S 7 U 3373/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Reutlingen (BWB)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
7
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 7 U 3373/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ein Anspruch auf Neufestsetzung des Jahresarbeitsverdienstes nach § 90 Abs. 1 Satz 1 SGB VII besteht auch dann, wenn trotz des Arbeitsunfalls die Ausbildung abgeschlossen werden konnte. Der anders lautenden Auffassung des BSG (Urteil vom 18.09.2012 - B 2 U 11/11 R - SozR 4-2700 § 90 Nr. 2) wird nicht gefolgt.
Der Ausbildungsbegriff in § 90 Abs. 1 Satz 1 SGB VII ist aus dem Sinn der Vorschrift zu bestimmen. Die Inanspruchnahme der überwiegenden Arbeitszeit und Arbeitskraft des Versicherten ist dabei keine zwingende Voraussetzung. Es kommt vielmehr darauf an, dass die Ausbildung ernsthaft mit dem Ziel, den Abschluss zu erreichen, kontinuierlich betrieben wird.
Zu den Voraussetzungen für die Anerkennung einer Ausbildung (Studium), die neben dem Beruf eines Profihandballers betrieben wird.
1. Der Bescheid der Beklagten vom 08.06.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.10.2011 (betreffend den Arbeitsunfall vom 02.03.2005) wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, ab Januar 2011 den Jahresarbeitsverdienst unter Abänderung des Bescheides vom 10.11.2010 gemäß § 90 Abs. 1 SGB VII neu festzustellen. 2. Der Bescheid der Beklagten vom 08.06.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.10.2011 (betreffend den Arbeitsunfall vom 10.12.2008) wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, ab Januar 2011 den Jahresarbeitsverdienst unter Abänderung des Bescheides vom 10.11.2010 gemäß § 90 Abs. 1 SGB VII neu festzustellen. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darum, ob die Jahresarbeitsverdienste, die der Berechnung zweier Verletztenrenten zugrunde liegen, neu zu berechnen sind.

Der im ... geborene Kläger war ab der Saison 2001/2002 Berufshandballer beim damaligen Zweitligisten ... Zur Saison 2005/2006 wechselte er zur ... und stieg mit dieser Mannschaft in derselben Saison in die 1. Liga auf. Er beendete seine Karriere mit der Saison 2011/2012, wobei er stets mit der ... in der 1. Liga blieb. Seit der Saison 2012/2013 ist er Trainer des nunmehrigen Handball-Zweitligisten.

Zum Wintersemester 2001/2001 nahm der Kläger ein Studium zum Diplom-Sportwissenschaftler an der Universität ... auf. Das Regelstudium umfasste acht Semester und beinhaltete wegen des Studienschwerpunktes "Management im Leistungs- und Wettkampfsport" auch ein zweimonatiges Praktikum bei der Firma., das der Kläger im April und Mai 2008 absolvierte. Die Anmeldung zur Diplomprüfung erfolgte am 18.12.2009, die Abgabe der Arbeit am 04.06.2010. Die Diplomprüfung wurde schließlich abgelegt am 08.12.2010.

Am 02.03.2005 erlitt der Kläger während eines Handballspiels einen dislozierten Bruch der Elle links, den die Beklagte als Arbeitsunfall anerkannte. Ab dem 02.04.2005 bestand wieder Arbeitsfähigkeit. Von einer rentenberechtigenden Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) gingen die behandelnden Ärzte und die Beklagte nicht aus.

Am 10.12.2008 zog sich der Kläger einen Riss der vorbestehenden Kreuzbandersatzplastik des vorderen Kreuzbandes im rechten Kniegelenk zu. Nach längerer Rehabilitation war der Kläger ab 17.07.2009 als Handballspieler wieder einsatzfähig. Die Beklagte erkannte auch diesen Unfall als Arbeitsunfall an.

Mit Bescheiden vom 10.11.2010 bewilligte die Beklagte für beide Unfälle jeweils ab 15.07.2010 Verletztenrente nach einer MdE von 10 v.H. Für den Unfall vom 02.03.2005 ergab sich aufgrund einer Auskunft der ... ein Jahresarbeitsverdienst von 7.069 EUR, den die Beklagte gem. § 85 Abs. 1 Nr. 2 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) auf den Mindestjahresarbeitsverdienst erhöhte. Für den Unfall vom 10.12.2008 ergab sich auf der Grundlage einer Auskunft der ... ein Jahresarbeitsverdienst von 23.344,33 EUR, den die Beklagte der Berechnung der Rente zugrunde legte. Beide Bescheide wurden bindend.

Am 14.12.2010 beantragte der Kläger mit Blick auf den kurz zuvor erfolgten Abschluss seines Studiums die Neufeststellung der Jahresarbeitsverdienste gem. § 90 Abs. 1 SGB VII. Die Beklagte lehnte dies mit Bescheiden jeweils vom 08.06.2011 ab. Das Studium habe die Arbeitskraft und Arbeitszeit des Klägers nicht überwiegend in Anspruch genommen und sei deshalb nicht als Ausbildung im Sinne des § 90 SGB VII zu berücksichtigen. Die Tätigkeit als Profihandballer habe seine weit überwiegende Arbeitskraft gebunden.

Nach erfolglosen Widersprüchen (Widerspruchsbescheide der Beklagten jeweils vom 27.10.2011) hat der Kläger in beiden Fällen am 25.11.2011 zum Sozialgericht Reutlingen Klage erhoben (Az.: S 7 U 3373/11 und S 7 U 3374/11). Der Gericht hat die Verfahren mit Beschluss vom 28. Oktober 2013 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

Der Kläger trägt vor, dass der Begriff der Berufsausbildung in § 90 Abs. 1 SGB VII selbst nicht definiert sei. Seine Bedeutung müsse aus dem Wortlaut, dem systematischen Zusammenhang und dem Sinn und Zweck der Regelung erschlossen werden. Die Regelstudienzeit sei nicht gleichzusetzen mit der Semesterzahl, in der der durchschnittliche Studierende den Studiengang erfolgreich absolviere. Sie beschreibe vielmehr die Anzahl an Semestern, in denen ein Studiengang bei zügigem und intensivem Studium absolviert werden könne. Aufgrund seiner Arbeitsunfälle sei es ihm nicht möglich gewesen, die Prüfungen zügig zu absolvieren. Zudem habe sich an den Arbeitsunfall vom 10.12.2008 eine lange und zeitintensive Heil- und Rehabilitationsbehandlung angeschlossen, die nicht nur die Ablegung der praktischen Prüfungen erschwert, sondern sich generell nachteilig auf die Durchführung des Studiums ausgewirkt habe. § 90 Abs. 1 SGB VII bleibe auch anwendbar, wenn die Ausbildung trotz des Versicherungsfalles nicht abgebrochen oder verzögert worden sei.

Der Kläger beantragt,

1. den Bescheid der Beklagten vom 08.06.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.10.2011 (betreffend den Arbeitsunfall vom 02.03.2005) aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, unter Abänderung des Bescheides vom 10.11.2010 den Jahresarbeitsverdienst ab Januar 2011 gemäß § 90 Abs. 1 SGB VII neu festzustellen, 2. den Bescheid der Beklagten vom 08.06.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.10.2011 (betreffend den Arbeitsunfall vom 10.12.2008) aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, unter Abänderung des Bescheides vom 10.11.2010 den Jahresarbeitsverdienst ab Januar 2011 gemäß § 90 Abs. 1 SGB VII neu festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klagen abzuweisen.

Voraussetzung für die Anwendung des § 90 Abs. 1 SGB VII sei die überwiegende Inanspruchnahme der Zeit und Arbeitskraft für die Schul- oder Berufsausbildung. Dies sei dann der Fall, wenn durch die Ausbildung die Zeit und Arbeitskraft des Betreffenden mehr als 28 Stunden pro Woche in Anspruch genommen werde (Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 25.11.1976 - 11 RA 146/75 -). Die Intention des Gesetzgebers liege offensichtlich darin, diejenigen Versicherten zu entschädigen, deren bereits eingeschlagene und zielstrebig verfolgte berufliche Laufbahn durch den Versicherungsfall unterbrochen worden sei. Bei dem Kläger sei dies nicht der Fall. Gerade dass der Kläger mit der Diplomabschlussnote "sehr gut" abgeschlossen habe, zeige, dass die extrem lange Dauer des Studiums (18 Semester statt 8 Semester) nicht auf mangelnde intellektuelle Fähigkeiten zurückzuführen sei, sondern einzig und allein auf den Umstand, dass der Kläger nicht den erforderlichen Zeitaufwand habe betreiben können, um das Studium in der Regelstudienzeit oder einer geringfügigen Überschreitung dieser Regelstudienzeit zu beenden. Hierfür sei seine Tätigkeit als Handballspieler ursächlich gewesen.

Das Gericht hat den Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 28.10.2013 zum Sachverhalt persönlich angehört. Wegen des Ergebnisses der persönlichen Anhörung des Klägers wird auf die Niederschrift vom 28.10.2013 verwiesen.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen, insbesondere wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der vom Kläger vorgelegten Studienunterlagen, wird verwiesen auf die Gerichtsakten (S 7 U 3373/11 und S 7 U 3374/11) und die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung der Kammer gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die Klagen sind begründet. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten vom 08.06.2011 (jeweils in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 27.10.2011) sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf Neufestsetzung der der Berechnung seiner Verletztenrente zugrunde liegenden Jahresarbeitsverdienste ab Januar 2011. Die diesen Verletztenrenten zugrunde liegenden Bewilligungsbescheide vom 10.11.2010 sind jeweils gem. § 48 Abs. 1 S. 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) zu ändern.

Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben (§ 48 Abs. 1 S. 1 SGB X). Diese Voraussetzungen liegen hier vor, weil mit dem Abschluss des Studiums des Klägers im Dezember 2010 eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten ist, die einen Anspruch auf Neufestsetzung des Jahresarbeitsverdienstes gem. § 90 Abs. 1 SGB VII auslöste. Die Neufeststellung der Renten hat dabei ab dem Folgemonat nach Abschluss des Studiums, also ab Januar 2011, zu erfolgen (§ 73 Abs. 1 SGB VII).

Die Voraussetzungen für die Anwendung des § 90 Abs. 1 S. 1 SGB VII liegen vor. Nach dieser Norm wird der Jahresarbeitsverdienst, wenn es für den Versicherten günstiger ist, von dem Zeitpunkt an neu festgesetzt, in dem die Ausbildung ohne den Versicherungsfall voraussichtlich beendet worden wäre, wenn der Versicherungsfall vor Beginn der Schulausbildung oder während einer Schul- oder Berufsausbildung eingetreten ist.

Der Kläger hat die Unfälle vom 02.03.2005 und 10.12.2008 während seiner Berufsausbildung (Studium der Sportwissenschaften) erlitten. Der Begriff der Berufsausbildung wird in § 90 Abs. 1 S. 1 SGB VII selbst nicht definiert. Der Anwendungsbereich des § 90 SGB VII ist aber weiter als der des Berufsbildungsgesetzes und erstreckt sich auf Bereiche der beruflichen Bildung, für die dieses Gesetz nicht oder nur eingeschränkt gilt, wie etwa die Hochschulausbildung oder die Ausbildung in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis oder in einem Handwerksberuf (vgl. BSG, Urteil vom 07.02.2006 - B 2 U 3/05 R - SozR 4-2700 § 90 Nr. 1 m.w.N.; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 90 SGB VII, Anm. 5.5). Zwischen den Beteiligten ist die Tatsache, dass es sich beim Studium des Klägers um eine Ausbildung im Sinne des § 90 Abs. 1 SGB VII gehandelt hat, nicht umstritten.

Das Gericht konnte sich nicht davon überzeugen, dass die Arbeitsunfälle vom 02.03.2005 und 10.12.2008 den Abschluss des Studiums des Klägers verzögert haben. Vielmehr spricht - in Übereinstimmung mit dem Vorbringen der Beklagten - alles dafür, dass die erhebliche Dauer des Studiums auf der gleichzeitig ausgeübten Beschäftigung als Berufshandballer beruht.

Diese Einschätzung des Gerichts (§ 128 Abs. 1 S. 1 SGG) beruht auf einer Gesamtsicht der Aktenunterlagen, insbesondere derjenigen zu den medizinischen Folgen der Arbeitsunfälle und den Informationen zum Studium, ferner auf den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 28.10.2013. Für das Unfallereignis vom 02.03.2005 macht der Kläger inzwischen selbst eine Verzögerung seines Studiums nicht mehr geltend. Insoweit besteht Übereinstimmung mit seinem schriftlichen Vorbringen im Verwaltungsverfahren vom 21.05.2011, wonach die Dauer des Studiums bzw. die Verzögerung keine Ursache in den Folgen der Unfälle habe (Bl. 312 der Verwaltungsakte zum Aktenzeichen 0703082-3847216). Aber auch soweit der Kläger (offenbar unter dem Eindruck der Entscheidung des BSG vom 18.09.2012 - B 2 U 11/11 R - SozR 4-2700 § 90 Nr. 2) seinen Vortrag geändert hat und nunmehr eine Verzögerung des Studienabschlusses durch die Folgen des Unfalls vom 10.12.2008 geltend macht, kann sich die Kammer nicht davon überzeugen, dass tatsächlich eine Verzögerung vorgelegen hat. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass die Angaben des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung bezüglich der Schwierigkeiten der Datenerhebung für seine Diplomarbeit nachvollziehbar sind und dass sich an den Unfall eine länger dauernde Rehabilitationsphase (Physiotherapie) anschloss. Demgegenüber kann aber nicht außer Betracht bleiben, dass der Kläger nach dem Unfall vom 10.12.2008 von seinem Verpflichtungen als Berufshandballer komplett freigestellt war und entsprechend die frei werdenden Zeiten für sein Studium einsetzen konnte. Bestätigt wird diese Sicht der Dinge in dem unfallchirurgischen Gutachten der vom 12.06.2009 (Bl. 168 ff. der Akte 0703082-3847216), wonach die Arbeitsfähigkeit als Student bereits sechs Wochen nach dem Operationszeitpunkt wieder gegeben gewesen sei. Als Berufshandballer war der Kläger hingegen erst am 17.07.2009 wieder einsetzbar. Angesichts dessen mag zwar die intensive Rehabilitation einen Teil der durch den Wegfall der Verpflichtungen als Berufshandballer frei werdenden Zeiten wieder aufgewogen haben, es ist aber insgesamt nicht nachzuvollziehen, dass der Kläger während seiner Rehabilitationszeiten an einer Fortsetzung seiner Hochschulausbildung gehindert gewesen wäre bzw. frei werdende Zeiten aus dem Wegfall der Belastungen als Handballer nicht für sein Studium hätte verwenden können. Insoweit wird auch nochmals auf die von ihm zunächst selbst abgegebene Erklärung vom 21.05.2011 verwiesen.

Das Gericht geht gleichwohl von der Anwendbarkeit des § 90 Abs. 1 SGB VII auf den vorliegenden Fall aus. Das BSG hat mit Urteil vom 18.09.2012 (a.a.O.) in Abkehr von der früheren jahrzehntelangen Rechtsprechung (vgl. z.B. Urteil vom 07.11.2000 - B 2 U 31/99 R - SozR 3-2700 § 90 Nr. 1 und Urteil vom 15.06.1983 - SozR 2200 § 573 Nr. 11 - SozR 2200 § 573 Nr. 11 zur Vorgängervorschrift § 573 Reichsversicherungsordnung (RVO)) und der entsprechenden herrschenden Meinung in der unfallversicherungsrechtlichen Literatur (vgl. z. B. Burchardt in: Krasney/Burchardt/ Kruschinsky/Becker, Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII), § 90 Rdnr. 18a; Becker in LPK-SGB VII, 3. Auflage, § 90 Rdnr. 5) entschieden, dass § 90 Abs. 1 SGB VII nur dann Anwendung finden könne, wenn sich die Ausbildung verzögert habe oder aus gegebenenfalls sonstigen Gründen nicht beendet wurde. Der Wortlaut der Vorschrift lasse anderes nicht zu, die Analogie wie nach früherem Recht sei nicht (mehr) zulässig, nachdem der Gesetzgeber des SGB VII den Wortlaut des früheren § 573 RVO insoweit übernommen habe und allein der (typisierte) Schaden aufgrund der ausbleibenden oder verzögerten Beendigung der Ausbildung die günstigere Neufeststellung rechtfertigte.

Die Kammer vermag dieser Auffassung in Übereinstimmung mit Ricke (Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 78. Ergänzungslieferung 2013, § 90 SGB VII, Rdnr. 3c) und Keller (Hauck/Noftz, SGB VII Gesetzliche Unfallversicherung, § 90 Rdnr. 9a) nicht zu folgen. Der Passus in § 90 Abs. 1 SGB VII "voraussichtlich beendet worden wäre" bezieht sich eindeutig auf die Festlegung des den Jahresarbeitsverdienst bestimmenden Zeitpunkts und kann deswegen nicht im Sinne einer selbstständigen Tatbestandsvoraussetzung des Abbruchs oder der Verlängerung der Ausbildung gedeutet werden. Auch der Sinn des Gesetzes spricht nicht für die Auffassung des BSG. Einen durch Versicherungsfall bedingten Schaden haben alle Versicherten, die ausbildungsbedingt einen niedrigen Jahresarbeitsverdienst haben. Das Abstellen auf einen Abbruchs- oder Verzögerungsschaden wie er vom BSG gefordert wird, ist deshalb auch systematisch verfehlt. Ein solcher Schaden besteht nämlich darin, dass das sonst gezahlte höhere Entgelt nach Ausbildungsende erst verspätet oder nie erreicht wird. Das aber ist ein konkreter Schaden, der für § 90 irrelevant ist, weil diese Norm dem in der gesetzlichen Unfallversicherung allgemein geltenden Prinzip der abstrakten Schadensberechnung verhaftet ist, es also nicht darauf ankommt, dass der Versicherte tatsächlich einen Minderverdienst hat. Denn in der gesetzlichen Unfallversicherung richtet sich die Entschädigung nicht nach der Minderung des Erwerbseinkommens, sondern nach der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Auch § 90 SGB VII weicht von diesem Prinzip nicht ab (vgl. ausführlich BSG, Urteil vom 07.11.2000, a.a.O.). Die bisherige vom BSG nun abgelehnte Auslegung des § 90 Abs. 1 SGB VII bzw. der Vorgängervorschrift des § 573 Abs. 1 RVO beruhte auch nicht auf einer Analogie, sondern immer auf einer noch dem Wortlaut entsprechenden Auslegung in Verbindung mit dem Sinn des Gesetzes, wobei es allenfalls hieß, dass der Wortlaut nicht eindeutig sei (vgl. BSG, a.a.O.). Daher hatte der Gesetzgeber auch keinen Anlass, bei der Einführung des SGB VII, den Wortlaut zu ändern und er hat ausdrücklich vermerkt, dass § 90 im Wesentlichen dem geltenden Recht entspreche (Gesetzesbegründung BT-Drucks. 13/2204 S. 96). Die nun vom BSG geforderte Auslegung des Gesetzes ist darüber hinaus unter Gleichheitsgesichtspunkten bedenklich (Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes). Denn ist kein rechtfertigender Grund ersichtlich, einem Versicherten mit verzögerter Ausbildung durch die fiktive Vorverlegung des Ausbildungsendes einen vollen Ausgleich zu gewähren, einem Versicherten ohne verzögerte Ausbildung die Neufestsetzung jedoch zu verweigern. Denn in beiden Fällen ist die Ausgangsposition der Betroffenen insoweit gleich, dass sie aufgrund der Ausbildungssituation zunächst nur einen niedrigen Jahresarbeitsverdienst haben. Es ist kein rechtfertigender Gesichtspunkt erkennbar, weshalb ein Versicherter sein Leben lang auf diesen niedrigen Jahresarbeitsverdienst festgehalten werden sollte, wenn es ihm trotz des Arbeitsunfalls gelingt, die Ausbildung abzuschließen.

Die Kammer legt damit § 90 Abs. 1 S. 1 SGB VI weiterhin in Übereinstimmung mit der früheren Rechtsprechung des BSG (a.a.O.) aus und sieht die Vorschrift auf den Fall des Klägers für anwendbar an, obwohl dieser die Berufsausbildung letztlich ohne unfallbedingte Verzögerung abgeschlossen hat.

Das Gericht stimmt der Auffassung der Beklagten zu, dass das Studium die Arbeitszeit und Arbeitskraft des Klägers im Verhältnis zur Ausübung des Profisports nicht überwiegend in Anspruch genommen hat. Dafür war - insbesondere als Erstligaspieler - die Belastung aus Training, Spielbetrieb, Auswärtsreisen und Marketing- bzw. Sponsorterminen viel zu intensiv (vgl. auch die Auskunft der ... vom 14.09.2011 - Bl. 372 der Verwaltungsakte zum Aktenzeichen 0703082-3847216 -). Jedoch kann die Kammer der Auffassung der Beklagten nicht folgen, die Anerkennung einer Ausbildung im Sinne des § 90 Abs. 1 S. 1 SGB VII setze stets voraus, dass diese Ausbildung die Arbeitszeit und Arbeitskraft des Versicherten überwiegend in Anspruch genommen habe. Ein solches Tatbestandsmerkmal gibt es in § 90 Abs. 1 S. 1 SGB VI nicht (ebenso wenig existierte es in der Vorgängervorschrift des § 573 Abs. 1 RVO). Richtig ist zwar, dass in der unfallversicherungsrechtlichen Literatur überwiegend ein solches Kriterium gefordert wird (vgl. Bereiter-Hahn/Mehrtens, a.a.O., Anm. 5.7; Keller, a.a.O., § 90 Rdnr. 6; Burchardt, a.a.O., Rdnr. 16 unter Hinweis auf das Urteil des BSG zur Waisenrente vom 20.03.1973 - 8/2 RU 137/72 - (juris)). Die Beklagte verkennt jedoch, dass das Kriterium der überwiegend Inanspruchnahme der Arbeitskraft und Arbeitszeit des Versicherten nur gewährleisten soll, dass "Scheinausbildungen" von der Anwendbarkeit der Norm ausgeschlossen bleiben (vgl. zur Waisenrente in der gesetzlichen Unfallversicherung, BSG, Urteil vom 27.01.1976 - 8 RU 2/75 - (juris)). Nach der Zweckbestimmung des § 90 Abs. 1 SGB VI sollen - ebenso wie bei der Vorgängervorschrift des § 573 RVO - Personen, die schon vor oder während der Zeit der Ausbildung für einen Beruf einen Arbeitsunfall erleiden und deshalb im Jahr vor dem Unfall regelmäßig noch nicht das volle Arbeitsentgelt erzielt haben, zur Vermeidung von Härten geschützt und so gestellt werden, als hätten sie den Unfall nach der voraussichtlichen Beendigung der Berufsausbildung erlitten (vgl. BSG, Urteil vom 04.12.1991 - 2 RU 69/90 - (juris)). Der Begriff der Berufsausbildung in § 90 Abs. 1 ist ein eigenständiger Begriff. Bei der Auslegung des Begriffs ist entscheidend auf den Sinn des Gesetzes abzustellen (vgl. Burchardt, a.a.O., Rdnr. 12). Daher kann bei der Auslegung auf die aus anderen Bereichen des Sozialrechts geläufigen Begriffsbestimmungen nicht ohne Weiteres zurückgegriffen werden (BSG, Urteil vom 07.02.2006, a.a.O.). Der Gesichtspunkt der überwiegenden Inanspruchnahme der Arbeitszeit und Arbeitskraft bzw. der Hinweis auf § 67 Abs. 2 S. 2 SGB VII (mehr als 20 Stunden wöchentliche Inanspruchnahme für eine Schul- oder Berufsausbildung als Voraussetzung für die Waisenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung) dienen im Rahmen des § 90 Abs. 1 SGB VII lediglich als Indiz für das Vorliegen einer (ernst gemeinten) Ausbildung. Liegen - wie hier - andere ausreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass der Versicherte in einer tatsächlichen Ausbildungssituation war, so hat er Anspruch auf den Ausgleich nach § 90 Abs. 1 SGB VI. Nur dadurch können die Härten vermieden werden, die mit dem auf dem Zeitpunkt des Eintritts des Unfalls verbundenen niedrigen Jahresarbeitsverdienstes verbunden sind. Im Falle des Klägers stand von vornherein fest, dass er als Berufssportler nur eine begrenzte Zeit würde erwerbstätig sein können. Seine Entscheidung trotz Berufssports eine Berufsausbildung zu absolvieren war zukunftsorientiert und sinnvoll. Von einer Scheinausbildung kann nicht einmal ansatzweise die Rede sein, auch wenn der Berufssport die überwiegende Arbeitskraft des Klägers in Anspruch genommen hat. Auch die relativ geringen Entgelte aus der Tätigkeit als Profihandballer (vgl. die von den Vereinen angegebenen Verdienste in den Jahren vor den Unfällen) sprechen dafür, von einer typischen Härtefallsituation auszugehen wie sie gerade von § 90 Abs. 1 SGB VII ausgeglichen werden soll. Sie belegen zusätzlich, dass eine Berufsausbildung sinnvoll und notwendig war, um nach Ende der Karriere den Lebensunterhalt sicher stellen zu können.

Aus den vorgelegten Studienunterlagen ergibt sich zudem, dass der Kläger das Studium kontinuierlich und fortlaufend betrieben hat. Insofern war die Berufsausbildung für den Kläger trotz seiner jahrelangen Inanspruchnahme als Berufssportler von erheblicher Bedeutung. Das Handballspielen sorgte letztlich dafür, dass der Kläger sein Studium finanzieren konnte (vgl. Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 28.10.2013).

Der Kläger erfüllt nach alledem vollumfänglich den Tatbestand des § 90 Abs. 1 S. 1 SGB VII, so dass wie aus dem Tenor ersichtlich zu entscheiden war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Eine Entscheidung über die Zulassung der Berufung brauchte die Kammer nicht zu treffen, weil Berufungsbeschränkungsgründe im Sinne des § 144 Abs. 1 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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