L 5 AS 323/13 B ER

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 19 AS 2920/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 5 AS 323/13 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde gegen den Beschuss des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 15. Februar 2013 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe:

I.

Der Antragsgegner und Beschwerdeführer wendet sich gegen einen Beschluss des Sozialgerichts Dessau-Roßlau (SG), das die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen einen Sanktionsbescheid des Antragsgegners angeordnet und ihn zur vorläufigen Leistungserbringung verpflichtet hat.

Der 1977 geborene Antragsteller steht seit Januar 2005 beim Antragsgegner im laufenden Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Dieser minderte mit Bescheid vom 16. August 2011 für die Monate September bis November 2011 die dem Antragsteller gewährten Leistungen um 30 % des Regelbedarfs wegen einer Pflichtverletzung durch unentschuldigten Abbruch der Maßnahme "Initialworkshop Existenzgründung" und mit einem weiteren Bescheid vom 1. Juni 2012 um 60 % des Regelbedarfs für die Monate Juli bis September 2012 wegen einer wiederholten Pflichtverletzung durch Nichtaufnahme der Maßnahme "Regionale Gründungswerkstatt". Beide Sanktionsbescheide wurden bestandskräftig. Mit Änderungsbescheid vom 7. August 2012 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller zuletzt – nach Auszug seiner Partnerin aus der gemeinsamen Wohnung – Leistungen für die Monate August bis Oktober 2012 – iHv 778 EUR für Oktober 2012.

Am 23. August 2012 übergab der Antragsgegner dem Antragsteller einen Vermittlungsvorschlag für eine Arbeitsstelle als Kommissionierer bei der Firma R. Deutschland GmbH & Co. KG in B.-W. Dort habe sich der Antragsteller am 29. August 2012 zwischen 08.30 Uhr und 10.30 Uhr – mit Lebenslauf – persönlich vorzustellen. Dem Vermittlungsvorschlag war eine schriftliche Rechtsfolgenbelehrung (RFB) beigefügt. Wegen deren Wortlaut wird auf Bl. 2 bzw. 100 der Verwaltungsakte Bezug genommen.

Nach Anhörung des Antragstellers mit Schreiben vom 4. September 2012 stellte der Antragsgegner mit Sanktionsbescheid vom 11. Oktober 2012 den vollständigen Wegfall der SGB II-Leistungen in dem Zeitraum vom 1. November 2012 bis zum 31. Januar 2013 fest. Der Antragsteller habe erst am 3. September 2012 in einem ungepflegten Erscheinungsbild bei dem potentiellen Arbeitgeber vorgesprochen und keine Motivation zur Arbeitsaufnahme gezeigt. Der vorgelegte Lebenslauf sei nach Form und Inhalt inakzeptabel gewesen. Der Antragsteller habe durch sein Verhalten das Zustandekommen einer Beschäftigung iSv § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II vereitelt. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 3. Dezember 2012 zurück. Es liege eine weitere wiederholte Pflichtverletzung vor, die gemäß § 31a Abs. 1 Satz 3 SGB II zu einem vollständigen Entfallen der Leistungen führe. Der Antragsteller habe keinen wichtigen Grund für sein Verhalten nachgewiesen. Dagegen ist beim SG eine Klage mit dem Aktenzeichen S 19 AS 3061/12 anhängig.

Auf den Weiterbewilligungsantrag bewilligte der Antragsgegner mit Bescheid vom 1. November 2012 Leistungen für den Bewilligungszeitraum von November 2012 bis April 2013; für die Monate November 2012 bis Januar 2013 wurden keine Leistungen bewilligt. Dagegen erhob der Antragsteller am 30. November 2012 Widerspruch.

Am selben Tag hat er bei dem SG die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beantragt. Den Vorsprachetermin bei dem potentiellen Arbeitgeber habe er, da er verhindert gewesen sei, zweimal telefonisch verlegt. Zum vereinbarten Vorstellungstermin sei er so erschienen, wie es für ihn üblich sei. Er sei zur Arbeitsaufnahme motiviert gewesen. Er habe sogar im Nachhinein bei dem Arbeitgeber nachgefragt, ob er die Stelle bekomme. In seinem Lebenslauf habe er alle wichtigen Daten angegeben, an die er sich erinnere. Für ihn unwesentliche Tätigkeiten habe er weggelassen.

Mit Beschluss vom 15. Februar 2013 hat das SG die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Sanktionsbescheid vom 11. Oktober 2012 angeordnet, den Antragsgegner zur vorläufigen Gewährung von SGB II-Leistungen iHv 25,93 EUR für November 2012, iHv 722 EUR für Dezember 2012 und iHv 730 EUR für Januar 2013 verpflichtet und den Antrag im Übrigen abgelehnt. Einstweiliger Rechtsschutz sei durch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage und eine einstweilige Anordnung zu gewähren, weil im Bewilligungsbescheid vom 1. November 2012 für den Sanktionszeitraum keine Leistungen bewilligt worden seien. Es überwiege das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage, denn der Sanktionsbescheid sei voraussichtlich rechtswidrig. Zwar habe der Antragsteller seine Pflichten verletzt, indem er durch eine unangemessene Bewerbung die Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses verhindert habe. Sein Auftreten beim Vorstellungsgespräch und der vorgelegte Lebenslauf hätten zu dem Eindruck beim Arbeitgeber geführt, er sei nicht an der Aufnahme einer Beschäftigung interessiert. Gleichwohl sei eine Sanktionierung dieses Verhaltens nicht möglich, weil es nach summarischer Prüfung an einer ordnungsgemäßen RFB fehle. Diese müsse nach § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II konkret, verständlich, richtig und vollständig sein. Diesen Anforderungen genüge die dem Vermittlungsvorschlag beigefügte RFB nicht. Obwohl der Antragsgegner – ausweislich seiner Stellungnahme vom 14. Januar 2013 – der Auffassung gewesen sei, dass bei Nichtbefolgen eines Vermittlungsvorschlags eine nachträgliche Pflichterfüllung iSv § 31a Abs. 1 Satz 6 SGB II nicht in Betracht komme, habe er im siebten Absatz der RFB über die mögliche Milderung der Sanktionsfolgen durch nachträgliches Wohlverhalten belehrt. Bereits dies mache die RFB unrichtig. Sie sei zudem aufgrund ihres Umfangs von einer DIN A4-Seite zu lang und aufgrund der Verwendung von unterschiedlichen Schriftgrößen und -typen und von Fettdruck zu unübersichtlich, um die bezweckte Warn- und Steuerungsfunktion erfüllen zu können. Im Wesentlichen erschöpfe sie sich in der Wiedergabe des Gesetzestexts, ohne den erforderlichen Einzelfallbezug herzustellen. Dadurch müsse der Leser eigene Schlüsse ziehen. So werde der Gesetzestext zur Selbsthilfeobliegenheit (§ 2 SGB II) zitiert, ohne an das konkret geforderte Verhalten anzuknüpfen. Ferner werde nicht zwischen Aufnahme und Fortführung der Arbeit differenziert. Im Hinweis zur Erbringung von ergänzenden Sachleistungen werde auch die Variante einer Haushaltsgemeinschaft mit minderjährigen Kindern dargestellt, sodass der Leser erneut gezwungen sei, die für ihn zutreffende Variante auszuwählen. Im Rahmen der einstweiligen Anordnung komme eine vorläufige Leistungsgewährung erst ab Antragstellung bei Gericht, d.h. ab 30. November 2012, in Betracht. Die insoweit zu bewilligenden Leistungen seien durch die im Klageverfahren gestellten, bezifferten Anträge begrenzt. Ob die Voraussetzungen eines Leistungsausschlusses aufgrund der Ortsabwesenheit des Antragstellers im Zeitraum vom 1. bis zum 15. Januar 2013 nach § 7 Abs. 4a SGB II in Verbindung mit den Regelungen der Erreichbarkeitsanordnung (EAO) gegeben seien, könne im Zeitpunkt der Entscheidung des SG nicht hinreichend sicher festgestellt werden. Denn die Zustimmung des Leistungsträgers zur Ortsabwesenheit sei keine Voraussetzung für einen Leistungsanspruch; die fehlende Zustimmung des Leistungsträgers sei ein Leistungsausschlussgrund, setze aber eine entsprechende Entscheidung des Antragsgegners voraus.

Gegen den Beschluss hat der Antragsgegner am 20. Februar 2013 Beschwerde eingelegt und die Aussetzung der Vollziehung des Beschlusses gemäß § 199 Abs. 2 SGG beantragt. Seine Stellungnahme im einstweiligen Rechtsschutzverfahren sei nicht so zu verstehen, dass von Anfang an eine Minderung der Sanktion nach Wohlverhalten nicht in Betracht gekommen wäre. Diese sei erst später nicht mehr möglich gewesen. Da bei Aushändigung des Vermittlungsvorschlags die zukünftige Entwicklung des Sachverhalts ungewiss gewesen sei, habe über die Abschwächung der Sanktion aufgrund einer Ermessensentscheidung belehrt werden müssen. Der Antragsteller habe weder Unübersichtlichkeit noch Unverständlichkeit der RFB geltend gemacht. Im Übrigen könnten Art und Schriftgröße des Textes nicht zu dessen Unverständlichkeit führen. Der textliche Umfang von einer DIN A4-Seite sei erforderlich, um umfassend zu belehren. Es sei unerheblich, ob der Hinweis auf die Selbsthilfeobliegenheit sich auf eine Arbeitsaufnahme oder -fortführung beziehe. Da der Antragsteller bei Erhalt des Vermittlungsvorschlags nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei, habe es für ihn auf der Hand gelegen, dass es nur um eine Arbeitsaufnahme gehen könne. Insbesondere im vorliegenden Fall sei der Hinweis auf die Selbsthilfeobliegenheit wichtig gewesen, da dem Antragsteller diese Verpflichtung offensichtlich nicht bewusst sei. Ebenso sei einleuchtend, dass sich die dem Vermittlungsvorschlag beigefügte RFB auf eben die vermittelte Tätigkeit beziehe. Es sei ohne komplexe Denkvorgänge möglich, zu erkennen, dass der Hinweis auf haushaltsangehörige Kinder nicht gelten solle, wenn sich keine Kinder im Haushalt befänden. Es sei geradezu paradox, davon auszugehen, dass sich ein Leistungsberechtigter von den in der RFB benannten negativen Rechtsfolgen in seinem Verhalten leiten lasse. Vorliegend habe dem Antragsteller bewusst sein müssen, dass sein Verhalten Konsequenzen haben würde. Die Folge des vollständigen Wegfalls der Leistungen sei ohne komplexe Zwischenüberlegungen oder rechtliche Bewertungen erkennbar gewesen. Eine eigene Subsumtion durch den Antragsteller sei an keiner Stelle notwendig gewesen. Im Übrigen sei die Bewertung der Qualität einer RFB immer subjektiv.

Der Antragsgegner beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 15. Februar 2013 aufzuheben und den Antrag abzulehnen.

Der Antragsteller beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Mit Beschluss vom 1. März 2013 hat der Vorsitzende des Senats die Aussetzung der Vollstreckung des erstinstanzlichen Beschlusses abgelehnt.

Der Antragsteller hat am 12. März 2013 die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) für das Beschwerdeverfahren beantragt und angekündigt, eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nebst Belegen umgehend nachzureichen. Dies ist nicht erfolgt.

Der Antragsgegner hat unter dem 22. März 2013 ausgeführt, wegen der Ortsabwesenheit des Antragstellers im Zeitraum vom 1. Januar bis zum 15. Januar 2013 erfolge eine Leistungsaufhebung, da die Leistungsvoraussetzungen gemäß § 7 Abs. 4a SGB II entfallen seien. Einen diesbezüglichen Bescheid hat er jedoch nicht vorgelegt. Soweit der Antragsteller angebe, keine Kenntnisse über die Abfassung von Lebensläufen zu besitzen, sei dies nicht nachvollziehbar. Zum einen lasse der vorliegende Lebenslauf seiner Form nach auf das Vorhandensein gewisser Grundkenntnisse schließen. Zum anderen habe der Antragsteller ein Berufsvorbereitungsjahr absolviert, bei dem derartige Kenntnisse üblicherweise vermittelt würden. Am vorgelegten Lebenslauf sei insbesondere zu beanstanden, dass der Antragsteller die Daten, die für einen potentiellen Arbeitgeber von Interesse seien, wie Berufsausbildung und Berufserfahrungen, nicht nur bewusst weggelassen, sondern mit der Bemerkung "von 1993 bis heute ohne anstellung" noch negativ hervorgehoben habe. Es sei nicht nur der Lebenslauf, sondern das gesamte Bewerbungsverhalten ursächlich für das Nichtzustandekommen des Beschäftigungsverhältnisses gewesen. Der Antragsteller lasse eine nur geringfügige Motivation erkennen und wirke nur sehr eingeschränkt an seiner Integration mit.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners ergänzend Bezug genommen. Die Unterlagen waren Gegenstand der Beratung des Senats.

II.

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des SG ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt sowie statthaft (§§ 173, 172 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1 iVm § 144 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Der Beschwerdewert von 750 EUR ist überschritten, denn die dem Antragsgegner auferlegte vorläufige Leistungsverpflichtung beläuft sich auf einen Gesamtbetrag von 1.477,93 EUR.

Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Die Voraussetzungen für eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Sanktionsbescheid vom 11. Oktober 2012 und für die Verpflichtung zur vorläufigen Leistungsgewährung im Wege der einstweiligen Anordnung liegen vor. Das SG hat zu Recht dem Rechtsschutzbegehren des Antragstellers im tenorierten Umfang entsprochen.

Sein Antrag ist statthaft gewesen nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG. Danach kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen.

Nach § 39 Nr. 1 SGB II haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufhebt, zurücknimmt, widerruft, die Pflichtverletzung und die Minderung des Auszahlungsanspruchs feststellt oder Leistungen zur Eingliederung in Arbeit oder Pflichten erwerbsfähiger Leistungsberechtigter bei der Eingliederung in Arbeit regelt, keine aufschiebende Wirkung. Der hier im Wege der isolierten Anfechtungsklage angegriffene Sanktionsbescheid entscheidet über den vollständigen Entzug von SGB II-Leistungen für die Dauer von drei Monaten. Auf diesem Sanktionsbescheid beruht der ebenfalls angegriffene Bewilligungsbescheid vom 1. November 2012, mit dem für die von der Sanktion betroffenen Monate November 2012 bis Januar 2013 keine Leistungen bewilligt worden sind.

Einen ausdrücklichen gesetzlichen Maßstab für die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage sieht § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG nicht vor. Das Gericht entscheidet aufgrund einer Interessenabwägung (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage 2012, § 86b RN 12). Es trifft eine eigene Ermessensentscheidung über die Aufhebung der sofortigen Vollziehung nach denselben Gesichtspunkten wie die Widerspruchsbehörde in den Fällen des § 86a Abs. 2 SGG. Bei offensichtlicher Aussichtslosigkeit der Hauptsache überwiegt in der Regel das Vollzugsinteresse; umgekehrt bei offensichtlicher Erfolgsaussicht der Hauptsache das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Die offensichtliche Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts oder das Fehlen der Erfolgsaussichten der Klage allein können das besondere Vollzugsinteresse jedoch nicht begründen, eine Prüfung ersetzen oder entbehrlich machen. Sie können nur zur Folge haben, dass die vorhandenen, ihrer Art nach dringlichen Vollzugsinteressen grundsätzlich als schwerwiegender anzusehen sind als das Interesse des Betroffenen an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei der zutreffenden Abwägung der Interessen sind vor allem die Natur, Schwere und Dringlichkeit der dem Betroffenen auferlegten Belastung und die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer etwaigen späteren Rückgängigmachung der Maßnahme und ihrer Folgen zu berücksichtigen.

Nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage bestehen beachtliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Sanktionsbescheids. Angesichts des mit der verfügten vollständigen Absenkung der SGB II-Leistungen verbundenen Eingriffs in das Existenzminimum überwiegt vorliegend das Interesse des Antragstellers an einer aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid vom 11. Oktober 2012 das Interesse des Antragsgegners am Vollzug des Bescheids.

Das SG hat im angegriffenen Beschluss die rechtlichen Bedenken gegen den angegriffenen Bescheid zutreffend herausgearbeitet. Insoweit verweist der Senat auf dortigen Ausführungen, § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG.

Insbesondere geht der Senat auch von einer objektiven Pflichtverletzung des Antragstellers iSv § 31 Abs. 1 Nr. 2 SGB II aus. Sein Verhalten beim Vorstellungsgespräch stellt sich objektiv als Verhinderung der Anbahnung eines Beschäftigungsverhältnisses dar. Es entspricht ersichtlich nicht dem Leitbild eines an der Tätigkeitsaufnahme ernsthaft interessierten und hierum bemühten Leistungsberechtigten. Das insoweit ersichtliche Desinteresse bei der Kontaktaufnahme oder im Vorstellungsgespräch wie auch eine gezielt "schlampige" Bekleidung oder ein sonst vertragshinderndes Erscheinungsbild beim Vorstellungstermin (vgl. mit weiteren Nachweisen: Berlit in LPK-SGB II, 4. Auflage 2011, § 31 RN 31) genügen, um von einer Pflichtverletzung im o.g. Sinne auszugehen.

Zudem war der vom Antragsteller vorgelegte Lebenslauf ersichtlich unzureichend, bzw. aufgrund der Rechtschreibfehler und der überzogenen Darstellung von Qualifikationsmängeln ("von 1993 bis heute ohne anstellung") objektiv geeignet, einen potentiellen Arbeitgeber abzuschrecken. Insbesondere hätten die von 2003 bis 2006 ausgeübten und 2010 wieder aufgenommenen selbstständigen Tätigkeiten als Trockenbauer und Hausmeister aufgeführt werden müssen. Allerdings ist hinsichtlich des Lebenslaufs beim bisherigen Verfahrensstand noch nicht eindeutig festzustellen, ob dem Antragsteller bei dessen Abfassung ein Fehlverhalten vorzuwerfen ist. Denn er hat im Verfahren angegeben, er wisse nicht, wie man einen Lebenslauf schreibt und sei vom Antragsgegner dahingehend bislang nicht geschult worden. Angesichts des geringen Bildungsstands des Antragstellers (Besuch der Schule für Lernbehinderte) erscheint es möglich, dass er tatsächlich nicht in der Lage ist, einen Lebenslauf zu verfassen. Aus den Verwaltungsakten des Antragsgegners ergibt sich nicht, dass der Antragsteller in der Vergangenheit eine Maßnahme zum Erwerb der notwendigen Kenntnisse für die Erstellung von Bewerbungsunterlagen durchlaufen hätte.

Abgesehen von der Problematik der subjektiven Vorwerfbarkeit der Pflichtverletzung dürfte sich vorliegend der Sanktionsbescheid des Antragsgegners als rechtswidrig erweisen, weil die nach § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II erforderliche schriftliche Belehrung über die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung nicht ordnungsgemäß erfolgt ist, und eine Kenntnis der Rechtsfolgen iSv § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II (vgl. Beschluss des Senats vom 4. April 2013, Az.: L 5 AS 279/13 B ER, juris) nicht festgestellt werden kann.

Minderung und Kürzung setzen nach § 31 Abs. 1 SGB II eine schriftliche Belehrung über die Rechtsfolgen eines Pflichtverstoßes, die Warn- und Erziehungsfunktion hat, oder die Kenntnis der Rechtsfolge voraus. Die schriftliche RFB darf sich nicht in einer bloßen Formalie oder der formelhaften Wiederholung des Gesetzestextes in einem allgemeinen Merkblatt erschöpfen. Sie hat dem Leistungsberechtigten konkret, eindeutig, verständlich und rechtlich zutreffend die unmittelbaren und konkreten Auswirkungen eines bestimmten Handelns vor Augen zu führen (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 2009, Az.: B 4 AS 30/09 R, juris; Urteil vom 18. Februar 2010, Az.: B 14 AS 53/08 R, juris; Urteil vom 15. Dezember 2010, Az.: B 14 AS 92/09 R, juris). Sie muss erkennen lassen, welche Handlung von dem Leistungsberechtigten verlangt wird, um eine Minderung zu vermeiden bzw. abzuwenden. Es kann dahinstehen, ob die RFB auf den erkennbaren Empfänger- und Verständnishorizont abgestellt sein muss (so Berlit, a.a.O., § 31 RN 72 m. weit. Nachw.), oder ob es allein auf den objektiven Erklärungswert ankommt (vgl. BSG, Urteil vom 18. Februar 2010, Az.: B 14 AS 53/08 R, juris RN 23; Urteil vom 17. Dezember 2009, Az.: B 4 AS 30/09 R, juris RN 24). Jedenfalls muss eine RFB so (verständlich und einfach) abgefasst sein, dass auch ein Leistungsberechtigter mit einfacher Schulbildung in Lage ist, sie zu verstehen.

Vorliegend ist – entgegen den Ausführungen des SG im Beschluss – die erteilte RFB nicht deshalb rechtswidrig, weil der Antragsgegner über eine Wohlverhaltensminderung iSv § 31a Abs. 1 Satz 6 SGB II belehrt hat. Aus den Ausführungen des Antragsgegners im Schreiben vom 14. Januar 2013 ergibt sich nicht, dass dieser von Anfang an – bereits bei Übergabe des Vermittlungsvorschlags – der Auffassung war, dass vorliegend eine nachträgliche Pflichterfüllung ausgeschlossen wäre. Sie stellen vielmehr einen allgemeinen Hinweis dar, dass – soweit es um die Bewerbung auf einen konkreten Arbeitsplatz geht – zumeist die Nachholung einer versäumten Bewerbung wegen der zu erwartenden Vergabe der Stelle keine Aussicht auf Erfolg hat.

Problematisch ist neben den vom SG im angegriffenen Beschluss aufgeführten Einzelpunkten an der vorliegenden RFB insbesondere, dass der Antragsgegner den typischen Empfängerhorizont der Leistungsberechtigten nicht hinreichend beachtet hat. Es ist bei Personen mit einem geringen Bildungsstand, die bereits mehrere Jahre im SGB II-Leistungsbezug stehen und nur einen geringen Motivationsgrad zu einer Beschäftigungsaufnahme zeigen, nicht untypisch, dass sie bei der Wahrnehmung von Behördenangelegenheiten eine gewisse Unbeholfenheit im Umgang mit Schriftstücken haben, die sowohl die Lektüre als auch das eigenhändige Abfassen betrifft. Dies wird auch im vorliegenden Fall ersichtlich. Beispielsweise hat der Antragsteller nie mit einem selbst verfassten Schreiben auf Anhörungsschreiben reagiert.

Für Personen mit einem einfachen Bildungsstand, die sich seither wenig mit Lesen und Schreiben beschäftigt haben, erfordert die Lektüre und das Verständnis des vorliegenden relativ langen, einseitigen Belehrungstextes im Zusammenhang ein möglicherweise über ihr Vermögen hinausgehendes Maß an Konzentrationsvermögen. Zudem ist der Leser an mehreren Stellen der RFB gefordert, allgemeine Ausführungen auf seine individuelle Situation zu übertragen. So muss er beispielsweise aus den allgemeinen Ausführungen zur Selbsthilfeobliegenheit einen Zusammenhang zu dem konkret verlangten Verhalten herstellen.

In der RFB ist der Begriff des "negativen Bewerbungsverhaltens" nicht erläutert. Insoweit musste sich der Leser vorstellen können, was damit gemeint ist.

Auch das Verständnis der Ausführungen zur weiteren wiederholten Pflichtverletzung erforderten eigene Überlegungen des Lesers, weil zunächst die Rechtsfolge (vollständiger Wegfall der Leistungen) genannt wird, und im Folgenden mehrere Bedingungen aufgezählt werden, unter denen diese Rechtsfolge nicht eintritt, wie eine vorherige Minderung von 60 %, keine Kürzung bei wichtigem Grund, Dauer und Milderungsmöglichkeiten. Diese müssen wiederum auf ihre Relevanz im Einzelfall überprüft werden (Werden Sachleistungen als Ermessensleistungen erbracht oder ist der Leistungsträger dazu verpflichtet? Hilft eine nachträgliche Bereitschaft zur Pflichterfüllung zur Milderung der Sanktion? Werden dann auch KdU-Leistungen erbracht?). Erst danach wird auf den Wegfall des Krankenversicherungsschutzes verwiesen, der aber dann nicht fortbesteht, wenn Sachleistungen erbracht werden. Schließlich werden die während der Sanktionszeit fortbestehenden Pflichten aufgelistet.

Diese Vielzahl von – im vorliegenden Einzelfall zum Teil irrelevanten – Informationen in der RFB ist geeignet, Personen, die sich nicht regelmäßig mit Inhalten von Schriftstücken auseinandersetzen, zu verwirren und zu überfordern. Zudem können bei Adressaten mit dem Bildungsniveau des Antragstellers bereits ein zu langer Text und/oder ein verwirrendes Schriftbild dazu führen, dass sie bei der Lektüre den gedanklichen "Faden" verlieren oder schlicht "aufgeben". Damit wird die eigentliche Funktion der RFB, in Umsetzung der gesetzgeberisch intendierten Warnfunktion dem Leistungsberechtigten die Folge der nächsten Pflichtverletzung in prägnanter und verständlicher Form kurz vor Augen zu führen, nicht erfüllt.

Da vorliegend nicht feststeht, dass der Antragsteller die konkreten Folgen einer Nichtbewerbung bzw. einer Bewerbung nicht in der gebotenen Form auch ohne die RFB kannte, bestehen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Sanktionsentscheidung des Antragsgegners.

Auch die vom SG erlassene einstweilige Anordnung ist nicht zu beanstanden. Insoweit wird auf die Ausführungen im erstinstanzlichen Beschluss Bezug genommen und von einer erneuten Darstellung abgesehen.

Auch im maßgeblichen Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung des Senats besteht kein Grund, die vorläufige Leistungsbewilligung durch das SG aufgrund der Ortsabwesenheit des Antragstellers im Zeitraum vom 1. bis zum 15. Januar 2013 teilweise aufzuheben. Denn der Antragsgegner hat zwar im Beschwerdeverfahren ausgeführt, es erfolge eine Leistungsaufhebung nach § 7 Abs. 4a SGB II, jedoch eine entsprechende Einzelfallregelung mittels Bescheid (Verwaltungsakt) nicht vorgetragen oder glaubhaft gemacht. Da insoweit eine nach außen wirksame Verwaltungsentscheidung nicht festzustellen ist, die Voraussetzung für das Eingreifen des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 4a SGB II ist, kam eine Reduzierung der Leistungsbewilligung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht in Betracht.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dem Antrag des Antragstellers auf Bewilligung von PKH konnte nicht entsprochen werden, da er – entgegen seiner Ankündigung – bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats das Vorliegen der wirtschaftlichen Voraussetzungen iSv § 114 Zivilprozessordnung nicht durch Vorlage einer Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nebst zugehöriger Belege glaubhaft gemacht hat.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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