L 27 P 2/12

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
27
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 209 P 53/09
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 27 P 2/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 04. November 2011 und der Bescheid des Beklagten vom 11. Juni 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Januar 2009 aufgehoben. Die Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen die Aufhebung einer Bewilligung von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung in Form eines Pflegegeldes der Pflegestufe I für die Zeit vom 22. September 2005 bis zum 30. September 2007 und die Rückforderung eines Betrages von 4.981,50 Euro.

Die 1953 geborene Klägerin bezieht eine Erwerbsminderungsrente und befand sich vom 09. Juni bis zum 09. August 2005 u. a. wegen einer psychischen Erkrankung, einer Essstörung sowie bestehender Adipositas in stationärer Behandlung in der medizinisch-psychosomatischen Klinik R am C. Von dort aus beantragte sie am 17. August 2005 bei der Beklagten die Gewährung von Pflegesachleistungen.

Die mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragte Pflegefachkraft C K des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) gelangte nach körperlicher Untersuchung der Klägerin vom 31. August 2005 in ihrem Gutachten vom 19. September 2005 zu der Einschätzung, dass ein Hilfebedarf von wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Grundpflege von 52 Minuten sowie im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung von 51 Minuten bestehe. Dem folgend bewilligte die Beklagte der Klägerin mit Blick auf deren geänderten Antrag auf Gewährung eines Pflegegeldes bei der Pflege durch eine Frau K mit Bescheid vom 30. September 2005 ab dem 22. September 2005 fortlaufend ein Pflegegeld der Pflegestufe I.

Kurz vor der Bescheiderteilung und zwar am 22. September 2005 beantragte die 1927 geborene und zwischenzeitlich verstorbene Mutter der Klägerin, Frau A B, die bei der Pflegekasse der A pflegepflichtversichert ist, die Gewährung von Pflegeleistungen unter Angabe der Pflege durch eine Pflegestation und ergänzend durch ihre Tochter, die Klägerin. Der insoweit mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragte Arzt Dr. J des MDK gelangte nach körperlicher
Untersuchung der Mutter der Klägerin in seinem Gutachten von demselben Tag zu der Einschätzung, dass im Falle der Mutter der Klägerin ein wöchentlich im Tagesdurchschnitt bestehender Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 180 Minuten und im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung von 60 Minuten bestehe. In dem Gutachten ist aufgeführt, das die Mutter der Klägerin durch ihre Tochter, die Klägerin, im Umfang von 14 bis 21 Stunden wöchentlich gepflegt wird. Dem Gutachten folgend bewilligte die A entsprechende Pflegeleistungen der Pflegestufe II.

Nachdem die Beklagte im Zuge eines Antrages der Klägerin vom März 2007 auf die Gewährung von Leistungen für den Umbau eines Badezimmers im August 2007 über den Arzt Dr. J des MDK Kenntnis davon erlangt hatte, dass auch die Mutter der Klägerin bei gleichzeitiger Pflege durch die Klägerin Leistungen der Pflegeversicherung erhält, ließ die Beklagte die Klägerin erneut begutachten. Der insoweit mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragte Dr. J des MDK gelangte nach körperlicher Untersuchung der Klägerin vom 15. August 2007 in seinem Gutachten vom 20. August 2007 zu der Einschätzung, dass ein wöchentlich im Tagesdurchschnitt bestehender Hilfebedarf im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung im Umfang von 17 Minuten bestehe; im Bereich der Grundpflege sei die Klägerin nicht
pflegebedürftig. Eine Pflegeperson für die Klägerin sei nicht vorhanden. Die Mutter der Klägerin würde offensichtlich von der Klägerin selbst gepflegt. Daneben werde die Mutter der Klägerin dreimal öffentlich von einem Pflegedienst gepflegt.

Daraufhin hob die Beklagte nach Anhörung der Klägerin mit Bescheid vom 11. Juni 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Januar 2009 den Bescheid vom 30. September 2005 gemäß § 45 des Sozialgesetzbuches Zehntes Buch (SGB X) auf und forderte die
Klägerin gemäß § 50 SGB X auf, dass seit dem 22. September 2005 geleistete Pflegegeld von insgesamt 4.981,50 Euro zu erstatten. Zur Begründung führte sie aus, dass die Bewilligung von Pflegeleistungen von Anfang an rechtswidrig gewesen sei, weil eine Pflegebedürftigkeit der Klägerin zu keinem Zeitpunkt bestanden habe. Dies bestätige sich aufgrund des Umstandes, dass die Klägerin ihre Mutter bereits seit dem Zeitpunkt der eigenen Leistungsbewilligung gepflegt habe. Eine Pflegekraft für die Klägerin selbst sei niemals vorhanden gewesen. Die Klägerin habe demzufolge falsche Angaben über ihre Pflegebedürftigkeit und ihre Pflege durch Dritte gemacht und hierdurch die unrechtmäßige Leistungsbewilligung bewirkt. Auf Vertrauensgesichtspunkte könne sich die Klägerin nicht berufen. Unter Abwägung der entgegenstehenden Interessen läge auch kein besonderer Grund vor, der es rechtfertigen könne, auf die Rückforderung des zu Unrecht geleisteten Pflegegeldes zu verzichten.

Die Klägerin hat am 13. Februar 2009 Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben, mit der sie die Aufhebung des Bescheides über die Aufhebung der Leistungsbewilligung und die Rückforderung des geleisteten Pflegegeldes hinsichtlich des Zeitraumes bis zum 30. September 2007 begehrt. Das Sozialgericht hat nach Beiziehung von Befundberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte die Ärztin A H mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Die Sachverständige gelangte nach körperlicher Untersuchung der Klägerin vom 04. November 2009 in ihrem Gutachten von demselben Tag zu der Einschätzung, dass aktuell ein Hilfebedarf von wöchentlich im Tagesdurchschnitt 3 Minuten im Bereich der Grundpflege und von 21 Minuten im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung bestehe. Ein Hilfebedarf, der den zeitlichen Vorgaben der Pflegestufe I genüge, habe zu keinem Zeitpunkt bestanden. Es könne allenfalls unerstellt werden, dass im Jahre 2005/2006 aufgrund einer floriden rheumatoiden Arthritis und eines hämoriden Blutungsleidens ein Hilfebedarf von vielleicht 20 Minuten täglich im Bereich der Grundpflege bestanden hätte.

Mit Urteil vom 04. November 2011 hat das Sozialgericht Berlin die Klage auf Aufhebung des Bescheides vom 11. Juni 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Januar 2009 hinsichtlich des strittigen Zeitraumes bis zum 30. September 2007 abgewiesen. Die auf § 45 SGB X gestützte Rücknahmeentscheidung sei rechtmäßig, weil eine Pflegebedürftigkeit von Anfang an nicht bestanden habe. Das Gutachten aus dem Jahre 2005 sei offensichtlich unzutreffend, wie durch das gerichtlich eingeholte Gutachten der Frau Dr. H belegt sei. Auch sei durch die Pflege der eigenen Mutter belegt, dass die Klägerin selbst nicht pflegebedürftig gewesen sei. Da die Klägerin selbst von ihrer fehlenden Pflegebedürftigkeit gewusst habe, könne sie sich auf Vertrauensgesichtspunkte nicht berufen. Die von der Beklagten ergangene Ermessensentscheidung lasse Ermessensfehler nicht erkennen. Zu Recht könne daher die Beklagte auch die geleisteten Pflegezahlungen von Anfang an zurückverlangen.

Gegen das ihr am 23. Dezember 2011 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 06. Januar 2012 Berufung eingelegt.

Sie ist der Auffassung, dass durch das Gutachten der Pflegefachkraft K vom 19. September 2005 ihre damals bestehende Pflegebedürftigkeit belegt sei. Zudem sei sie durch Lebensgefährten W R gepflegt worden. Ihr Gesundheitszustand habe sich offensichtlich zwischenzeitlich gebessert, so dass zwischenzeitlich die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen der Pflegeversicherung nicht mehr vorlegen hätten. Dies ändere jedoch nichts daran, dass sie damals zu Recht Leistungen bis zum 30. September 2007 erhalten habe.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 04. November 2011 und den Bescheid der Beklagten vom 11. Juni 2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 14. Januar 2009 aufzubeben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Die Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet.

Die der Berufung zu Grunde liegende Anfechtungsklage hat Erfolg. Denn der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 11. Juni 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Januar 2009 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Er unterliegt daher der Aufhebung hinsichtlich des hier allein strittigen Zeitraums vom 22. September 2005 bis zum 30. September 2007.

Entgegen der Auffassung des Beklagten und auch des Sozialgerichts findet der angefochtene Bescheid in § 45 des Sozialgesetzbuches (SGB X) keine wirksame Rechtsgrundlage.

Dies würde zunächst voraussetzen, dass der Bescheid vom 30. September 2005, mit dem der Klägerin Leistungen der Pflegestufe I in Form eines Pflegegeldes zuerkannt worden sind und der mit dem angefochtenen Bescheid aufgehoben werden sollte, von Anfang an rechtswidrig gewesen ist. Ob dies der Fall war, dürfte allerdings fraglich sein, da die Klägerin zeitnah zur Bescheiderteilung im September 2005 von der Pflegefachkraft K des MDK begutachtet worden ist, die eine Pflegebedürftigkeit im Umfang der Pflegestufe I festgestellt hat, und das im erstinstanzliche Verfahren eingeholte Gutachten der Sachverständigen Dr. H vom November 2009, auf das sich das Sozialgericht maßgeblich bezieht, schon aufgrund des zeitlichen Abstandes zum Zeitpunkt der Bewilligung von Pflegeleistungen an die Klägerin ab dem 22. September 2005 nicht geeignet sein dürfte, die Rechtswidrigkeit der Bewilligung im Sinne des Vollbeweises belegen zu können. Hierauf und auf die Frage, ob sich die Rechtswidrigkeit der Bewilligung von Pflegeleistungen in Form eines Pflegegeldes zumindest daraus ergibt, dass die erforderliche Pflege möglicherweise nicht durch eine selbst beschaffte Pflegehilfe sichergestellt war (vgl. § 37 Abs. 1 Satz 2 des XI. Buches des Sozialgesetzbuches - SGB XI -), kommt es indes letztlich nicht an.

Zur Rechtswidrigkeit der auf § 45 SGB X gestützten Aufhebungsentscheidung vom 11. Juni 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Januar 2009 führt, dass die Beklagte das ihr insoweit zustehende Ermessen nicht ausgeübt hat. Vorliegend lässt sich dem angefochtenen Bescheid bereits nicht entnehmen, ob sich die Beklagte überhaupt bewusst gewesen ist, dass die Aufhebung der Bewilligung nach § 45 SGB X neben dem Vorliegen der
Tatbestandsvoraussetzungen auf Rechtsfolgenseite die Ausübung des ihr zustehenden Ermessen ("kann") erfordert ("Ob" der Ermessensausübung). Ein in diesem Sinne Ermessensausfall besteht, weil sich weder dem angefochtenen Bescheid vom 11. Juni 2008 noch in dem in Bezug genommenen Schreiben vom 13. Dezember 2007 Ausführungen zur Ermessensausübung entnehmen lassen. Gleiches gilt auch hinsichtlich der Ausführungen in dem Widerspruchsbescheid vom 14. Januar 2009. Soweit darin auf Seite 2 ausgeführt wird, die Klägerin hätte angesichts der gemachten Angaben nicht darauf vertrauen können, dass sie die Leistungen hätte behalten dürfen, wird lediglich dargelegt, weshalb die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 SGB X vorliegend gegeben sein sollen, d. h. weshalb ein Vertrauen auf den Bestand des Begünstigten unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Aufhebung der Bewilligung nicht schutzwürdig ist. Nichts anderes ergibt sich aus den Ausführungen auf Seite 3 des Widerspruchsbescheides. Soweit dort ausgeführt ist, dass bei einer Abwägung angesichts der bewussten Abgabe von Falschinformationen durch die Klägerin kein besonderer Grund gegeben sei, im Interesse der Versichertengemeinschaft auf die Rückforderung zu verzichten, wird letztlich ebenfalls lediglich dargelegt, weshalb aus Sicht der Beklagten die Tatbestandsvoraussetzungen des § 45 Abs. 2 SGB X gegeben sein sollen.

Ebenso wie ein Ermessensausfall vorliegt, fehlt es auch an der Begründung einer Ermessensentscheidung, mithin der erforderlichen und nachvollziehbaren Darlegung der Gründe, von denen sich die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens hat leiten lassen (§ 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X). Die nachträgliche Abgabe einer Begründung (vgl. § 41 Abs. 1 Nr. 2 i. v. m. Abs. 2 SGB X) war angesichts des vollständigen Ermessensausfalles dem Beklagten ohnehin verwehrt.

Eine wirksame Rechtsgrundlage findet der Bescheid auch nicht in § 48 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Satz 2 SGB X, weil auch eine Aufhebung der Bewilligung wegen veränderter Verhältnisse eine Ermessensentscheidung voraussetzen würde, wenn – wie hier – ein vergangener Zeitraum betroffen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe gem. § 160 Abs. 2 SGG nicht gegeben sind.
Rechtskraft
Aus
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