Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
7
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 71 KA 532/09
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 7 KA 61/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung (hier: Richtgrößenprüfung) zwingt nur hinreichend substantiiertes Vorbringen des Vertragsarztes zu Praxisbesonderheiten die Prüfeinrichtungen zur Prüfung bzw. Berücksichtigung dieses Vorbringens.
2. Die Entscheidung des Beschwerdeausschusses muss die von ihm angewandten Beurteilungsmaßstäbe erkennen lassen. Für den Fall, dass er bestimmte vom Vertragsarzt dargelegte Umstände überhaupt nicht oder nur teilweise als Praxisbesonderheit berücksichtigt, muss seiner Entscheidung daher nachvollziehbar zu entnehmen sein, warum die geltend gemachten Praxisbesonderheiten insgesamt oder teilweise nicht anerkannt wurden.
2. Die Entscheidung des Beschwerdeausschusses muss die von ihm angewandten Beurteilungsmaßstäbe erkennen lassen. Für den Fall, dass er bestimmte vom Vertragsarzt dargelegte Umstände überhaupt nicht oder nur teilweise als Praxisbesonderheit berücksichtigt, muss seiner Entscheidung daher nachvollziehbar zu entnehmen sein, warum die geltend gemachten Praxisbesonderheiten insgesamt oder teilweise nicht anerkannt wurden.
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. Juli 2010 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Beschluss des Beklagten vom 28. April 2009 insgesamt aufgehoben wird. Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin wendet sich gegen eine Regressfestsetzung in Höhe von 88.594,12 Euro im Rahmen der Richtgrößenprüfung für das Jahr 2002; die Beteiligten streiten insbesondere um die Anerkennung weiterer Praxisbesonderheiten.
Die Klägerin war bis zum Jahr 2008 als Fachärztin für Allgemeinmedizin zur vertragsärztlichen Versorgung in Berlin zugelassen.
Mit Beschluss vom 15. Mai 2006 (schriftlicher Bescheid vom 29. Juni 2006) setzte der Prüfungsausschuss für die Wirtschaftlichkeitsprüfung in der vertragsärztlichen Versorgung im Land Berlin gegen die Klägerin wegen Überschreitung der Richtgrößensumme für das Jahr 2002 eine Ersatzverpflichtung in Höhe von 98.334,19 Euro fest. Die Wirtschaftlichkeitsprüfung erfolgte auf Grundlage der für das Jahr 1999 vorgesehene Richtgrößenvereinbarung (veröffentlicht im KV-Blatt 10/99) sowie unter Zugrundelegung einer Verordnungskostensumme von 407.688,25 Euro und einer Richtgrößensumme von 232.644,26 Euro; diese Beträge werden von der Klägerin nicht beanstandet. In Zusammenhang mit den von der Klägerin im Verwaltungsverfahren geltend gemachten Praxisbesonderheiten erkannte der Prüfungsausschuss Verordnungskosten in Höhe von insgesamt 31.348,09 Euro an, nämlich
• Verordnungskosten für die Insulintherapie bei insulinpflichtigem Diabetes mellitus und der im Rahmen der intensivierten Insulintherapie notwendigen Blutzuckerteststreifen in Höhe von 23.735,28 Euro, • Verordnungskosten für Betäubungsmittel zur Behandlung starker Schmerzzustände (BtM-Rezepte) in Höhe von 3.632,07 Euro sowie • Verordnungskosten für die basistherapeutische, immunsuppressive Behandlung von Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises sowie ggf. Heilmittel in Höhe von 393,66 Euro, zudem • nicht richtgrößenrelevante Verordnungskosten für Hilfsmittel in Höhe von 2.989,40 Euro und für Impfstoffe in Höhe von 597,68 Euro.
Wegen der Berechnung des Regressbetrages in Einzelnen wird auf Bl. 103 des Verwaltungsvorgangs des Beklagten Bezug genommen.
Mit ihrem hiergegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin unter Beifügung von neun patientenbezogenen "Tagesprotokollen" als (weitere) Praxisbesonderheiten geltend:
• Sie führe eine Schwerpunktpraxis für die Behandlung von Diabetes mellitus, ohne dass dies der Beigeladenen zu 1. oder den Krankenkassen bekannt sei. Auf die 35 im Jahre 2002 mit intensivierter Insulintherapie behandelten, größtenteils unter Komorbiditäten leidenden Patienten entfielen Verordnungskosten von insgesamt 66.102,- Euro; • acht Patienten hätten der kostenintensiven Therapie mit Clopidogrel (Blutgerinnungshemmer) bedurft, Verordnungskosten von insgesamt 8.015,68 Euro; • teure polymorbide Patienten mit KHK, Hyperlipidämie, Stent-Implantationen, ICD-Implantationen, ACVB; • hoher Anteil von Patienten mit Hypertonie; 82 Patienten mit AT-1-Rezeptorenblockern, Verordnungskosten in Höhe von 28.500 Euro; jeder zweite Patient habe einer Mehrfachmedikation bedurft, Verordnungskosten in Höhe von 35.000,- Euro; • hoher Anteil ausländischer Frauen mit der Folge erhöhten medikamentösen Aufwandes; • hoher Anteil an Patienten mit gastroösophagialer Refluxkrankheit, Helicobacter pylori-induzierter Gastritis und/oder Ulcus duodeniae/ventriculae; • hoher Rentneranteil von 26 Prozent.
Der Beklagte ermittelte hierauf anhand der gespeicherten Datensätze u.a. folgende auf einzelne Indikationsgebiete bzw. Präparate entfallenden Verordnungskosten:
• Insuline und Teststreifen: 29.347,64 Euro, • Clopidogrel: 3.963,25 Euro, • Lipidsenker bei KHK und Hyperlipidämie: 30.866,40 Euro, • ACE-Hemmer und Sartane: 69.589,35 Euro, • Ulcus- und Refluxkrankheiten: 60.033,90 Euro, • Obstruktive Lungenerkrankung: 21.863,62 Euro, • Knochenaufbauende Mittel: 7.367,88 Euro.
Mit Beschluss vom 28. April 2009 (schriftlicher Bescheid vom 7. Juli 2009) reduzierte der Beklagte die festgesetzte Ersatzverpflichtung auf 88.594,12 Euro und wies den weitergehenden Widerspruch zurück. Als weitere Praxisbesonderheiten seien Verordnungskosten für Bisphosphonate in Höhe von 7.367,88 Euro und Verordnungskosten für Evista (Wirkstoff Raloxifen, zur Behandlung der Osteoporose) in Höhe von 3.568,79 Euro anzuerkennen, mithin Praxisbesonderheiten und nicht richtgrößenrelevante Verordnungskosten in Höhe von insgesamt 42.284,76 Euro. Aufgrund der unwirtschaftlichen Medikamentenauswahl hätten unter Auswertung der vorliegenden Datensätze sowie der Widerspruchsbegründung keine weiteren Praxisbesonderheiten festgestellt werden können. Wegen der Berechnung des Regressbetrages in Einzelnen wird auf Bl. 210 f. des Verwaltungsvorgangs des Beklagten Bezug genommen.
Mit ihrer am 1. August 2009 erhobenen Klage macht die Klägerin geltend, die Überschreitungen der Richtgrößen seien durch die bereits im Widerspruchsverfahren dargelegten Praxisbesonderheiten bzw. durch eine besondere Patientenklientel zu rechtfertigen. Sie habe einen extrem hohen Anteil an ausländischen, insbesondere türkischen Patienten; dies sei kausal für die höheren Verordnungskosten. Sie habe sich auf die Behandlung von Diabetes mellitus II und arterieller Hypertonie spezialisiert und führe deshalb eine Schwerpunktpraxis. Sie behandele zudem einen extrem hohen Anteil an Rentnern und an Frauen, was ebenfalls zu deutlich erhöhten Verordnungskosten führe. Warum die detailliert angeführten Praxisbesonderheiten nur teilweise anerkannt worden seien, sei dem Bescheid nicht zu entnehmen.
Der Beklagte hat im Klageverfahren erklärt: Verordnungen an fremdsprachige Versicherten sowie ein behaupteter vermehrter Rentneranteil seien in der Richtgrößenprüfung nicht berücksichtigungsfähig. Arzneimittelverordnungen würden durch das zu behandelnde Krankheitsbild bestimmt und nicht durch Alter oder Herkunft des Patienten. Zudem seien die höheren Verordnungskosten für Rentner bereits in der vereinbarten Richtgröße berücksichtigt. Die Klägerin sei Fachärztin für Allgemeinmedizin, so dass als Praxisbesonderheit nur berücksichtigt werden könne, was ihre Praxis nach den zu behandelnden Krankheiten von den übrigen Praxen derselben Fachgruppe unterscheide. Diabetes Mellitus und Hypertonie würden in jeder allgemeinärztlichen Praxis behandelt. Zudem seien Verordnungskosten nur bis zu der Höhe berücksichtigungsfähig, in der sie durch die Datensätze belegt seien. Dies seien etwa die Blutzuckerteststreifen in Höhe der bereits vom Prüfungsausschuss anerkannten 4.423,71 Euro. In Bezug auf die Verordnung von Insulin einschließlich der Kosten für Blutzuckerteststreifen werde Bezug genommen auf die Ausführungen im Bescheid des Prüfungsausschusses; anzuerkennen seien nach wie vor nur 23.735,28 Euro.
Mit Urteil vom 28. Juli 2010 hat das Sozialgericht Berlin den Beschluss des Beklagten vom 28. April 2009 aufgehoben, "soweit mit ihm nicht Kürzungen von Leistungsziffern aufgehoben oder reduziert wurden". Der angefochtene Bescheid unterliege einem Begründungsmangel im Sinne von § 35 SGB X und sei daher schon formell rechtswidrig. Es fehle jegliche Auseinandersetzung mit den Ausführungen der Klägerin im Widerspruchsverfahren. Die Regressforderung sei daher weder für die Klägerin noch für das Gericht auch nur ansatzweise überprüfbar. Die Klägerin habe ihren Widerspruch nicht nur pauschal, sondern sogar bezogen auf einzelne Patienten begründet. Hiermit hätte der Beklagte sich detailliert auseinandersetzen müssen. Zudem entspreche die Anerkennung von Bisphosphonaten und Evista nicht einmal dem eigenen Vorbringen der Klägerin. In Bezug auf die Höhe der Ersatzverpflichtung schließlich lasse der angefochtene Bescheid die gebotenen Ermessenserwägungen vermissen. Mit dem knappen Schriftsatz im Klageverfahren und dem ebenso knappen Vorbringen in der mündlichen Verhandlung sei der Begründungsmangel nicht geheilt worden (§ 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB X).
Hiergegen richtet sich die vom Beklagten am 24. August 2010 eingelegte Berufung. Er bringt im Wesentlichen vor: Unzutreffend nehme das Sozialgericht einen formellen Begründungsmangel an. Mit der Nennung von § 106 SGB V enthalte der angefochtene Bescheid den wesentlichen rechtlichen Hinweis. Der Beklagte sei darüber hinaus nicht verpflichtet mitzuteilen, warum einzelne behauptete Praxisbesonderheiten nicht anerkannt worden seien. Das Sozialgericht habe seine Hinweispflicht nach § 106 SGG (Ergänzung gegebenenfalls ungenügender Angaben tatsächlicher Art) nicht erfüllt. Ein Ermessensfehler liege nicht vor. Die Höhe des Regresses ergebe sich aus dem Gesetz. Soweit die Verordnungskosten in Zusammenhang mit der Behandlung von Diabetes mellitus betroffen seien, belegten die Datensätze nur Kosten für Insulin in Höhe von insgesamt 22.573,02 Euro. Davon seien 19.311,57 Euro als Praxisbesonderheit anerkannt worden, zuzüglich der Kosten für Teststreifen, insgesamt 23.735,28 Euro. Mehr könne die Klägerin nicht verlangen; die von ihr angestellten Berechnungen seien insoweit unschlüssig.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. Juli 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Die Beigeladenen haben sich im Berufungsverfahren nicht geäußert und keine Anträge gestellt.
Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung war.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben. Der Beschluss des Beklagten vom 28. April 2009 ist rechtswidrig, weil er an einem Beurteilungsmangel leidet.
1. Allerdings war das erstinstanzliche Urteil mit der Maßgabe zu bestätigen, dass der Beschluss des Beklagten vom 28. April 2009 insgesamt aufgehoben wird, denn die im Tenor des sozialgerichtlichen Urteils enthaltene Parenthese ("soweit mit ihm nicht Kürzungen von Leistungsziffern aufgehoben oder reduziert wurden") entbehrt jeder sachlichen Grundlage bzw. jeden Bezugs zum Fall, in dem es nur um eine im Rahmen der Richtgrößenprüfung festgesetzte Ersatzverpflichtung geht, nicht aber um Kürzung oder Reduzierung von Leistungsziffern.
2. Rechtsgrundlage für die Richtgrößenprüfung bezüglich des Jahres 2002 ist § 106 SGB V in der vom 2. Januar 2002 bis zum 31. Dezember 2003 geltenden Fassung (alte Fassung – a.F.). Danach wird die Wirtschaftlichkeit der Versorgung durch arztbezogene Prüfungen ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen nach Durchschnittswerten oder bei Überschreitung der Richtgrößen nach § 84 SGB V (Auffälligkeitsprüfung) geprüft (§ 106 Abs. 2 Nr. SGB V a.F.). Nach § 106 Abs. 5a Sätze 1 und 4 i.V.m. Abs. 5 SGB V a.F. werden durch die Prüfgremien (Prüfungs- und Beschwerdeausschuss) Prüfungen bei Überschreitung der Richtgrößenvolumen durchgeführt, wenn das Richtgrößenvolumen um mehr als 15 vom Hundert überschritten ist und auf Grund der vorliegenden Daten nicht davon auszugehen ist, dass die Überschreitung durch Praxisbesonderheiten begründet ist. Bei einer Überschreitung der Richtgrößen um mehr als 25 vom Hundert hat der Vertragsarzt den sich aus der Überschreitung der Richtgrößen ergebenden Mehraufwand zu erstatten, soweit dieser nicht durch Praxisbesonderheiten begründet ist.
3. Diesen Vorgaben wird der angefochtene Beschluss des Beklagten nur teilweise gerecht.
a) Es ist nicht zu beanstanden, dass der Beklagte der Berechnung der Richtgrößensumme im vorliegenden Fall die Richtgrößen zugrunde legte, die (erst) am 1. Juli 2002 zwischen den Beigeladenen vereinbart wurden (KV-Blatt 08/2002). Zwar sind Richtgrößen wegen ihrer verhaltenssteuernden Zielsetzung grundsätzlich vor dem Jahr zu vereinbaren, für das sie Geltung beanspruchen, mit der Folge, dass erst im Laufe des Geltungsjahres vereinbarte Richtgrößen einer entsprechenden Prüfung für dieses Jahr nur anteilig zugrunde gelegt werden können. Eine jahresbezogene Richtgrößenprüfung darf aber u.a. dann ausschließlich auf verspätet vereinbarten Richtgrößen basieren, wenn diese im Vergleich zu den bislang geltenden Richtgrößen für den Vertragsarzt keinen Nachteil darstellen (BSG, Urteile vom 2. November 2005, Az.: B 6 KA 63/04 R, und vom 23. März 2011, Az.: B 6 KA 9/10 R, beide veröffentlicht in Juris). Im vorliegenden Fall sind bei der Fachgruppe der Allgemeinmediziner die für das Jahr 2002 nachträglich vereinbarten Richtgrößen für die Gruppen "M/F" (Mitglieder und Familienversicherte) und "R" (Rentner) im Bereich Arznei- und Verbandmittel mit 39,51 Euro bzw. 112,97 Euro günstiger als die zuvor geltenden Richtgrößen (2001: 73,59 DM bzw. 210,43 DM).
Zutreffend hat der Beklagte die das Jahr 2002 betreffende Richtgrößensumme der Klägerin auf der Grundlage von 2.584 Behandlungsfällen M/F und 894 Behandlungsfällen R mit 232.644,26 Euro berechnet. Insoweit besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit.
b) Fehler des Beklagten bei der Bestimmung der Verordnungskostensumme der Klägerin sind weder von der Klägerseite geltend gemacht worden noch anderweitig ersichtlich.
c) Allerdings hat der Beklagte bei der Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten von seinem Beurteilungsspielraum fehlerhaft Gebrauch gemacht.
aa) Praxisbesonderheiten kommt gerade im Bereich der Richtgrößenprüfung besondere Bedeutung zu. Nur sie können nach dem Wortlaut von § 106 Abs. 5a SGB V a.F. verhindern, dass ein Vertragsarzt den (vollen) Mehraufwand in Form der Differenz zwischen seiner Verordnungskostensumme und der für ihn geltenden Richtgröße (bzw. in der Formulierung des angegriffenen Bescheides: "Richtgrößensumme") zu erstatten hat. Der Begriff "Praxisbesonderheiten", der im Bereich der Richtgrößenprüfung nicht anders zu verstehen ist als im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach Durchschnittswerten (BSG, Urteil vom 23. März 2011, Az.: B 6 KA 9/10 R, veröffentlicht in Juris, m.w.N.), umreißt Besonderheiten der Patientenversorgung, die vom Durchschnitt der Arztgruppe signifikant abweichen und die sich aus einem spezifischen Zuschnitt der Patienten des geprüften Vertragsarztes ergeben, der im Regelfall in Wechselbeziehung zu einer besonderen Qualifikation des Arztes steht. Hinsichtlich der hierfür erforderlichen Wertungen als fachlich-medizinisch und wirtschaftlich vertretbar haben die Prüfungseinrichtungen einen Beurteilungsspielraum, so dass deren Einschätzungen von den Sozialgerichten nur in begrenztem Umfang überprüft und beanstandet werden können (BSG, Urteil vom 06.05.2009, Az.: B 6 KA 17/08 R, veröffentlicht in Juris, m.w.N.). Soweit eine wertende Entscheidung unter Heranziehung der besonderen Fachkunde der Mitglieder der Prüfungseinrichtungen erforderlich ist, beschränkt sich die Kontrolle der Sozialgerichte auf die Prüfung, ob das Verwaltungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, ob der Verwaltungsentscheidung ein richtig und vollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde liegt, ob die Prüfungseinrichtungen die Grenzen eingehalten haben, die sich bei Auslegung unbestimmter Rechtsbe-griffe ergeben, und ob die Prüfungseinrichtungen ihre Erwägungen so verdeutlicht und begründet haben, dass im Rahmen des Möglichen die zutreffende Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe nachvollziehbar ist (BSG, Urteil vom 27.06.2007, Az.: B 6 KA 27/06 R, veröffentlicht in Juris, m.w.N.).
bb) Hieran gemessen ist der Beschluss vom 28. April 2009 hinsichtlich der Ablehnung von Praxisbesonderheiten rechtswidrig.
Soweit der Beklagte im angefochtenen Bescheid Praxisbesonderheiten entweder überhaupt nicht oder nur teilweise berücksichtigt hat, ist seine Entscheidung nicht nachvollziehbar. Der Beklagte hat seine Erwägungen nicht so verdeutlicht und begründet, dass die Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe nachvollziehbar wäre. Er muss sich bereits vorhalten lassen, dass seine Beurteilungsmaßstäbe insgesamt unklar bleiben. Der Beklagte hätte detailliert darlegen müssen, aus welchen Gründen im Einzelnen die von der Klägerin vorgetragenen Umstände überhaupt nicht oder nur teilweise als Praxisbesonderheiten anerkannt wurden. Die Beurteilungsmaßstäbe offen zu legen, ist dabei nicht nur mit Blick auf die Nachvollziehbarkeit und Transparenz der einzelnen Entscheidung zu verlangen, sondern insbesondere auch wegen der Gewährleistung einer gleichmäßigen Rechtsanwendung. Wenn der Beschwerdeausschuss mit wechselnden Mitgliedern tagt und entscheidet, stellt erst das schriftliche Festhalten der Rahmenbedingungen eine prüfbare Gleichbehandlung sicher. Sollten in anderen Bescheiden des Beklagten die Rahmenbedingungen gleichfalls nicht transparent gemacht worden sein, wäre auf dieser Ebene kaum nachzuvollziehen, ob innerhalb der Fachgruppe eines Klägers mit denselben Maßstäben gemessen wurde. Denn in einem Entscheidungssystem, das ersichtlich auf Vergleichen als Methode ausgerichtet ist, gibt es keine Einzelfallentscheidungen. Es gibt lediglich jeweils einzelne Ergebnisse, aber jedes dieser Ergebnisse muss sich widerspruchsfrei in das System einfügen lassen (vgl. hierzu schon Urteil des Senats vom 6. Juni 2012, L 7 KA 99/09, zitiert nach Juris, dort Rdnr. 40, m.w.N.).
Der Beschluss des Beklagten vom 28. April 2009 zeichnet sich dadurch aus, dass er in seiner rechtlichen Würdigung auf die von der Klägerin mit ihrem Widerspruch geltend gemachten Praxisbesonderheiten nicht einmal ansatzweise eingeht. Der schriftliche Bescheid wiederholt lediglich die vom Prüfungsausschuss bereits anerkannten Praxisbesonderheiten in Höhe von insgesamt 31.348,09 Euro und setzt als weitere Praxisbesonderheiten Verordnungskosten für Bisphosphonate in Höhe von 7.367,88 Euro und Verordnungskosten für Evista in Höhe von 3.568,79 Euro hinzu, ohne dass die Klägerin Praxisbesonderheiten für diese beiden Posten überhaupt geltend gemacht hätte. Umgekehrt erschöpft sich die Ablehnung der von der Klägerin im Widerspruchsverfahren ausdrücklich geltend gemachten Praxisbesonderheiten in der viel zu allgemeinen Wendung, aufgrund der unwirtschaftlichen Medikamentenauswahl hätten unter Auswertung der vorliegenden Datensätze sowie der Widerspruchsbegründung keine weiteren Praxisbesonderheiten festgestellt werden können.
Dies wird den rechtlichen Erfordernissen nicht gerecht. Der betroffene Vertragsarzt hat einen Anspruch darauf zu erfahren, warum die von ihm angeführten Aspekte nicht als Praxisbesonderheiten anerkannt worden sind; die notwendige schriftliche Begründung hätte überdies gegebenenfalls befriedende und erklärende Wirkung und würde von der Führung unter Umständen nicht Erfolg versprechender Prozesse abhalten. Umso unangemessener erscheint es, dass der Beklagte in seinem Vorbringen im Klageverfahren hinsichtlich der Verordnung von Insulin sogar auf die Ausführungen im Beschluss vom 28. April 2009 Bezug genommen hat, obwohl sich dort gerade keine schriftliche Begründung befindet. Das nur bruchstückhafte Vorbringen des Beklagten im erst- und zweitinstanzlichen Verfahren kann insgesamt nicht als hinreichendes Nachschieben von Gründen gewertet werden, unabhängig von der hier nicht zu entscheidenden Frage, ob ein solches Nachschieben überhaupt statthaft ist, wenn es um die Anfechtung der Entscheidung eines sachverständig besetzten Gremiums geht.
4. Infolge der Aufhebung des Beschlusses vom 28. April 2009 ist der Beklagte verpflichtet, über den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid des Prüfungsausschusses erneut zu entscheiden. Er hat hierbei die oben dargelegte Rechtsauffassung des Senats zugrunde zu legen. Um seinen Pflichten zu genügen, wird er hierbei zumindest einmal die Klägerin darauf hinweisen müssen, welche Daten im einzelnen von ihr noch beizubringen sind und anhand welcher Maßstäbe und Kriterien er die zwischen den Beigeladenen vereinbarten bzw. von ihm darüber hinaus entwickelten Praxisbesonderheiten prüft. Jedenfalls hat der Beklagte eine Ablehnung einzelner von der Klägerin beanspruchter Praxisbesonderheiten je gesondert zu begründen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Absatz 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 und 2 Verwaltungsgerichtsordnung. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 Absatz 2 SGG nicht vorliegen.
Tatbestand:
Die Klägerin wendet sich gegen eine Regressfestsetzung in Höhe von 88.594,12 Euro im Rahmen der Richtgrößenprüfung für das Jahr 2002; die Beteiligten streiten insbesondere um die Anerkennung weiterer Praxisbesonderheiten.
Die Klägerin war bis zum Jahr 2008 als Fachärztin für Allgemeinmedizin zur vertragsärztlichen Versorgung in Berlin zugelassen.
Mit Beschluss vom 15. Mai 2006 (schriftlicher Bescheid vom 29. Juni 2006) setzte der Prüfungsausschuss für die Wirtschaftlichkeitsprüfung in der vertragsärztlichen Versorgung im Land Berlin gegen die Klägerin wegen Überschreitung der Richtgrößensumme für das Jahr 2002 eine Ersatzverpflichtung in Höhe von 98.334,19 Euro fest. Die Wirtschaftlichkeitsprüfung erfolgte auf Grundlage der für das Jahr 1999 vorgesehene Richtgrößenvereinbarung (veröffentlicht im KV-Blatt 10/99) sowie unter Zugrundelegung einer Verordnungskostensumme von 407.688,25 Euro und einer Richtgrößensumme von 232.644,26 Euro; diese Beträge werden von der Klägerin nicht beanstandet. In Zusammenhang mit den von der Klägerin im Verwaltungsverfahren geltend gemachten Praxisbesonderheiten erkannte der Prüfungsausschuss Verordnungskosten in Höhe von insgesamt 31.348,09 Euro an, nämlich
• Verordnungskosten für die Insulintherapie bei insulinpflichtigem Diabetes mellitus und der im Rahmen der intensivierten Insulintherapie notwendigen Blutzuckerteststreifen in Höhe von 23.735,28 Euro, • Verordnungskosten für Betäubungsmittel zur Behandlung starker Schmerzzustände (BtM-Rezepte) in Höhe von 3.632,07 Euro sowie • Verordnungskosten für die basistherapeutische, immunsuppressive Behandlung von Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises sowie ggf. Heilmittel in Höhe von 393,66 Euro, zudem • nicht richtgrößenrelevante Verordnungskosten für Hilfsmittel in Höhe von 2.989,40 Euro und für Impfstoffe in Höhe von 597,68 Euro.
Wegen der Berechnung des Regressbetrages in Einzelnen wird auf Bl. 103 des Verwaltungsvorgangs des Beklagten Bezug genommen.
Mit ihrem hiergegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin unter Beifügung von neun patientenbezogenen "Tagesprotokollen" als (weitere) Praxisbesonderheiten geltend:
• Sie führe eine Schwerpunktpraxis für die Behandlung von Diabetes mellitus, ohne dass dies der Beigeladenen zu 1. oder den Krankenkassen bekannt sei. Auf die 35 im Jahre 2002 mit intensivierter Insulintherapie behandelten, größtenteils unter Komorbiditäten leidenden Patienten entfielen Verordnungskosten von insgesamt 66.102,- Euro; • acht Patienten hätten der kostenintensiven Therapie mit Clopidogrel (Blutgerinnungshemmer) bedurft, Verordnungskosten von insgesamt 8.015,68 Euro; • teure polymorbide Patienten mit KHK, Hyperlipidämie, Stent-Implantationen, ICD-Implantationen, ACVB; • hoher Anteil von Patienten mit Hypertonie; 82 Patienten mit AT-1-Rezeptorenblockern, Verordnungskosten in Höhe von 28.500 Euro; jeder zweite Patient habe einer Mehrfachmedikation bedurft, Verordnungskosten in Höhe von 35.000,- Euro; • hoher Anteil ausländischer Frauen mit der Folge erhöhten medikamentösen Aufwandes; • hoher Anteil an Patienten mit gastroösophagialer Refluxkrankheit, Helicobacter pylori-induzierter Gastritis und/oder Ulcus duodeniae/ventriculae; • hoher Rentneranteil von 26 Prozent.
Der Beklagte ermittelte hierauf anhand der gespeicherten Datensätze u.a. folgende auf einzelne Indikationsgebiete bzw. Präparate entfallenden Verordnungskosten:
• Insuline und Teststreifen: 29.347,64 Euro, • Clopidogrel: 3.963,25 Euro, • Lipidsenker bei KHK und Hyperlipidämie: 30.866,40 Euro, • ACE-Hemmer und Sartane: 69.589,35 Euro, • Ulcus- und Refluxkrankheiten: 60.033,90 Euro, • Obstruktive Lungenerkrankung: 21.863,62 Euro, • Knochenaufbauende Mittel: 7.367,88 Euro.
Mit Beschluss vom 28. April 2009 (schriftlicher Bescheid vom 7. Juli 2009) reduzierte der Beklagte die festgesetzte Ersatzverpflichtung auf 88.594,12 Euro und wies den weitergehenden Widerspruch zurück. Als weitere Praxisbesonderheiten seien Verordnungskosten für Bisphosphonate in Höhe von 7.367,88 Euro und Verordnungskosten für Evista (Wirkstoff Raloxifen, zur Behandlung der Osteoporose) in Höhe von 3.568,79 Euro anzuerkennen, mithin Praxisbesonderheiten und nicht richtgrößenrelevante Verordnungskosten in Höhe von insgesamt 42.284,76 Euro. Aufgrund der unwirtschaftlichen Medikamentenauswahl hätten unter Auswertung der vorliegenden Datensätze sowie der Widerspruchsbegründung keine weiteren Praxisbesonderheiten festgestellt werden können. Wegen der Berechnung des Regressbetrages in Einzelnen wird auf Bl. 210 f. des Verwaltungsvorgangs des Beklagten Bezug genommen.
Mit ihrer am 1. August 2009 erhobenen Klage macht die Klägerin geltend, die Überschreitungen der Richtgrößen seien durch die bereits im Widerspruchsverfahren dargelegten Praxisbesonderheiten bzw. durch eine besondere Patientenklientel zu rechtfertigen. Sie habe einen extrem hohen Anteil an ausländischen, insbesondere türkischen Patienten; dies sei kausal für die höheren Verordnungskosten. Sie habe sich auf die Behandlung von Diabetes mellitus II und arterieller Hypertonie spezialisiert und führe deshalb eine Schwerpunktpraxis. Sie behandele zudem einen extrem hohen Anteil an Rentnern und an Frauen, was ebenfalls zu deutlich erhöhten Verordnungskosten führe. Warum die detailliert angeführten Praxisbesonderheiten nur teilweise anerkannt worden seien, sei dem Bescheid nicht zu entnehmen.
Der Beklagte hat im Klageverfahren erklärt: Verordnungen an fremdsprachige Versicherten sowie ein behaupteter vermehrter Rentneranteil seien in der Richtgrößenprüfung nicht berücksichtigungsfähig. Arzneimittelverordnungen würden durch das zu behandelnde Krankheitsbild bestimmt und nicht durch Alter oder Herkunft des Patienten. Zudem seien die höheren Verordnungskosten für Rentner bereits in der vereinbarten Richtgröße berücksichtigt. Die Klägerin sei Fachärztin für Allgemeinmedizin, so dass als Praxisbesonderheit nur berücksichtigt werden könne, was ihre Praxis nach den zu behandelnden Krankheiten von den übrigen Praxen derselben Fachgruppe unterscheide. Diabetes Mellitus und Hypertonie würden in jeder allgemeinärztlichen Praxis behandelt. Zudem seien Verordnungskosten nur bis zu der Höhe berücksichtigungsfähig, in der sie durch die Datensätze belegt seien. Dies seien etwa die Blutzuckerteststreifen in Höhe der bereits vom Prüfungsausschuss anerkannten 4.423,71 Euro. In Bezug auf die Verordnung von Insulin einschließlich der Kosten für Blutzuckerteststreifen werde Bezug genommen auf die Ausführungen im Bescheid des Prüfungsausschusses; anzuerkennen seien nach wie vor nur 23.735,28 Euro.
Mit Urteil vom 28. Juli 2010 hat das Sozialgericht Berlin den Beschluss des Beklagten vom 28. April 2009 aufgehoben, "soweit mit ihm nicht Kürzungen von Leistungsziffern aufgehoben oder reduziert wurden". Der angefochtene Bescheid unterliege einem Begründungsmangel im Sinne von § 35 SGB X und sei daher schon formell rechtswidrig. Es fehle jegliche Auseinandersetzung mit den Ausführungen der Klägerin im Widerspruchsverfahren. Die Regressforderung sei daher weder für die Klägerin noch für das Gericht auch nur ansatzweise überprüfbar. Die Klägerin habe ihren Widerspruch nicht nur pauschal, sondern sogar bezogen auf einzelne Patienten begründet. Hiermit hätte der Beklagte sich detailliert auseinandersetzen müssen. Zudem entspreche die Anerkennung von Bisphosphonaten und Evista nicht einmal dem eigenen Vorbringen der Klägerin. In Bezug auf die Höhe der Ersatzverpflichtung schließlich lasse der angefochtene Bescheid die gebotenen Ermessenserwägungen vermissen. Mit dem knappen Schriftsatz im Klageverfahren und dem ebenso knappen Vorbringen in der mündlichen Verhandlung sei der Begründungsmangel nicht geheilt worden (§ 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB X).
Hiergegen richtet sich die vom Beklagten am 24. August 2010 eingelegte Berufung. Er bringt im Wesentlichen vor: Unzutreffend nehme das Sozialgericht einen formellen Begründungsmangel an. Mit der Nennung von § 106 SGB V enthalte der angefochtene Bescheid den wesentlichen rechtlichen Hinweis. Der Beklagte sei darüber hinaus nicht verpflichtet mitzuteilen, warum einzelne behauptete Praxisbesonderheiten nicht anerkannt worden seien. Das Sozialgericht habe seine Hinweispflicht nach § 106 SGG (Ergänzung gegebenenfalls ungenügender Angaben tatsächlicher Art) nicht erfüllt. Ein Ermessensfehler liege nicht vor. Die Höhe des Regresses ergebe sich aus dem Gesetz. Soweit die Verordnungskosten in Zusammenhang mit der Behandlung von Diabetes mellitus betroffen seien, belegten die Datensätze nur Kosten für Insulin in Höhe von insgesamt 22.573,02 Euro. Davon seien 19.311,57 Euro als Praxisbesonderheit anerkannt worden, zuzüglich der Kosten für Teststreifen, insgesamt 23.735,28 Euro. Mehr könne die Klägerin nicht verlangen; die von ihr angestellten Berechnungen seien insoweit unschlüssig.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. Juli 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Die Beigeladenen haben sich im Berufungsverfahren nicht geäußert und keine Anträge gestellt.
Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung war.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben. Der Beschluss des Beklagten vom 28. April 2009 ist rechtswidrig, weil er an einem Beurteilungsmangel leidet.
1. Allerdings war das erstinstanzliche Urteil mit der Maßgabe zu bestätigen, dass der Beschluss des Beklagten vom 28. April 2009 insgesamt aufgehoben wird, denn die im Tenor des sozialgerichtlichen Urteils enthaltene Parenthese ("soweit mit ihm nicht Kürzungen von Leistungsziffern aufgehoben oder reduziert wurden") entbehrt jeder sachlichen Grundlage bzw. jeden Bezugs zum Fall, in dem es nur um eine im Rahmen der Richtgrößenprüfung festgesetzte Ersatzverpflichtung geht, nicht aber um Kürzung oder Reduzierung von Leistungsziffern.
2. Rechtsgrundlage für die Richtgrößenprüfung bezüglich des Jahres 2002 ist § 106 SGB V in der vom 2. Januar 2002 bis zum 31. Dezember 2003 geltenden Fassung (alte Fassung – a.F.). Danach wird die Wirtschaftlichkeit der Versorgung durch arztbezogene Prüfungen ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen nach Durchschnittswerten oder bei Überschreitung der Richtgrößen nach § 84 SGB V (Auffälligkeitsprüfung) geprüft (§ 106 Abs. 2 Nr. SGB V a.F.). Nach § 106 Abs. 5a Sätze 1 und 4 i.V.m. Abs. 5 SGB V a.F. werden durch die Prüfgremien (Prüfungs- und Beschwerdeausschuss) Prüfungen bei Überschreitung der Richtgrößenvolumen durchgeführt, wenn das Richtgrößenvolumen um mehr als 15 vom Hundert überschritten ist und auf Grund der vorliegenden Daten nicht davon auszugehen ist, dass die Überschreitung durch Praxisbesonderheiten begründet ist. Bei einer Überschreitung der Richtgrößen um mehr als 25 vom Hundert hat der Vertragsarzt den sich aus der Überschreitung der Richtgrößen ergebenden Mehraufwand zu erstatten, soweit dieser nicht durch Praxisbesonderheiten begründet ist.
3. Diesen Vorgaben wird der angefochtene Beschluss des Beklagten nur teilweise gerecht.
a) Es ist nicht zu beanstanden, dass der Beklagte der Berechnung der Richtgrößensumme im vorliegenden Fall die Richtgrößen zugrunde legte, die (erst) am 1. Juli 2002 zwischen den Beigeladenen vereinbart wurden (KV-Blatt 08/2002). Zwar sind Richtgrößen wegen ihrer verhaltenssteuernden Zielsetzung grundsätzlich vor dem Jahr zu vereinbaren, für das sie Geltung beanspruchen, mit der Folge, dass erst im Laufe des Geltungsjahres vereinbarte Richtgrößen einer entsprechenden Prüfung für dieses Jahr nur anteilig zugrunde gelegt werden können. Eine jahresbezogene Richtgrößenprüfung darf aber u.a. dann ausschließlich auf verspätet vereinbarten Richtgrößen basieren, wenn diese im Vergleich zu den bislang geltenden Richtgrößen für den Vertragsarzt keinen Nachteil darstellen (BSG, Urteile vom 2. November 2005, Az.: B 6 KA 63/04 R, und vom 23. März 2011, Az.: B 6 KA 9/10 R, beide veröffentlicht in Juris). Im vorliegenden Fall sind bei der Fachgruppe der Allgemeinmediziner die für das Jahr 2002 nachträglich vereinbarten Richtgrößen für die Gruppen "M/F" (Mitglieder und Familienversicherte) und "R" (Rentner) im Bereich Arznei- und Verbandmittel mit 39,51 Euro bzw. 112,97 Euro günstiger als die zuvor geltenden Richtgrößen (2001: 73,59 DM bzw. 210,43 DM).
Zutreffend hat der Beklagte die das Jahr 2002 betreffende Richtgrößensumme der Klägerin auf der Grundlage von 2.584 Behandlungsfällen M/F und 894 Behandlungsfällen R mit 232.644,26 Euro berechnet. Insoweit besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit.
b) Fehler des Beklagten bei der Bestimmung der Verordnungskostensumme der Klägerin sind weder von der Klägerseite geltend gemacht worden noch anderweitig ersichtlich.
c) Allerdings hat der Beklagte bei der Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten von seinem Beurteilungsspielraum fehlerhaft Gebrauch gemacht.
aa) Praxisbesonderheiten kommt gerade im Bereich der Richtgrößenprüfung besondere Bedeutung zu. Nur sie können nach dem Wortlaut von § 106 Abs. 5a SGB V a.F. verhindern, dass ein Vertragsarzt den (vollen) Mehraufwand in Form der Differenz zwischen seiner Verordnungskostensumme und der für ihn geltenden Richtgröße (bzw. in der Formulierung des angegriffenen Bescheides: "Richtgrößensumme") zu erstatten hat. Der Begriff "Praxisbesonderheiten", der im Bereich der Richtgrößenprüfung nicht anders zu verstehen ist als im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach Durchschnittswerten (BSG, Urteil vom 23. März 2011, Az.: B 6 KA 9/10 R, veröffentlicht in Juris, m.w.N.), umreißt Besonderheiten der Patientenversorgung, die vom Durchschnitt der Arztgruppe signifikant abweichen und die sich aus einem spezifischen Zuschnitt der Patienten des geprüften Vertragsarztes ergeben, der im Regelfall in Wechselbeziehung zu einer besonderen Qualifikation des Arztes steht. Hinsichtlich der hierfür erforderlichen Wertungen als fachlich-medizinisch und wirtschaftlich vertretbar haben die Prüfungseinrichtungen einen Beurteilungsspielraum, so dass deren Einschätzungen von den Sozialgerichten nur in begrenztem Umfang überprüft und beanstandet werden können (BSG, Urteil vom 06.05.2009, Az.: B 6 KA 17/08 R, veröffentlicht in Juris, m.w.N.). Soweit eine wertende Entscheidung unter Heranziehung der besonderen Fachkunde der Mitglieder der Prüfungseinrichtungen erforderlich ist, beschränkt sich die Kontrolle der Sozialgerichte auf die Prüfung, ob das Verwaltungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, ob der Verwaltungsentscheidung ein richtig und vollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde liegt, ob die Prüfungseinrichtungen die Grenzen eingehalten haben, die sich bei Auslegung unbestimmter Rechtsbe-griffe ergeben, und ob die Prüfungseinrichtungen ihre Erwägungen so verdeutlicht und begründet haben, dass im Rahmen des Möglichen die zutreffende Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe nachvollziehbar ist (BSG, Urteil vom 27.06.2007, Az.: B 6 KA 27/06 R, veröffentlicht in Juris, m.w.N.).
bb) Hieran gemessen ist der Beschluss vom 28. April 2009 hinsichtlich der Ablehnung von Praxisbesonderheiten rechtswidrig.
Soweit der Beklagte im angefochtenen Bescheid Praxisbesonderheiten entweder überhaupt nicht oder nur teilweise berücksichtigt hat, ist seine Entscheidung nicht nachvollziehbar. Der Beklagte hat seine Erwägungen nicht so verdeutlicht und begründet, dass die Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe nachvollziehbar wäre. Er muss sich bereits vorhalten lassen, dass seine Beurteilungsmaßstäbe insgesamt unklar bleiben. Der Beklagte hätte detailliert darlegen müssen, aus welchen Gründen im Einzelnen die von der Klägerin vorgetragenen Umstände überhaupt nicht oder nur teilweise als Praxisbesonderheiten anerkannt wurden. Die Beurteilungsmaßstäbe offen zu legen, ist dabei nicht nur mit Blick auf die Nachvollziehbarkeit und Transparenz der einzelnen Entscheidung zu verlangen, sondern insbesondere auch wegen der Gewährleistung einer gleichmäßigen Rechtsanwendung. Wenn der Beschwerdeausschuss mit wechselnden Mitgliedern tagt und entscheidet, stellt erst das schriftliche Festhalten der Rahmenbedingungen eine prüfbare Gleichbehandlung sicher. Sollten in anderen Bescheiden des Beklagten die Rahmenbedingungen gleichfalls nicht transparent gemacht worden sein, wäre auf dieser Ebene kaum nachzuvollziehen, ob innerhalb der Fachgruppe eines Klägers mit denselben Maßstäben gemessen wurde. Denn in einem Entscheidungssystem, das ersichtlich auf Vergleichen als Methode ausgerichtet ist, gibt es keine Einzelfallentscheidungen. Es gibt lediglich jeweils einzelne Ergebnisse, aber jedes dieser Ergebnisse muss sich widerspruchsfrei in das System einfügen lassen (vgl. hierzu schon Urteil des Senats vom 6. Juni 2012, L 7 KA 99/09, zitiert nach Juris, dort Rdnr. 40, m.w.N.).
Der Beschluss des Beklagten vom 28. April 2009 zeichnet sich dadurch aus, dass er in seiner rechtlichen Würdigung auf die von der Klägerin mit ihrem Widerspruch geltend gemachten Praxisbesonderheiten nicht einmal ansatzweise eingeht. Der schriftliche Bescheid wiederholt lediglich die vom Prüfungsausschuss bereits anerkannten Praxisbesonderheiten in Höhe von insgesamt 31.348,09 Euro und setzt als weitere Praxisbesonderheiten Verordnungskosten für Bisphosphonate in Höhe von 7.367,88 Euro und Verordnungskosten für Evista in Höhe von 3.568,79 Euro hinzu, ohne dass die Klägerin Praxisbesonderheiten für diese beiden Posten überhaupt geltend gemacht hätte. Umgekehrt erschöpft sich die Ablehnung der von der Klägerin im Widerspruchsverfahren ausdrücklich geltend gemachten Praxisbesonderheiten in der viel zu allgemeinen Wendung, aufgrund der unwirtschaftlichen Medikamentenauswahl hätten unter Auswertung der vorliegenden Datensätze sowie der Widerspruchsbegründung keine weiteren Praxisbesonderheiten festgestellt werden können.
Dies wird den rechtlichen Erfordernissen nicht gerecht. Der betroffene Vertragsarzt hat einen Anspruch darauf zu erfahren, warum die von ihm angeführten Aspekte nicht als Praxisbesonderheiten anerkannt worden sind; die notwendige schriftliche Begründung hätte überdies gegebenenfalls befriedende und erklärende Wirkung und würde von der Führung unter Umständen nicht Erfolg versprechender Prozesse abhalten. Umso unangemessener erscheint es, dass der Beklagte in seinem Vorbringen im Klageverfahren hinsichtlich der Verordnung von Insulin sogar auf die Ausführungen im Beschluss vom 28. April 2009 Bezug genommen hat, obwohl sich dort gerade keine schriftliche Begründung befindet. Das nur bruchstückhafte Vorbringen des Beklagten im erst- und zweitinstanzlichen Verfahren kann insgesamt nicht als hinreichendes Nachschieben von Gründen gewertet werden, unabhängig von der hier nicht zu entscheidenden Frage, ob ein solches Nachschieben überhaupt statthaft ist, wenn es um die Anfechtung der Entscheidung eines sachverständig besetzten Gremiums geht.
4. Infolge der Aufhebung des Beschlusses vom 28. April 2009 ist der Beklagte verpflichtet, über den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid des Prüfungsausschusses erneut zu entscheiden. Er hat hierbei die oben dargelegte Rechtsauffassung des Senats zugrunde zu legen. Um seinen Pflichten zu genügen, wird er hierbei zumindest einmal die Klägerin darauf hinweisen müssen, welche Daten im einzelnen von ihr noch beizubringen sind und anhand welcher Maßstäbe und Kriterien er die zwischen den Beigeladenen vereinbarten bzw. von ihm darüber hinaus entwickelten Praxisbesonderheiten prüft. Jedenfalls hat der Beklagte eine Ablehnung einzelner von der Klägerin beanspruchter Praxisbesonderheiten je gesondert zu begründen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Absatz 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 und 2 Verwaltungsgerichtsordnung. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 Absatz 2 SGG nicht vorliegen.
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