S 14 VE 24/11

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
SG Magdeburg (SAN)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
14
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 14 VE 24/11
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Sozialgericht Magdeburg

S

Aktenzeichen

Im Namen des Volkes

Urteil

in dem Rechtsstreit

...

gesetzlich vertreten durch:

– Kläger –

gegen

Land Sachsen-Anhalt,

– Beklagter –

Die 14. Kammer des Sozialgerichts Magdeburg hat auf die mündliche Verhandlung vom 27. Juni 2013 durch die Richterin am Sozialgericht ... als Vorsitzende sowie den ehrenamtlichen Richter ... und den ehrenamtlichen Richter ... für Recht erkannt:
Der Bescheid des Beklagten vom 17. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Oktober 2011 wird aufgehoben.

Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Aufhebung einer Halbwaisenrente.

Der am ... 2008 geborene Kläger lebte seit seiner Geburt im Heim. Nach dem Sorgerechtsentzug lebte er seit seinem 10/11. Lebensmonat bei den Pflegeeltern ... und ... Vormund des Klägers ist das Jugendamt des Landkreises ... Am 15. April 2010 fiel der Pflegevater ... bei einem Bundeswehreinsatz ... Mit Erstanerkennungsbescheid vom ... wurde dem Kläger ab dem ... eine Halbwaisenrente nach dem Soldatenversorgungsgesetz (SVG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) gewährt. Es wurde festgestellt, dass der Tod die Folge einer Schädigung im Sinne von §§ 80, 81 SVG darstellt. Am 30. Juni 2011 wurde die Pflegestelle in der ... aufgehoben. Der Kläger befand sich vom 01. Juli 2011 bis Februar 2013 in einer neuen Pflegefamilie. Seit Februar 2013 wird der Kläger wieder in einem Heim betreut.

Mit Bescheid vom 17. August 2011 teilte der Beklagte dem Landkreis ... mit, dass die Leistungsgewährung nach dem SVG ab dem 01. Juli 2011 für den Kläger entfalle, da die Pflegestellung in der Familie ... zum 30. Juni 2011 aufgehoben worden sei und der Zahlungsgrund, hier: Tod des Pflegevaters durch Bundeswehrdienst, somit nicht mehr gegeben sei. Die Zahlung werde zu 09/2011 eingestellt. Der Beklagte bat die überzahlte Grundrente für die Monate Juli und August 2011 in Höhe von ... zu überweisen.

Hiergegen legte der Vormund des Klägers am 23. August 2011 Widerspruch ein. Die Verlegung des Klägers in eine neue Pflegefamilie sei unmittelbar dem Tod des Pflegevaters geschuldet. Die Pflegemutter Frau R. habe auf Grund ihrer durch den Tod entstandenen persönlichen Probleme, den Kläger nicht weiter betreuen können. Der Kläger sei also mehrfach durch den Tod des Herrn R. betroffen: Er habe seinen sozialen Vater verloren und dann als unmittelbare Folge die gesamte soziale Familie.

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 11. Oktober 2011 zurück. Gemäß § 81e Abs. 6 SVG erhalten auf Antrag die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne von § 81 SVG Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Zu den Hinterbliebenen würden u. a. die Waisen, d. h. die Kinder des Beschädigten (§ 38 Abs. 1 Satz 1, § 45 Abs. 1 BVG) gehören; als Kinder würden nach § 45 Abs. 2 BVG auch Pflegekinder i. S. d. § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) gelten. Pflegekinder seien Personen, mit denen der verstorbene Berechtigte durch ein familienähnliches auf längere Dauer berechnetes Band verbunden gewesen sei, sofern er sie in seinen Haushalt aufgenommen hatte. Das Tatbestandsmerkmal Haushaltsaufnahme sei immer dann erfüllt, wenn eine Familiengemeinschaft bestehe, die eine Schnittstelle von Merkmalen örtlicher, materieller und immaterieller Art darstelle. Wenn dieses Tatbestandsmerkmal der Haushaltsaufnahme entfalle, sprich das Pflegekind nicht mehr zu dem Haushalt des Berechtigten (des verstorbenen Pflegevaters) gehöre, führe dies zwangsläufig zur Einstellung der Waisenrentenzahlung.

Am 19. November 2011 hat der Kläger beim Sozialgericht ... Klage erhoben. Seine Verlegung in eine neue Pflegefamilie stehe unmittelbar mit dem Tod des Pflegevaters im Zusammenhang. Seine Pflegemutter sei auf Grund dessen nicht mehr in der Lage gewesen, ihn zu betreuen und zu versorgen. Er verliere nach dem Vater, auch die Mutter und seinen Bruder. Der Pflegevater sei gestorben, als er in dessen Haushalt gelebt habe.

Der Beklagte hat mit Teilanerkenntnis in der mündlichen Verhandlung am 27. Juni 2013 den Bescheid vom 17. August 2011 aufgehoben, soweit er die Zahlung der Grundrente für die Monate Juli und August 2011 in Höhe von insgesamt ... zurückgefordert hat.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 17. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Oktober 2011 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er meint, dass bei Wegfall des anspruchsbegründenden Tatbestandes der Haushaltsaufnahme der Leistungsanspruch auf Waisenrente entfalle. Diese Entscheidung entspreche dem Sinn und Zweck der Vorschriften über die Waisenrente. Die Waisenrente solle den Unterhaltsverlust des Kindes, der regelmäßig durch den Tod des Berechtigten eintrete ausgleichen. Bei dem Kläger liege durch den Wechsel in eine neue Pflegefamilie kein Unterhaltsverlust vor.

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf deren Inhalt verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 17. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Oktober 2011 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Beklagte hat zu Unrecht die dem Kläger zuvor gewährte Halbwaisenrente aufgehoben.

1.

Nach Abgabe des Teilanerkenntnisses des Beklagten und dessen Annahme durch den Kläger ist Streitgegenstand nur noch die Aufhebung der Halbwaisenrente für die Zukunft ab September 2011.

2.

Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) ist ein begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Wesentlich ist eine Änderung dann, wenn der ursprüngliche Bescheid nach den neu vorliegenden Verhältnissen nicht mehr hätte erlassen werden dürfen (von Wulffen, SGB X, 7. Auflage 2010, § 48 Rdnr. 12). Zu vergleichen sind damit die bei der ursprünglichen Entscheidung bestehenden Verhältnisse mit denjenigen zum Zeitpunkt der Neufeststellung.

Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse ist vorliegend durch den Auszug aus der Pflegefamilie jedoch nicht eingetreten. Gemäß § 81e Abs. 6 SVG erhalten auf Antrag die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne von § 81e SVG (Schädigung bei dienstlicher Verwendung im Ausland durch Angriff) Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG.

Gemäß § 45 Abs. 1 BVG erhalten nach dem Tode des Beschädigten seine Kinder bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres Waisenrente. Nach § 45 Abs. 2 BVG gelten als Kinder auch

Stiefkinder oder Kinder des Lebenspartners, die der Verstorbene in seinen Haushalt aufgenommen hatte,

Pflegekinder im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Bundeskindergeldgesetzes.

Pflegekinder im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BKGG sind Personen, mit denen der Berechtigte durch ein familienähnliches, auf Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie nicht zu Erwerbszwecken in seinen Haushalt aufgenommen hat und das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern nicht mehr besteht.

a)

§ 45 Abs. 1 BVG verlangt nach seinem Wortlaut, dass es sich um ein Pflegekind des Beschädigten handelt. Der Kläger war bis zum Tod des Beschädigten Herrn ... dessen Pflegekind im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BKGG. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG definiert den Begriff des Pflegekindes – nämlich dann wenn es u. a. in den Haushalt aufgenommen ist. Nach dem Wortlaut des Gesetzes kommt es daher lediglich auf die Beziehung zwischen dem Beschädigten und dem Pflegekind an. Für den Anspruch nach § 45 BVG ist unerheblich, ob das Pflegeverhältnis in der Familie des Beschädigten fortbesteht. Eine solche Begrenzung des Anspruchs lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Würde man – wie von dem Beklagten vorgetragen – einen weiter bestehenden gemeinsamen Haushalt verlangen, würde der Anspruch auf Waisenrente leerlaufen, da ein gemeinsamer Haushalt mit dem Beschädigten aufgrund seines Todes nicht mehr bestehen kann.

b)

Vergleichend kann man hierzu § 48 Abs. 3 Nr. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) heranziehen. Danach erhalten im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung Pflegekinder im Sinne von § 56 Abs. 2 Nr. 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil (SGB I) Halbwaisenrente, die in den Haushalt des Verstorbenen aufgenommen waren. Diese Formulierung im Gesetz ist eindeutiger, als die im BVG. Dies ist jedoch darauf zurückzuführen, da § 48 Abs. 3 Nr. 1 SGB VI auf einen anderen Pflegekindsbegriff, nämlich den in § 56 Abs. 2 Nr. 2 SGB I, verweist. In § 56 Abs. 2 Nr. 2 SGB I ist die Formulierung "in den Haushalt aufgenommen" nicht enthalten, so das dies nochmals explizit in § 48 Abs. 3 Nr. 1 SGB VI mit aufgenommen wurde. Demgegenüber enthält der Pflegekindsbegriff in § 2 Abs. 1 Nr. 2 BKGG, auf den § 45 Abs. 2 Nr. 2 BVG verweist, die Tatbestandsvoraussetzung "in seinen Haushalt aufgenommen". Daher erübrigte sich die nochmalige Wiederholung des Tatbestandsmerkmals. Zudem ist auch in der Zusammenschau beider Normen, § 45 BVG und § 48 SGB VI, nicht ersichtlich, dass die Pflegekinder im Versorgungsrecht schlechter gestellt werden sollten, als Pflegekinder in der gesetzlichen Rentenversicherung.

c)

Aus der Verwaltungsvorschrift zu § 45 BVG (vgl. Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Auflage, 2012) lässt sich ebenso die von dem Beklagten vorgenommene Begrenzung nicht entnehmen. Die Verwaltungsvorschrift bestimmt unter Ziffer 2.: Pflegekinder sind Kinder, mit denen der Verstorbene durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band, verbunden war, sofern er sie in seinen Haushalt aufgenommen hatte.

d)

Im Rahmen der historischen Auslegung ergibt sich ebenfalls, dass der Kläger auch nach Verlassen der Pflegefamilie einen Anspruch auf Waisenrente hat. Gemäß § 45 Abs. 2 Nr. 5 BVG in der Fassung vom 20. Dezember 1950 (BGBl. S. 791) galten als Waisen Pflegekinder, die der Verstorbene bei seinem Tode mindestens seit einem vor der Schädigung oder vor Anerkennung der Folgen der Schädigung liegenden Zeitpunkt oder seit mindestens einem Jahr unentgeltlich unterhalten hat. Die Norm verlangte lediglich im Zeitpunkt der Schädigung das Bestehen eines gemeinsamen Haushaltes. Auf ein Fortbestehen des Pflegschaftsverhältnisses kam es dagegen nicht an. Die zum 01. Juli 1977 eingetretene Änderung des Pflegekindbegriffs durch Bezugnahme auf das BKGG sollte (lediglich) bewirken, dass künftig auch Pflegekinder, die der Beschädigte erst nach der Schädigung oder nach Anerkennung der Folgen der Schädigung in seinen Haushalt aufgenommen hat, als Waise im Sinne des § 45 BVG gelten. Hintergrund der Änderung war die Umsetzung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 06. Mai 1975 – 1 BvR 332/72 – (vgl. hierzu die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 8/167, S. 8). Ziel dieser Bezugnahme auf das BKGG war es zudem den Begriff des Pflegekindes zu vereinheitlichen und zwar auch für das Versorgungsrecht (VG M., Urteil vom 12. Juni 2012 – 5 A 230/10 – juris). Laut der Gesetzesbegründung sollte somit eine Ausweitung des Anspruchs, aber keine Begrenzung erfolgen.

e)

Nach der teleologischen Auslegung, also nach Sinn und Zweck der Gesetzesbestimmung, ist auch davon auszugehen, dass der Anspruch durch den Wechsel der Pflegefamilie nicht entfällt. Der Waisenrente liegt zwar der Gedanke zu Grunde, die durch den schädigungsbedingten Wegfall des unterhaltspflichtigen Beschädigten erlittenen wirtschaftlichen Einbußen nach Kräften zu ersetzen; dieser wesentliche Zweck aller Hinterbliebenenrenten ist jedoch – auch bei der Waisenrente – nicht der alleinige Rechtsgrund der Gewährung (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 10. März 1976 – 10 RV 193/75 – juris). Wesentlicher Anknüpfungspunkt für die Hinterbliebenenrenten und damit auch für die Waisenrente ist zudem die im Einzelnen nicht wägbare Belastung im menschlichen und persönlichen Bereich (BSG, Urteil vom 23. Oktober 1985 – 9a RVg 4/83 – juris). Die nicht wägbare Belastung im menschlichen und persönlichen Bereich wird von der Versorgung pauschal – d. h. ohne Orientierung an der Unterhaltsfähigkeit der Elternteile und an der Unterhaltsbedürftigkeit der Waisen – mit abgegolten und kommt wegen der weit stärkeren Belastung der Vollwaisen in ihrer entsprechend höher bemessenen Grundrente zum Ausdruck (BSG vom 10. März 1976, a.a.O.; Rohr/Sträßer/Dahm, Bundesversorgungsgesetz Kommentar, Stand September 2012, § 45 - 4). Es besteht auch nicht die Gefahr, dass aufgrund häufiger Wechsel der Pflegefamilien und schicksalhaften Ereignissen mehrere Waisenrenten nach § 45 BVG gezahlt werden. Dies ist durch § 45 Abs. 5 BVG ausgeschlossen.

Eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X lag damit nicht vor, da der Beklagte unter den objektiv vorliegenden Umständen den gewährenden Verwaltungsakt auch noch hätte erlassen müssen. Nach alledem ist der angefochtene Bescheid des Beklagten aufzuheben.

3.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Rechtskraft
Aus
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