2006, 05.08.2006, 05.10.2006, 02.11.2006, 30.11.2006, 05.12.2006, 21.12.2006, 23.01.2007 und 22.02.2007 sind aktenkundig; wegen des Inhalts wird auf die Akte verwiesen.

Am 28.09.2006 ging bei der Beklagten die Anzeige des Diakonissenkrankenhauses D über die Aufnahme der Mutter des Klägers am 21.09.2006 ein (Diagnosen: "vorzeitiger Blasensprung, Wehenbeginn innerhalb von 24 Stunden"). Aus der am 29.09.2006 eingegangenen Entlassungsanzeige ergab sich u. a. die Diagnose "Überwachung und Leitung einer normalen Geburt". Am 26.10.2006 erteilte das Einwohner- und Standesamt der Beklagten der Mutter des Klägers eine Bescheinigung zur Anmeldung des Klägers bei der Krankenkasse.

Für die Unterbringung des Klägers im Asylbewerberheim erhob die Beklagte ursprünglich mit Bescheiden vom 15.02.2007 und 09.03.2007 Benutzungsgebühren in Höhe von 168,00 EUR für Februar 2007 und 186,00 EUR für März 2007, hob diese Bescheide später aber wieder auf (Bescheid vom 23.12.2010).

Mit am 01.03.2007 ausgegebenem und am 06.03.2007 abgegebenem Antragsformular beantragte der Kläger die Gewährung von Sozialhilfe. Die Beklagte bewilligte ihm mit Bescheid vom 06.03.2007 Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII ab 01.03.2007 "unter Vorbehalt der Rückforderung bis zur Zahlung von Kindergeld, Unterhalt bzw. Unterhaltsvorauszahlung". Am 27.03.2007 legte der Kläger Widerspruch ein und begehrte Leistungen bereits ab Geburt, da dem Sozialamt – Sachgebiet Ausländer/Aussiedler – seine ab Geburt bestehende Hilfebedürftigkeit bekannt gewesen sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 06.12.2007 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Sozialhilfe setze gemäß § 18 Abs. 1 SGB XII ein, sobald dem Sozialhilfeträger die Gewährungsvoraussetzungen bekannt würden. Im streitigen Zeitraum habe jedoch keine Kenntnis von dem Bedarf des Klägers bestanden. Erst anlässlich der Vorsprache seiner Mutter am 01.03.2007 im Ortsamt P sei dies der Fall gewesen. Zwar sei die bevorstehende Geburt angezeigt worden. Ein Kennenmüssen reiche jedoch nicht aus; der Sozialhilfeträger müsse die Notlage nicht erahnen.

Am 11.12.2007 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Dresden (SG) erhoben. Die Beklagte hat am 21.07.2009 einen Anspruch auf Leistungen für die Zeit vom 22.02.2007 bis 28.02.2007 anerkannt; der Kläger hat das (Teil-)Anerkenntnis angenommen.

Mit Urteil vom 21.07.2009 hat das SG die Klage abgewiesen. Für den streitigen Zeitraum stünden keine Leistungen zu, da die Beklagte keine Kenntnis von einer Notlage des Klägers im Sinne des § 18 Abs. 1 SGB XII gehabt habe. Zwar möge sie über die bevorstehende Geburt informiert gewesen sein. Allein hieraus folge jedoch keine qualifizierte Kenntnis vom potentiellen Hilfebedarf, wie sich aus den seitens des Klägers ignorierten Hinweisen (insbesondere zu einer Vorsprache beim Sozialamt) als auch den widersprüchlichen Angaben seiner Mutter zum Zusammenleben mit seinem Vater und geleisteten Unterhaltszahlungen ergebe. Eine einmal erlangte Kenntnis könne wieder entfallen, wenn ein Hilfesuchender nach einer ersten Vorsprache nicht erneut erscheine, um unverzichtbare ergänzende Angaben zu machen.

Gegen das dem Kläger am 28.12.2009 zugestellte Urteil hat er am 20.01.2010 Berufung erhoben. Ihm stünden Leistungen ab Geburt zu, da die Beklagte Kenntnis vom Hilfebedarf gehabt habe. Nach § 18 Abs. 1 SGB XII komme es darauf an, dass die Notwendigkeit der Hilfe dargetan oder sonst ersichtlich sei. Dies sei hier der Fall gewesen, da seine Mutter beim Sozialamt der Beklagten laufende Leistungen nach dem AsylbLG bezogen habe. In diesem Zusammenhang sei auch die Leistungsfähigkeit seines Vaters geprüft worden und damit hätten alle Informationen vorgelegen. Dass der Beklagten seine – des Klägers – Situation bestens bekannt gewesen sei, folge auch aus dem Bescheid vom 15.02.2007, mit dem von ihm die Erstattung von Unterkunftskosten verlangt worden sei.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 21. Juli 2009 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 6. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Dezember 2007 zu verurteilen, dem Kläger laufende Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt für die Zeit vom 23. September 2006 bis 21. Februar 2007 in Höhe von insgesamt 903,60 EUR zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie habe keine Kenntnis vom Hilfebedarf gehabt. Die Mutter des Klägers sei darauf hingewiesen worden, dass sie einen eventuellen Bedarf des Klägers bei der ARGE oder dem Ortsamt P anmelden könne. Auch auf die Möglichkeit der Vorsprache bei einer Sozialarbeiterin sei hingewiesen worden. Keiner der Hinweise sei jedoch genützt worden. Weder sei ein Antrag gestellt worden noch sonst ein Hilfebedarf signalisiert worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten sowie der Gerichtsakten beider Instanzen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist begründet. Zu Unrecht hat das SG die Klage abgewiesen. Denn der Bescheid der Beklagten vom 06.03.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.12.2007 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, soweit darin Leistungen abgelehnt wurden. Der Kläger hat für die Zeit vom 23.09.2006 bis 21.02.2007 einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe der beantragten 903,60 EUR.

1. Der Kläger war im streitigen Zeitraum Berechtigter im Sinne von § 19 Abs. 1 SGB XII (in der hier weiter anzuwendenden Fassung des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27.12.2003, BGBl. I S. 3022). Danach ist Hilfe zum Lebensunterhalt Personen zu leisten, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, beschaffen können (§ 19 Abs. 1 Satz 1 SGB XII). Gehören minderjährige unverheiratete Kinder dem Haushalt ihrer Eltern oder eines Elternteils an und können sie den notwendigen Lebensunterhalt aus ihrem Einkommen oder Vermögen nicht beschaffen, sind auch das Einkommen und das Vermögen der Eltern oder des Elternteils gemeinsam zu berücksichtigen (§ 19 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 SGB XII).

Der Kläger war im streitigen Zeitraum mittellos. Er verfügte weder über Einkommen noch nach den glaubhaften Angaben in der Anlage 3 zum Sozialhilfe-Fragebogen vom März 2007 über Vermögen. Nach seinem Vorbringen im Verfahren, das durch die Auskunft der Familienkasse vom 24.10.2012 und der Beklagten vom 06.11.2012 bestätigt wird, erhielt er für den streitigen Zeitraum weder Kindergeld (Zahlung erst ab Juli 2007) noch Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (Zahlung erst ab Juni 2007). Sein Vater leistete auch keine Unterhaltszahlungen. Ob dem Kläger entsprechende Ansprüche zur Seite gestanden hätten, kann dahinstehen, denn weder fiktives Einkommen noch unterlassene Einkommenserzielung vermögen den existenzsichernden Anspruch zu mindern. Auch seine Mutter, mit der er – gemeinsam mit deren Tochter – im streitigen Zeitraum in der Gemeinschaftsunterkunft lebte, verfügte über kein anzurechnendes Einkommen oder Vermögen, wie sich aus ihren glaubhaften Angaben in den Anträgen auf Leistungen nach dem AsylbLG ergibt. Folgerichtig bezog sie im streitigen Zeitraum durchgehend Leistungen nach dem AsylbLG. Mit seinem Vater lebte der Kläger bereits nicht in einem Haushalt im Sinne des § 19 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 SGB XII, so dass eine Einkommens- und Vermögensanrechnung von vornherein ausscheidet. Zudem stand der Vater im Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende und verfügte – wie auch die bei der Beklagten vorgelegten Kontoauszüge aus dem Jahr 2006 belegen – über kein einzusetzendes Vermögen.

Der Kläger war auch nicht nach § 21 Satz 1 SGB XII von Leistungen nach § 19 SGB XII ausgeschlossen. Er war nicht dem Grunde nach als Angehöriger leistungsberechtigt nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Das Zusammenleben mit der Mutter im gemeinsamen Haushalt vermag keine Leistungsberechtigung nach § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II (auf Sozialgeld) zu vermitteln, da die Mutter als Empfängerin von AsylbLG-Leistungen nicht leistungsberechtigt im Sinne des SGB II war (§ 7 Abs. 1 Satz 3 SGB II). Mit dem leiblichen Vater, der leistungsberechtigt nach dem SGB II war, bestand in dem streitigen Zeitraum keine Haushaltsgemeinschaft. Sie waren lediglich zeitweise in derselben Gemeinschaftsunterkunft auf einer Etage untergebracht.

2. Dem Leistungsanspruch des Klägers für die Zeit ab seiner Geburt (23.09.2006) bis zum 21.02.2007 steht nicht § 18 Abs. 1 SGB XII entgegen. Nach dieser Vorschrift setzt die Sozialhilfe, mit Ausnahme der Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, ein, sobald dem Träger der Sozialhilfe oder den von ihm beauftragten Stelen bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Leistung vorliegen.

Die mit dem früheren § 5 Abs. 1 Bundessozialhilfegesetz inhaltsgleiche Vorschrift des § 18 Abs. 1 SGB XII macht eine Verpflichtung des Sozialhilfeträgers zum Tätigwerden nicht von einem Antrag abhängig, sondern lässt als Ausfluss des Fürsorgegedankens die Kenntnis der Notlage genügen (Amtsprinzip). Die Antragsunabhängigkeit bezweckt in sozialpolitischer Hinsicht, bedürftigen Bevölkerungskreisen einen niedrigschwelligen Zugang zur Sozialhilfe als unterstem Auffangnetz sozialer Sicherung zu gewährleisten, um Armut und Unterversorgung möglichst weitgehend zu verhindern (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 02.02.2012 – B 8 SO 5/10 R – juris RdNr. 18; Armborst in: LPK-SGB XII, 8. Aufl. § 18 RdNr. 1; Rothkegel in: ders., Sozialhilferecht, Kap. 4 RdNr. 3). Das danach geltende Amtsprinzip erfordert also weder eine ausdrückliche Antragstellung noch überhaupt eine Initiative des Leistungsberechtigten, damit der Sozialhilfeträger für ihn tätig wird (vgl. BSG, Urteil vom 17.06.2008 – B 8 AY 5/07 R – juris RdNr. 17). Es genügt für das "Bekanntwerden" des Sozialhilfefalls, dass die Notwendigkeit der Hilfe dargetan oder sonst wie erkennbar ist (BSG, Urteil vom 02.02.2012 – B 8 SO 5/10 R – juris RdNr. 18; Urteil vom 26.08.2008 – B 8/9b SO 18/07 R – juris RdNr. 23; Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Beschluss vom 21.04.1997 – 5 PKH 2/97 – juris RdNr. 2; Beschluss vom 09.11.1976 – V B 80.76 – juris RdNr. 5). Die weitere Sachverhaltsermittlung obliegt dann nach § 20 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) dem Sozialhilfeträger, ohne dass ihm jedoch angesonnen wird, die Notwendigkeit der Hilfe zu "erahnen" (BVerwG, Beschluss vom 09.11.1976 – V B 80.76 – juris RdNr. 5; Beschluss vom 21.04.1997 – 5 PKH 2/97 – juris RdNr. 2). Die Kenntnis braucht sich nicht auf die konkrete Höhe der Leistung, sondern allein auf den Bedarf und die Hilfebedürftigkeit zu beziehen; es genügt, dass der Sozialhilfeträger Kenntnis vom Bedarfsfall als solchem hat (BSG, Urteil vom 10.11.2011 – B 8 SO 18/10 R – juris RdNr. 21). Ausreichend ist daher, dass ein Kern an Tatsachen vorliegt, der die Notlage in ihren wesentlichen Grundlagen beschreibt (vgl. Thüringer Oberverwaltungsgericht [OVG], Urteil vom 28.10.2010 – 3 KO 712/07 – juris RdNr. 58).

An diesen Maßstäben gemessen ist der Senat der Überzeugung, dass die Beklagte ab Geburt des Klägers Kenntnis von seiner Sozialhilfebedürftigkeit hatte.

Zwar wird "Kenntnis" nicht bereits dadurch begründet, dass die Entstehung eines sozialhilferechtlichen Bedarfs unter bestimmten, der Behörde bekannten, Umständen "üblich" ist (vgl. Rothkegel in: ders., Sozialhilferecht, Kap. 4 RdNr. 8). Insbesondere vermittelte im vorliegenden Fall nicht allein die Kenntnis von der Asylbewerberleistungsberechtigung der Mutter des Klägers der Beklagten Kenntnis von dessen individuellen Hilfebedarf. Hier hatte die Beklagte jedoch qualifizierte Kenntnis davon, dass der Kläger nach Geburt seine Existenz nicht aus eigenen Kräften sicherstellen können würde, sondern auf Transferleistungen angewiesen sein wird. Insbesondere waren die (prekären) Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Mutter des Klägers ebenso wie diejenigen des Vaters bekannt. Bereits im März 2006 sah sich die Beklagte im Zusammenhang mit dem schwangerschaftsbedingten Klinikaufenthalt der Mutter des Klägers nämlich veranlasst, die Einkommens- und Vermögensverhältnisses des Vaters zu prüfen und wusste – wie die handschriftliche Ergänzung "Hartz IV- Bescheid Kindes-Vater" auf dem Hinweisblatt über vorzulegende Unterlagen belegt – um dessen Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Dass die Beklagte von einem künftigen sozialhilferechtlichen Bedarf des Klägers ausging, folgt zudem auch daraus, dass sie bereits anlässlich der Vorsprachen der Mutter des Klägers im Sachgebiet Ausländer/Aussiedler am 04.05.2006 und am 05.09.2006 auf nicht bestehende Ansprüche des Klägers nach dem AsylbLG hinwies und die Mutter des Klägers auf eine durch dessen Vater vorzunehmende "Bedarfsanmeldung" bei der (damaligen) ARGE D oder dem Ortsamt P verwies.

Dass zu diesem Zeitpunkt der Kläger noch nicht geboren war, ist unerheblich. Zwar setzt Sozialhilfe nicht schon ein, wenn ein künftiger Bedarf nur absehbar ist, aber noch nicht aktuell vorliegt. Aus den bei ihr eingegangenen Aufnahme- und Entlassungsanzeigen des Diakonissenkrankenhauses D vom 26.09.2006 und 28.09.2006 sowie der Bescheinigung ihres Einwohner- und Standesamtes zur Anmeldung des Klägers bei der Krankenkasse vom 26.10.2006 hatte die Beklagte jedoch auch positive Kenntnis von der Geburt am 2006 und damit von seiner ab diesem Zeitpunkt realisierten Hilfebedürftigkeit.

Diese Kenntnis ist auch nicht dadurch wieder entfallen, dass die Mutter des Klägers erst am 22.02.2007 der Beklagten den beim Kläger bestehenden Hilfebedarf ausdrücklich anzeigte, bis dahin die von der Beklagten angeregten Vorsprachen bei der ARGE D oder dem zuständigen Ortsamt P unterließ und widersprüchliche Angaben zum Zusammenleben mit dem Kindesvater und geleisteten Unterhaltszahlungen machte. Der Senat vermag der hierauf gestützten Argumentation des SG nicht zu folgen.

Soweit es die vermeintlich widersprüchlichen Angaben zu Unterhaltszahlungen des Kindesvaters und der Beantragung von Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz anbelangt, sind diese bereits nach dem zeitlichen Ablauf entscheidungsunerheblich. Nach dem Aktenvermerk der Beklagten vom 31.05.2007 hat die Mutter des Klägers dem Jugendamt erst am 03.04.2007 mitgeteilt, dass der Kindesvater Arbeit habe, Unterhalt durch den Vater gezahlt und daher keine Zahlung von Unterhaltsvorschuss gewünscht werde. Weder beziehen sich diese – hinsichtlich der Unterhaltszahlungen unzutreffenden – Angaben auf den hier allein streitigen Zeitraum von der Geburt des Klägers bis zum 21.02.2007 noch ist aus der Vorsprache für den Senat sonst irgendwie ein konkreter Zusammenhang zu Unterhaltszahlungen oder anderweitiger Bedarfsdeckungen im am 22.02.2007 endenden Streitzeitraum herstellbar. Zudem standen selbst nach Auffassung der Beklagten die Angaben zu Unterhalts- bzw. Unterhaltsvorschusszahlungen für die Zeit, auf die sie sich beziehen, nämlich nach der erstmaligen Bewilligung von Hilfe zum Lebensunterhalt mit Bescheid vom 06.03.2007, der Gewährung von Sozialhilfe nicht entgegen.

Auch war ein nochmaliges, ausdrückliches Geltendmachen des Hilfebedarfs gegenüber der Beklagten weder erforderlich noch hat dessen Unterlassen deren Kenntnis nach § 18 Abs. 1 SGB XII beseitigen können. Nachdem die Beklagte – wie oben festgestellt – Kenntnis vom Hilfebedarf des Klägers als solchem hatte, oblag es ihr vielmehr im Rahmen des § 18 SGB XII zugrunde liegenden Amtsprinzips (weiter) tätig zu werden. Vom Kläger zu fordern, den Hilfebedarf nochmals anzumelden, war nicht angezeigt. Der Sache nach liefe diese Verfahrensweise auf eine Antragsabhängigkeit der Sozialhilfe hinaus, die § 18 SGB XII ins Gegenteil verkehrte.

Die aus Sicht der Beklagten ungeklärten Fragen im Zusammenhang mit einem möglichen Bezug von Leistungen nach dem SGB II rechtfertigen ebenfalls keine andere Bewertung. In Rechtsprechung und Literatur ist zwar anerkannt, dass eine erlangte Kenntnis von der Hilfebedürftigkeit wieder entfallen kann (vgl. Grube in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2. Aufl., § 18 RdNr. 31). Dies soll etwa dann gelten, wenn sich der Hilfesuchende gegen eine ablehnende Entscheidung nicht mit Rechtsbehelfen zur Wehr setzt oder wenn er nach einer ersten Vorsprache nicht wieder erscheint, um objektiv notwendige ergänzende Angaben zu machen (vgl. hierzu OVG Hamburg, Urteil vom 14.09.1990 – Bf IV 88/89 – juris Leitsatz 2).

So liegt es hier jedoch nicht: Die Beklagte konnte aus der fehlenden Rückmeldung der Muter des Klägers über die angeregten Vorsprachen nicht schlussfolgern, dass der Hilfebedarf anderweitig gedeckt oder sonst entfallen ist. Auch wenn es ungewöhnlich oder gar unvernünftig erscheint, dass die Eltern des Klägers die Hinweise nicht befolgten, lässt sich eine solche Annahme mit dem in § 18 SGB XII verankerten Fürsorgegedanken nicht in Einklang bringen. Die Antragsunabhängigkeit der Sozialhilfe soll auch und gerade Fälle mangelnder Eigeninitiative abdecken, weil Bedarfsanmeldungen häufig aus Scham oder Unwissenheit unterbleiben. Hiervon zu trennen sind die qualifizierten Mitwirkungspflichten des Hilfebedürftigen nach § 60 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I), von deren Erfüllung § 18 SGB XII ebenso wenig suspendiert wie die Sozialhilfe jemandem gegen seinen Willen aufgedrängt wird. Dennoch und unbeschadet der auch im Rahmen des Amtsprinzips bestehenden Mitwirkungsobliegenheiten darf die Behörde die ihr obliegende Amtsermittlungspflicht (§ 20 SGB X; siehe auch § 65 Abs. 1 Nr. 3 SGB I) nicht auf den Leistungsberechtigten abwälzen (vgl. Rothkegel in: ders., Sozialhilferecht, Kap. 4 RdNr. 10; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 08.07.1982 – 5 C 96/81 – juris RdNr. 16).

Deshalb vermochte sich die Beklagte von ihrer weitergehenden (Amts-)Ermittlungspflicht nicht dadurch zu entlasten, dass sie den Kläger auf eine anderweitige "Bedarfsanmeldung" verwies. Dies gilt sowohl für die angeregte Vorsprache bei ihrem Ortsamt P als auch bei der ARGE D.

Keiner weitergehenden Erörterung bedarf es, dass die Kenntnis der Beklagten nicht dadurch entfallen ist, weil das organisatorisch unzuständige Sachgebiet (hier: Ausländer/Aussiedler) den Kläger auf die Bedarfsanmeldung beim für Sozialhilfe zuständigen Sachgebiet (hier: Soziale Leistungen) verwiesen hat. Es gilt der Grundsatz der Einheit der Verwaltung, sodass unter dem Sozialhilfeträger die gesamte Verwaltung – hier also auch das für Asylbewerberleistungen zuständige Amt – zu verstehen ist (Armborst in: LPK-SGB XII, 8. Aufl. § 18 RdNr. 2, Hohm in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 18. Aufl., § 18 RdNr. 8).

Auch ein etwaiger Anspruch des Klägers auf Sozialgeld nach dem SGB II stand der Kenntnis im Sinne des § 18 Abs. 1 SGB XII nicht entgegen. Die Annahme eines Leistungsanspruchs des Klägers nach dem SGB II lag bereits fern. Zwar schließt eine Leistungsberechtigung nach dem SGB II Ansprüche nach dem SGB XII aus (§ 21 Satz 1, § 2 Abs. 1 SGB XII). Ein Anspruch nach dem SGB II konnte dem Kläger aber allenfalls über eine Zugehörigkeit zur Bedarfsgemeinschaft mit seinem leiblichen Vater, der leistungsberechtigt nach dem SGB II war, vermittelt werden (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II). Der Kläger und sein Vater lebten jedoch bereits nicht in einem Haushalt, was Voraussetzung einer Bedarfsgemeinschaft wäre, sondern lediglich auf einer Etage in derselben Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber. Bei ansonsten gleichgebliebenen Verhältnissen – nur ein ausdrücklicher Antrag auf Sozialhilfe war zwischenzeitlich gestellt worden – bewilligte die Beklagte deshalb auch Leistungen ab 01.03.2007, ohne Bedacht auf etwaige vorrangige SGB II-Ansprüche nehmen zu müssen. Zudem vermag eine in Betracht kommende Leistungsberechtigung nach dem SGB II auch aus grundsätzlichen Erwägungen nicht die Kenntnis des Sozialhilfeträgers von den Voraussetzungen für eine Leistung nach dem SGB XII zu hindern. Eine solche Auffassung ist bereits mit der überragenden sozialpolitischen Bedeutung der Sozialhilfe als unterstem Auffangnetz der sozialen Sicherungssysteme nicht in Einklang zu bringen und auch aus sonstigen systematischen Erwägungen nicht zu fordern. Dies belegt zum Einen der Grundgedanke des § 18 Abs. 2 SGB XII, wonach die Sozialhilfe auch bei Kenntniserlangung durch einen unzuständigen Leistungsträger bereits ab diesem Zeitpunkt einsetzt. Zum Anderen hat sich die als Sozialhilfeträger immer nachrangig verpflichtete Beklagte (sog. Systemsubsidiarität, § 2 Abs. 1 SGB XII) zur Auflösung von Zuständigkeitskollisionen vorrangig des Instrumentariums der §§ 102 ff. SGB X, insbesondere des § 104 Abs. 1 SGB X, oder der §§ 93 ff. SGB XII zu bedienen, nicht jedoch den Hilfenachfragenden bei bereits erlangter Kenntnis von der Notwendigkeit existenzsichernder Leistungen auf andere, nur eventuell und jedenfalls zeitlich später eingreifende Zuständigkeiten zu verweisen. Folgerichtig verfuhr die Beklagte im Übrigen auch bei der ursprünglich ab 01.03.2007 einsetzenden Leistungsbewilligung, indem sie bereits am 06.03.2007 sowohl bei der Familienkasse als auch (intern) bei ihrem Jugendamt Erstattungsansprüche nach § 104 SGB X anmeldete.

Schließlich steht dem Anspruch nicht entgegen, dass Leistungen für die Vergangenheit im Raum stehen. Aus Gründen der Effektivität des Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz) ist es für den Anspruch unschädlich, wenn der Hilfesuchende den Bedarf mit Hilfe einspringender Dritter oder durch Einsatz "eigener" Geldmittel selbst deckt (sog. Selbstbeschaffung), sofern ihm zu diesem Zeitpunkt ein Abwarten nicht zumutbar war und – wie hier – die materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Hilfegewährung vorlagen (vgl. BSG, Urteil vom 29.09.2009 – B 8 SO 16/08 R – juris RdNr. 14; BVerwG, Urteil vom 23.06.1994 – 5 C 26/92 – juris RdNr. 18; Pattar in: Berlit/Conradis/Sartorius, Existenzsicherungsrecht, 2. Aufl., Kapitel 10 RdNr. 54; zum Ganzen auch Grube in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2. Aufl., Einl. RdNr. 125 – 127, ferner § 18 RdNr. 33 ff.). Bei der hier in Rede stehenden Regelleistung (zur Sicherung des Lebensunterhalts) war ein Abwarten nicht zumutbar. Gerade rechtswidrig vorenthaltene Regelleistungen sind vor dem Hintergrund der intendierten pauschalen Bedarfsdeckung auch nachträglich zuzusprechen (vgl. Grube a.a.O., Einl. RdNr. 127).

3. Der Höhe nach besteht Anspruch auf den Regelsatz für sonstige Haushaltsangehörige bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres in Höhe von - 199,00 EUR monatlich bis 31.12.2006 (§ 28 Abs. 1, § 28 Abs. 2 Satz 1 SGB XII i. v. m. § 1 Abs. 2 Nr. 1 Sächsische Regelsatzverordnung [SächsRSVO] in der bis 31.12.2006 geltenden Fassung [SächsGVBl. 2005, S. 2] i.V.m. der Bekanntmachung des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales zur Höhe der Regelsätze nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe – vom 08.06.2006 [Sächs¬ABl. S. 597]) und - 207,00 EUR monatlich ab 01.012007 (§ 28 Abs. 1, § 28 Abs. 2 Satz 1 SGB XII i. v. m. § 1 Abs. 2 Nr. 1 SächsRSVO in der ab 01.01.2007 geltenden Fassung [SächsGVBl. 2006, S. 559]). Kosten der Unterkunft und Heizung fielen nach der Aufhebung der Benutzungsgebührenbescheide nicht an. Für Sonderbedarfe ist weder etwas vorgetragen noch sonst ersichtlich. Die Höhe des Anspruchs erreicht daher im streitigen Zeitraum vom 23.09.2006 bis 21.02.2007 jedenfalls die beantragten 903,60 EUR; darüber hinaus gehende Leistungen können nicht zugesprochen werden (ne ultra petita; vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl., § 123 RdNr. 4).

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache. Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen hierfür (§ 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.

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Dr. Wahl Kirchberg zugleich für den urlaubsbedingt an der Unterschriftsleistung gehinderten Richter Salomo
Rechtskraft
Aus
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