L 15 SB 146/13 B

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 8 SB 506/11
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 SB 146/13 B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Die erstinstanzliche Entscheidung zur Kostenübernahme auf die Staatskasse ist im Beschwerdeverfahren voll, d.h. nicht nur auf Ermessensfehler, überprüfbar. Die Befugnis zur Ausübung des Ermessens geht mit der Beschwerde in vollem Umfang auf das Beschwerdegericht über.
2. Geht das Hauptsacheverfahren in die Berufung, darf bei der Bewertung, ob das in der ersten Instanz eingeholte Gutachten gemäß § 109 SGG die Sachaufklärung objektiv wesentlich gefördert und somit Bedeutung für die gerichtliche Entscheidung oder den Ausgang des Verfahrens gewonnen hat, nicht allein auf das erstinstanzliche Verfahren abgestellt werden. Vielmehr ist das gesamte Verfahren, also auch das Berufungsverfahren in die Erwägungen einzubeziehen
3. Eine nur teilweise Kostenübernahme ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen, aber bei einem einheitlichen Streitgegenstand regelmäßig nicht sachgerecht.
I. Der Beschluss des Sozialgerichts Augsburg vom 8. Juli 2013 wird dahingehend abgeändert, dass die Kosten für das gemäß § 109 SGG eingeholte Gutachten des Herrn Dr. K. vom 18. September 2012 nicht nur zur Hälfte, sondern voll auf die Staatskasse übernommen werden.

II. Dem Beschwerdeführer sind die notwendigen außergerichtlichen
Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.



Gründe:


I.

In dem am Sozialgericht Augsburg (SG) unter dem Az.: S 8 SB 506/11 anhängig gewesenen Rechtsstreit des Klägers und jetzigen Beschwerdeführers wegen der Höhe des Grads der Behinderung (GdB) - Ziel des Beschwerdeführers war ein GdB von mehr als 40 - erstellten zunächst ein chirurgischer und ein neurologisch-psychiatrischer Sachverständiger Gutachten von Amts wegen. Sie kamen dabei zu der Einschätzung, dass der Gesamt-GdB 40 betrage.

In dem vom Beschwerdeführer gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beantragten Gutachten durch den Nervenarzt Dr. K. nahm dieser einen Gesamt-GdB von 50 an, wobei er die beim Beschwerdeführer vorliegende Migräne, die die Vorgutachter nicht oder nur mit einem GdB von 10 eingeschätzt hatten, mit einem Einzel-GdB von 30 bewertete. Auch das Schlafaponoe-Syndrom schätzte er wegen der damit verbundenen periodischen Beinbewegungen mit einem GdB von 30 höher ein als die zuvor gehörten Sachverständigen.

Das SG schloss sich im Gerichtsbescheid vom 11.12.2012, Az.: S 8 SB 506/11, der Einschätzung des Dr. K. nicht an und wies die Klage ab.

In dem sich anschließenden Berufungsverfahren vor dem Bayerischen Landessozialgericht (LSG), Az.: L 16 SB 12/13, gab der Beklagte im Erörterungstermin vom 03.07.2013 ein Anerkenntnis (GdB von 50) ab. Zuvor hatte die Berichterstatterin deutlich gemacht, dass sie die Einschätzung des Dr. K. zur Migräne für überzeugend halte. Ob die weitere Annahme des Dr. K., dass für das Schlafapnoe-Syndrom wegen der periodischen Beinbewegungen ein GdB von 30 zugrunde zu legen sei, zutreffend sei, blieb im Erörterungstermin offen.

Mit Beschluss vom 08.07.2013 ist das SG dem Antrag des Beschwerdeführers auf Übernahme der Kosten für das Gutachten gemäß § 109 SGG nur insofern nachgekommen, als die Kosten für das Gutachten gemäß § 109 SGG zur Hälfte auf die Staatskasse übernommen worden sind.

Begründet worden ist die (nur) hälftige Kostenübernahme damit, dass das Gutachten des Dr. K. die Sachaufklärung nur zum Teil wesentlich gefördert habe, nämlich bezüglich der höheren Einstufung des Behinderungsleidens "echte Migräne". Im Übrigen habe - so das SG in den Gründen des Beschlusses vom 08.07.2013 - Dr. K. lediglich die bereits erfolgten sachverständigen Einschätzungen bzw. Feststellungen des Beklagten betätigt. Hinsichtlich der Bewertung der Schlafapnoe habe sich das Bayer. LSG nicht festgelegt, erstinstanzlich sei auch in diesem Punkt der Bewertung durch Dr. K. nicht gefolgt worden. Offen bleibe damit auch, ob die Gesamt-GdB-Bewertung durch Dr. K. bei niedrigerer Einstufung der Schlafapnoe so noch tragfähig sei. Es sei deshalb nur gerechtfertigt, die Hälfte der Kosten des Gutachtens des Dr. K. auf die Staatskasse zu übernehmen.

Gegen die nur teilweise Kostenübernahme hat sich der Beschwerdeführer am 16.07.2013 mit der Beschwerde gewandt.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Die teilweise ablehnende Entscheidung des SG, nämlich die Kosten des Gutachtens gemäß § 109 SGG nicht wie beantragt voll, sondern nur hälftig auf die Staatskasse zu übernehmen, ist mit Blick auf die weiteren Erkenntnisse im Berufungsverfahren aufzuheben. Die Kosten für das gemäß § 109 SGG eingeholte Gutachten sind in voller Höhe auf die Staatskasse zu übernehmen.

Nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG muss auf Antrag des behinderten Menschen ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Die Anhörung kann - wie dies im vorliegenden Fall auch erfolgt ist - davon abhängig gemacht werden, dass der Antragsteller die Kosten dafür vorschießt und vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Gerichts auch endgültig trägt (§ 109 Abs. 1 Satz 2 SGG). Eine "andere Entscheidung" in diesem Sinn hat der Beschwerdeführer beim SG beantragt.

1. Kriterien für die Entscheidung über die Kostenübernahme

Die Entscheidung darüber, ob die Kosten eines gemäß § 109 SGG eingeholten Gutachtens auf die Staatskasse zu übernehmen sind, wird als Ermessensentscheidung (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer, SGG, 10. Aufl., § 109, Rdnr. 16) des Gerichts bezeichnet, das das Gutachten angefordert hat (vgl. Keller, a.a.O., § 109, Rdnr. 18). Bei der Entscheidung über die Kostenübernahme auf die Staatskasse ist zu berücksichtigen, ob das Gutachten die Sachaufklärung objektiv wesentlich gefördert und somit Bedeutung für die gerichtliche Entscheidung oder den Ausgang des Verfahrens gewonnen hat (vgl. Keller, a.a.O., § 109, Rdnr. 16a). Entscheidend ist dabei, ob durch das Gutachten neue beweiserhebliche Gesichtspunkte zu Tage getreten sind oder die Beurteilung auf eine wesentlich breitere und für das Gericht und die Beteiligten überzeugendere Grundlage gestellt worden ist. Dabei genügt es nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschlüsse vom 28.09.2012, Az.: L 15 SB 293/11 B, und vom 26.04.2013, Az.: L 15 SB 168/12 B) nicht, dass ein Gutachten "die Aufklärung des Sachverhalts in objektiv sinnvoller Weise gefördert" hat oder dass durch das Gutachten "entscheidungserhebliche Punkte des Sachverhalts weiter aufgeklärt werden", wie manchmal formuliert wird (vgl. Kühl, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 1. Aufl., § 109, Rdnr. 11, mit Verweis auf den Beschluss des Bayer. LSG vom 29.04.1964, Az.: L 18/Ko 60/63). Denn diese Voraussetzungen sind bei medizinischen Gutachten so gut wie immer gegeben. Nur eine wesentliche Förderung der Sachaufklärung kann zu einer Kostenübernahme führen (vgl. Keller, a.a.O.; Beschlüsse des Senats vom 28.09.2012, Az.: L 15 SB 293/11 B, und vom 26.04.2013, Az.: L 15 SB 168/12 B).

Geht das Hauptsacheverfahren in die Berufung, darf bei der Bewertung, ob das in der ersten Instanz eingeholte Gutachten gemäß § 109 SGG die Sachaufklärung objektiv wesentlich gefördert und somit Bedeutung für die gerichtliche Entscheidung oder den Ausgang des Verfahrens gewonnen hat, nicht allein auf das erstinstanzliche Verfahren abgestellt werden. Vielmehr ist das gesamte Verfahren, also auch das Berufungsverfahren in die Erwägungen einzubeziehen (vgl. Keller, a.a.O., § 109, Rdnr. 16a; Beschlüsse des Senats vom 12.03.2012, Az.: L 15 SB 22/12 B, und vom 02.08.2013, Az.: L 15 SB 178/12 B).

Nicht entscheidend ist, ob das Gutachten den Rechtsstreit in einem für den Antragsteller günstigen Sinn beeinflusst hat. Kein maßgeblicher Gesichtspunkt für eine Ermessensausübung im Sinne eines Antragsstellers ist es auch, wenn dieser nach Bestätigung der Ergebnisse, wie sie der von Amts wegen bestellte Sachverständige festgestellt hat, durch den gemäß § 109 SGG benannten Gutachter die Klage oder Berufung zurücknimmt. Denn mit der Kostenübernahme auf die Staatskasse bzw. der Ablehnung der Kostenübernahme darf keine Belohnung bzw. Sanktionierung eines bestimmten prozessualen Verhaltens erfolgen (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. z.B. Beschlüsse vom 12.03.2012, Az.: L 15 SB 22/12 B, vom 14.11.2012, Az.: L 15 SB 33/09, und vom 04.02.2013, Az. L 15 SB 8/12 B).

Eine nur teilweise Kostenübernahme ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen, aber bei einem einheitlichen Streitgegenstand regelmäßig nicht sachgerecht (vgl. Keller, a.a.O., § 109, Rdnr. 16a). Sie wird daher überhaupt nur in seltenen Fällen in Betracht gezogen werden können (ständige Rspr. des Senats, vgl. z.B. Beschlüsse vom 01.03.2012, Az.: L 15 SB 153/09, vom 12.03.2012, Az.: L 15 SB 22/12 B, vom 28.09.2012, Az.: L 15 SB 293/11 B, vom 19.12.2012, Az.: L 15 SB 123/12 B, vom 19.03.2013, Az.: L 15 BL 6/07, und vom 15.05.2013,Az.: L 15 SB 67/13 B). Denkbar ist dies bei einem teilbaren Streitgegenstand (z.B. Höhe des GdB einerseits und Merkzeichen andererseits), wenn das Gutachten gemäß § 109 SGG nur für einen Teil des Streitgegenstands neue Erkenntnisse gebracht bzw. nur diesbezüglich zur Erledigung geführt hat, nicht aber für den anderen Teil des Streitgegenstands.

2. Prüfungsumfang im Beschwerdeverfahren

Der Senat hat mit Beschluss vom 19.12.2012, Az.: L 15 SB 123/12 B, - mit ausführlicher Begründung, umfassenden Erwägungen zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen und ausführlicher Auseinandersetzung mit anderslautender Rechtsprechung - erläutert, dass der Prüfungsumfang im Beschwerdeverfahren gemäß § 109 SGG - wie auch in anderen Beschwerdeverfahren - nicht dahingehend beschränkt ist, dass nur eine eingeschränkte Nachprüfbarkeit durch das Beschwerdegericht dahingehend eröffnet wäre, ob die Voraussetzungen und die Grenzen des Ermessens richtig bestimmt und eingehalten worden sind. Vielmehr geht er von einer vollen Überprüfung und einer eigenen Ermessensentscheidung des Beschwerdegerichts aus. Im Rahmen der Beschwerdeentscheidung ist die Befugnis zur Ausübung des Ermessens in vollem Umfang auf das Beschwerdegericht übergegangen (vgl. Beschlüsse des Senats vom 19.12.2012, Az.: L 15 SB 123/12 B, vom 26.04.2013, Az.: L 15 SB 168/12 B, und vom 15.05.2013, Az.: L 15 SB 67/13 B).

3. Entscheidung im vorliegenden Fall

Im vorliegenden Fall sind die Kosten für das Gutachten gemäß § 109 SGG nicht nur hälftig, sondern voll auf die Staatskasse zu übernehmen.

Das SG hat bei seiner Entscheidung, wie dem angefochtenen Beschluss zu entnehmen ist, die weitere Entwicklung im Rechtsstreit, d.h. auch das Berufungsverfahren, berücksichtigt und in seine Ermessenserwägungen einbezogen, dass das gemäß
§ 109 SGG eingeholte Gutachten dort die Grundlage für das verfahrensbeendende Anerkenntnis des Beklagten gewesen ist. Der Senat kann dem SG im Rahmen der von ihm im Rahmen der Beschwerdeentscheidung selbst anzustellenden Ermessenserwägungen nur insofern nicht folgen, als das SG die volle Kostenübernahme abgelehnt hat und die Kosten nur zur Hälfte auf die Staatskasse übernommen hat.

Das Gutachten des Dr. K. hat, wie das SG richtig erkannt hat, insofern zu neuen Erkenntnissen und einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts geführt, als dieser Sachverständige beim Beschwerdeführer eine Migräne gesehen hat, die er mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet hat. Der zuvor gemäß § 106 SGG gehörte nervenärztliche Sachverständige hatte eine Migräne überhaupt nicht erwähnt, der chirurgische Sachverständige dafür nur den vom Beklagten angenommenen Einzel-GdB von 10 übernommen. Diese neue, im Gutachten gemäß § 109 SGG enthaltene Erkenntnis war auch die Grundlage für den Verfahrensabschluss durch Anerkenntnis des Beklagten (GdB 50 ab Antragstellung).

Dieser Beitrag zur weiteren Sachaufklärung genügt, um die Kostenübernahme auf die Staatskasse auszusprechen. Ein teilbarer Streitgegenstand, bei dem eine Kostenteilung nach der Rechtsprechung des Senats in Erwägung gezogen werden kann, liegt nicht vor, sodass schon aus diesem Grund eine Kostenteilung nicht sachgerecht ist.

Dass die Annahme eines weiteren Einzel-GdB von 30 für das Schlafapnoe-Syndrom bei Berücksichtigung der periodischen Beinbewegungen auf die Erledigung des Rechtsstreits keinen Einfluss gehabt hat und möglicherweise auch rechtlich nicht nachvollziehbar gewesen wäre (die Versorgungsmedizinischen Grundsätzen, Teil B Nr. 8.7, kennen einen GdB von 30 für das Schlafapnoe-Syndrom nicht, vgl. Urteil des Senats vom 17.07.2012, Az.: L 15 SB 213/11), ist für die Kostenübernahme irrelevant. Denn über den Umfang der Kostenübernahme auf die Staatskasse kann keine Sanktionierung der Qualität eines Gutachtens in dem Sinn erfolgen, dass der Antragsteller die Kosten soweit selbst zu tragen hätte, als die Ausführungen eines Sachverständigen bei der Erledigung nicht als zutreffende Bewertung zugrunde gelegt worden sind (vgl. Beschlüsse des Senats vom 01.03.2012, Az.: L 15 SB 153/09, und vom 19.12.2012, Az.: L 15 SB 123/12 B) ...

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf der entsprechenden Anwendung von
§ 193 Abs. 1 SGG (vgl. Beschlüsse des Senats vom 09.02.2009, Az.: L 15 SB 12/09 B, und vom 12.03.2012, Az.: L 15 SB 22/12 B).

Diese Entscheidung ist gemäß § 177 SGG endgültig.
Rechtskraft
Aus
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