S 6 AS 309/12

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 6 AS 309/12
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 767/13 NZB
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Leistungen für die gemeinschaftliche Mittagsverpflegung werden als Sach- und Dienstleistungen erbracht.

Eine Auszahlung der für diese Bedarfe vorgesehenen Leistungen an die Eltern der Berechtigten ist vom Gesetz nicht vorgesehen.
Die Klage wird abgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten. Die Berufung wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Mit der Klage begehrt der Kläger die Auszahlung der Leistungen für die Mittagsverpflegung nach dem SGB II als Geldleistung an seine Eltern als gesetzliche Vertreter.

Streitgegenständlich ist vorliegend der Zeitraum vom 08.08.2011 bis 31.01.2012.

Der 1995 geborene Kläger war im Streitzeitraum Schüler und besuchte die Gesamtschule vgl. Schulbescheinigung Bl. 1910 Verwaltungsakte).

Aus der Verwaltungsakte des Magistrats der Stadt A-Stadt im Parallelverfahren S 6 AS 473/12 kann entnommen werden, wie die Modalitäten der Essensausgabe zum Mittagessen in der Gesamtschule ablaufen. Dort wird das Mittagessen zu einem Preis von 2,80 EUR pro Mahlzeit angeboten. Eine Voranmeldung ist nicht nötig. Der Schüler kauft sich vielmehr in der ersten Pause in der Cafeteria der Schule eine Essensmarke, wenn er an dem Tag essen möchte. Weiterhin gibt es die Möglichkeit, beim Schulkiosk belegte Snacks u.a. in Form von belegten Brötchen zu kaufen.

Am 01.08.2011 stellte der Kläger einen Antrag auf Übernahme der Kosten der Mittagsverpflegung in der Schule.

Mit Bescheid vom 19.12.2011 bewilligte der Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 08.08.2011 bis 31.01.2012 Leistungen für die gemeinschaftliche Mittagsverpflegung in Höhe von 183,60 EUR. In dem Bescheid heißt es sodann (Bl. 19 Gerichtsakte):

"Die Abrechnung der Leistungen erfolgt direkt zwischen dem Leistungsanbieter und dem Jobcenter Stadt A-Stadt."

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 04.01.2012 Widerspruch ein. Er wende sich gegen die Zahlung der Leistungen an die Schule. Eine solche Zahlung verstoße gegen datenschutzrechtliche Vorschriften bzw. sein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Seine Eltern seien verantwortungsbewusste Personen, die sich gegen den Vorwurf der Zweckentfremdung der Gelder wehrten.

Mit Widerspruchsbescheid vom 08.03.2012 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Gem. § 29 Abs. 1 SGB II würden Leistungen zur Deckung der Bedarfe nach § 28 Abs. 2, 5-7 SGB II durch Sachleistungen, insbesondere in Form personalisierter Gutscheine oder Direktzahlungen an Anbieter, zur Deckung dieser Bedarfe erbracht. Es sei der Wille der Bundesregierung, wie der Bundestagsdrucksache 17/4304 entnommen werden könne, dass durch unmittelbare Leistungsformen die Leistungen bei den Kindern und Jugendlichen auch tatsächlich ankommen würden. Auch die Leistungsabwicklung durch Direktzahlung sei eine Form der Sachleistung. Diese Zahlungsweise sei weitgehend stigmatisierungsfrei, da sich die leistungsberechtigten Kinder und Jugendlichen nicht als Leistungsempfänger zu erkennen geben müssten. Deshalb müsse es bei der Direktzahlung an die Schule bleiben (Bl. 20 f. Gerichtsakte).

Am 10.04.2012 hat der Kläger gegen den Bescheid vom 19.12.2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 08.03.2012 Klage beim Sozialgericht Kassel erhoben. Er begehre die Auszahlung der Leistungen für die Mittagsverpflegung an der Schule zu den Händen seiner Erziehungsberechtigten (Bl. 1 Gerichtsakte).

Mit Schriftsatz vom 19.04.2012 hat der Vater des Klägers verfassungsrechtliche Einwände gegen das "Bildungspaket" geäußert. Dieses verstoße gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Bl. 8 f. Gerichtsakte).

Mit Schriftsatz vom 11.06.2012 hat der Vater des Klägers mitgeteilt, dass es für ihn und den Kläger im Hinblick auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht hinnehmbar wäre, wenn das Geld aus dem Bildungspaket an die Schule überwiesen werde, da dann die Gefahr bestünde, sich als Hartz IV-Empfänger "outen" zu müssen. Insoweit sehe man die gesetzlichen Vorgaben des § 29 SGB II zur Ausgestaltung des Leistungsverfahrens als unvereinbar mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung an. Man berufe sich auch auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 25.01.2012 (B 14 AS 65/11 R). Da die Eltern des Klägers für seine Mittagsverpflegung in Vorleistung getreten seien, beantrage man vom Beklagten die Erstattung der vorgelegten Aufwendungen für die Mittagsverpflegung (Bl. 40 Gerichtsakte).

Mit Schriftsatz ebenfalls vom 11.06.2012 hat der Kläger bestätigt, dass er von seinen Eltern jeden Tag einen Betrag von 3,00 EUR erhalten habe, um sich in der Schule hiervon Essen zu kaufen. Auch er wolle nicht, dass die Leistungen direkt an die Schule überwiesen würden (Bl. 42 Gerichtsakte).

Der Beklagte hat hierauf mit Schriftsatz vom 22.08.2012 erwidert, dass er keinerlei Handhabe sehe, die Leistungen für die gemeinschaftliche Mittagsverpflegung an den Kläger direkt auszuzahlen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Bescheid vom 19.12.2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 08.03.2012 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die vom Beklagten für die Zeit vom 08.08.2011 bis 31.01.2012 gewährten Leistungen für die gemeinschaftliche Mittagsverpflegung in der Schule als Geldleistungen direkt an seine Eltern auszuzahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten und auf die Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage hat keinen Erfolg. Die zulässige Klage ist unbegründet.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Auszahlung der mit Bescheid vom 19.12.2011 bewilligten Leistungen in Form einer Geldleistung an sich selbst beziehungsweise seine Eltern.

I. Dem stehen die gesetzlichen Vorgaben des SGB II entgegen.

Gem. § 28 Abs. 1 S.1 SGB II werden Bedarfe für Bildung und Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in einer Gemeinschaft bei Kindern und Jugendlichen neben der Regelleistung nach Maßgabe der Absätze 2 bis 7 gesondert berücksichtigt.

Gem. § 28 Abs. 6 S.1 Nr.1 SGB II werden für Schülerinnen und Schüler bei Teilnahme an einer gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung die entstehenden Mehraufwendungen berücksichtigt.

Für Schülerinnen und Schüler gilt dies nach § 28 Abs. 6 S.2 SGB II unter der Voraussetzung, dass die Mittagsverpflegung in schulischer Verantwortung angeboten wird.

Die Modalitäten der Leistungserbringung sind in § 29 SGB II normiert.

Gemäß § 29 Abs. 1 S.1 SGB II werden Leistungen zur Deckung der Bedarfe nach § 28 Abs. 2 und Abs. 5 bis 7 SGB II erbracht durch Sach- oder Dienstleistungen, insbesondere in Form von personalisierten Gutscheinen oder Direktzahlungen an Anbieter von Leistungen zur Deckung der Bedarfe; die kommunalen Träger bestimmen, in welcher Form sie die Leistungen erbringen.

Abweichend hiervon werden Bedarfe nach § 28 Abs. 3 und 4 SGB II, also für den persönlichen Schulbedarf und die Schülerbeförderung, durch Geldleistungen bewilligt (§ 29 Abs. 1 S.2 SGB II).

Voelzke (in: Hauck & Noftz, SGB II, 44. Lfg. 2012 Rn. 20) stellt zutreffend fest, dass die Erbringung von Geldleistungen in den Fällen der in § 28 Abs. 2 und 5 bis 7 genannten Bedarfe nach dem Wortlaut des § 29 Abs. 1 S.1 SGB II nicht vorgesehen ist, so dass eine entsprechende Geldleistungsgewährung als Regelfall ausgeschlossen ist. Aus der gesetzlichen Systematik ergibt sich nämlich, dass Leistungen nach § 28 Abs. 6 und Abs. 7 SGB II nach der Entscheidung des Gesetzgebers, an die das Gericht und der Beklagte gebunden sind, anders als die Leistungen für den persönlichen Schulbedarf (§ 28 Abs. 3 SGB II) und die Leistungen für die Schülerbeförderung (§ 28 Abs. 4 SGB II), nicht durch Geldzahlungen an die Erziehungsberechtigten erbracht werden (Thommes in: Gagel, SGB II, § 29 Rn. 4). Hierbei räumt das Gesetz dem Beklagten kein Ermessen ein, hiervon eine abweichende Regelung zu treffen (wie hier: Bayerisches Landessozialgericht, Urteil v. 21.01.2013, L 7 BK 8/12, juris).

Lenze (in: Münder (Hrsg.), SGB II, 2011, § 29 Rn. 3) führt damit übereinstimmend aus, dass die Wünsche der Leistungsberechtigten und die Interessen der Leistungsanbieter bei der Entscheidung über die Form der Erbringung nicht maßgebend sind.

Hintergrund dieser gesetzgeberischen Entscheidung dürfte u.a. sein, dass der Gesetzgeber die Leistungen für das Mittagessen als ein Mittel zur Teilhabe ansieht, so dass es also nicht ausschließlich um die Nahrungsaufnahme, sondern um das Mittagessen in der Gemeinschaft der Schüler geht, weshalb der Gesetzgeber auch – wie aus § 28 Abs. 6 S.2 SGB II deutlich wird – nur Leistungen für das Mittagessen erbringen will, wenn dieses in schulischer Verantwortung angeboten wird (Voelzke in: Hauck & Noftz, SGB II, 42. Lfg. 2012, § 28 Rn. 92). Der Gesetzgeber wollte dem jeweiligen Schüler also nicht die Möglichkeit einräumen, selbst zu entscheiden, wo und wie er die gesondert für das Mittagessen gewährten SGB II-Leistungen zur Verpflegung einsetzt.

Voelzke sieht hiervon in seiner Kommentierung im Hauck & Noftz (44. Lfg., § 29 Rn. 20) allerdings eine Ausnahme vor:

"Eröffnet wird die Geldleistung als Kostenerstattungsanspruch aber ( ) für die Selbstbeschaffung in den Fällen einer rechtswidrigen Leistungsablehnung."

Hierzu kann dieser Kommentierung (Voelzke in: Hauck & Noftz, 42. Lfg. § 28 Rn. 98) allerdings weiterhin entnommen werden, dass Ausgangspunkt des Leistungsumfangs die tatsächlichen Aufwendungen sind.

Vorliegend liegt kein Ausnahmefall einer rechtswidrigen Leistungsverweigerung durch den Beklagten vor. Dieser hat die Leistungen in der vom Gesetz vorgesehenen Form der Direktzahlung an den Leistungsanbieter bewilligt.

Im Übrigen müsste der Kläger für einen aus den bereits genannten Gründen ausscheidenden Erstattungsanspruch seine tatsächlichen Aufwendungen im Streitzeitraum durch Belege beziffern können. Dies ist nicht geschehen. Niemand kann überprüfen, welche Ausgaben der Kläger im Streitzeitraum für eine gemeinsame Mittagsverpflegung in der Schule tatsächlich hatte.

Zusammenfassend muss konstatiert werden, dass der Kläger weder einen Anspruch auf eine Direktzahlung der Leistungen in Form von Geldleistungen an seine Eltern hat noch einen Erstattungsanspruch hat, den er im Übrigen auch nicht verlässlich beziffern kann.

II. Das Gericht ist weiterhin nicht davon überzeugt, dass § 29 SGB II verfassungswidrig ist.

1. Eine solche Einschätzung hat das Gericht auch nicht denjenigen Stimmen des wissenschaftlichen Schrifttums entnehmen können, die zu Recht rechtspolitische Kritik an dieser Form der Leistungserbringung äußern (vgl. exemplarisch: Leopold in: Juris-PK-SGB II, Stand 28.01.2013, § 29 Rn. 38 ff., 43).

2. Dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 kann in der Randnummer 138 entnommen werden, dass es dem Gesetzgeber überlassen bleibe, ob er das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichert. Damit übereinstimmend geht das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt in seinem Beschluss vom 07.04.2011 (L 5 AS 50/11 B ER, juris) von der Verfassungsmäßigkeit der Ausgabe von Gutscheinen aus.

3. Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus der vom Kläger zitierten Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 25.01.2012 (B 14 AS 65/11 R). Dort heiß es im Leitsatz der Entscheidung zwar zutreffend:

"Der Bezug von Arbeitslosengeld II ist ein Sozialdatum, dessen Offenbarung durch das Jobcenter nur zulässig ist, wenn der Leistungsbezieher eingewilligt hat oder eine gesetzliche Offenbarungsbefugnis vorliegt."

Dieser Umstand wird vom Beklagten aber nicht in Abrede gestellt. Eine solche Befugnisnorm (vgl. Bieresborn, JurisPR-SozR 19/Anm. 2) liegt nämlich vor.

a) Als Befugnisnorm kann zunächst die allgemeine Vorschrift des § 69 Abs. 1 Nr. 1 SGB X herangezogen werden, wonach die Übermittlung von Sozialdaten zulässig ist für die Erfüllung von gesetzlichen Aufgaben der übermittelnden Stelle nach dem Sozialgesetzbuch.

Vorliegend dient die Datenübermittlung an die Schule dem Gewähren von Leistungen für Bedarfe nach § 28 Abs. 6 und 7 SGB II und damit einem legitimen Zweck.

b) Als weitere speziellere Befugnisnorm kann im Übrigen § 29 Abs. 1 SGB II selbst herangezogen werden, aus dem konkludent der Schluss gezogen werden kann, dass die Anbieter von den Trägern informiert werden dürfen.

c) Auch unter dem Blickwinkel der Verhältnismäßigkeit hat das Gericht keine Anhaltspunkte dafür, dass § 29 SGB II verfassungswidrig sein könnte. Der Gesetzgeber verfolgt mit dieser Vorschrift das legitime Ziel, dass für Kinder und Jugendliche vorgesehene Bedarfe nach § 28 Abs. 2 und Abs. 5 bis 7 SGB II bei diesen auch ankommen. Der Gesetzgeber hat hierbei einen weiten Spielraum, durch welche Mittel er dieses Ziel erreichen will. Dieser Spielraum wurde nach Auffassung der Kammer nicht überschritten.

Da die Schulen ihrerseits zum Datenschutz verpflichtet sind, ist nicht davon auszugehen, dass die Betroffenen durch die Vorschrift unverhältnismäßig schwerwiegend in ihrem Recht auf informationelle Selbstbestimmung tangiert werden.

Die Klage hatte daher keinen Erfolg.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Rechtskraft
Aus
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