L 9 AL 77/12

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 12 AL 556/11
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 AL 77/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zum Anspruch einer in den Niederlanden wohnenden Grenzgängerin, die gleichzeitig auch Grenzwohnerin ist, auf Arbeitslosengeld nach dem SGB III.
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Duisburg vom 27.02.2012 abgeändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 30.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.10.2011 verurteilt, der Klägerin Arbeitslosengeld in der Zeit vom 01.07.2011 bis 29.02.2012 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu bewilligen. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Arbeitslosengeld ab dem 01.07.2011. Streitig ist, ob die in den Niederlanden wohnende Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland einen Arbeitslosengeldanspruch erworben hat.

Die am 00.00.1976 geborene Klägerin meldete sich am 01.07.2011 bei der Beklagten, Geschäftsstelle F. der Agentur für Arbeit L., arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld. Sie gab als Wohnort an "Q.-Str. 00, AH T1." (Niederlande). Die Entfernung zwischen T1./NL und F. beträgt ca. 6,9 km und ist mit dem PKW innerhalb von ca. 13 Minuten zu bewältigen, zwischen T1. und L. ca. 18 km bei einer Fahrtzeit von ca. 25 Minuten. Im Antrag auf Arbeitslosengeld gab die Klägerin an, dass sie alle Möglichkeiten nutzen werde, um ihre Beschäftigungslosigkeit zu beenden. Sie wolle jedoch höchstens 24 Stunden wöchentlich an drei Tagen arbeiten.

Zuvor, in der Zeit vom 16.08.2001 bis zum 30.06.2011, übte die Klägerin als kaufmännische Angestellte eine versicherungspflichtige Beschäftigung in F. aus, zuletzt mit einen Brutto-Arbeitsentgelt in Höhe von 1.630,00 EUR. Ausweislich der Arbeitsbescheinigung der Firma P.G. L1. Import-Export GmbH F.h vom 05.04.2011 lagen zudem folgende Unterbrechungszeiten vor:

25.09.2008 bis 06.01.2009 Mutterschaft
07.01.2009 bis 01.11.2009 Elternzeit
16.02.2010 bis 25.05.2010 Mutterschaft
26.05.2010 bis 17.03.2011 Elternzeit.

Mit Bescheid vom 30.08.2011 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin mit der Begründung ab, nach Artikel 65 Abs. 2 VO EG 883/2004 sei für eine vollarbeitslose Person der Mitgliedsstaat zuständig, in dem diese Person wohne. Die Klägerin habe ihren Wohnsitz in den Niederlanden, daher seien die Niederlande der für sie zuständige Wohnmitgliedsstaat. Auch nach § 327 Abs. 1 des Sozialgesetzbuches Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III) komme es für die Zuständigkeit der Agentur für Arbeit darauf an, wo der Arbeitnehmer bei Eintritt der leistungsbegründenden Tatbestände seinen Wohnsitz habe. Einen Anspruch auf Arbeitslosengeld in Deutschland habe die Klägerin daher nicht.

Gegen den Bescheid legte die Klägerin am 08.09.2011 Widerspruch ein und wies darauf hin, dass sie sich bei Bekanntgabe ihrer bevorstehenden Arbeitslosigkeit direkt in ihrem Wohnstaat arbeitslos gemeldet und für den Bezug von Arbeitslosengeld habe eintragen lassen. Sie habe jedoch mit Bescheid der UWV (Anm.: Uitvoeringsinstituut Werknemersverzekeringen = [ niederländische] Ausführungsbehörde für Arbeitnehmerversicherungen) vom 22.07.2011 eine Ablehnung erhalten, da sie nach Aussage der UWV nicht die geforderten 26 Wochen gearbeitet habe. Die Elternzeit werde in den Niederlanden nicht berücksichtigt. Von der Agentur für Arbeit in F. habe sie den Rat erhalten, Arbeitslosengeld in Deutschland zu beantragen. Sie habe bisher immer in Deutschland gearbeitet und in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt und verstehe jetzt nicht, dass sie jetzt keinen Anspruch geltend machen könne. Den entsprechenden Bescheid der UWV vom 22.07.2011 legte die Klägerin vor.

Mit Widerspruchsbescheid vom 18.10.2011 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass nach Artikel 65 Abs. 2 VO EG 883/2004 für die Gewährung von Leistungen im Falle der Vollarbeitslosigkeit immer das Wohnsitzland zuständig sei. Diese Regelung sei eindeutig und könne nicht durchbrochen werden. Die Tatsache, dass der niederländische Sozialversicherungsträger keine Leistungen erbringe, weil die dortigen Voraussetzungen nicht erfüllt seien, ändere daran nichts, denn dadurch könne sich keine Verpflichtung für die deutsche Arbeitsverwaltung zur Zahlung von Arbeitslosengeld ergeben.

Hiergegen hat die Klägerin am 09.11.2011 Klage bei dem Sozialgericht Duisburg erhoben.

Sie hat die Auffassung vertreten, dass die Beklagte die tatsächlichen Umstände und die sich daraus ergebenden rechtlichen Konsequenzen verkenne. Sie habe bis zuletzt (30.06.2011) bei einer deutschen Firma in F. gearbeitet, sämtliche Beiträge zur Arbeitslosenversicherung an die Beklagte abgeführt und deshalb grundsätzlich einen Anspruch auf Arbeitslosengeld gehabt. Sie sei Grenzgängerin und wohne keine 3 km von der deutsch-niederländischen Grenze entfernt. Auch die übrigen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld erfülle sie; insbesondere habe sie sich ausdrücklich bereit erklärt, sich für den deutschen Arbeitsmarkt vermitteln zu lassen, und ihr Wohnort sei auch ohne Weiteres geeignet, die Voraussetzungen der ErreichbarkeitsAO zu erfüllen. Im Übrigen regele Artikel 65 Abs. 2 VO EG 883/2004 allein, dass eine vollarbeitslose Person sich der Arbeitsverwaltung des Wohnmitgliedsstaates zur Verfügung stellen müsse. Die Vorschrift treffe noch keine Aussage über die Gewährung von Leistungen. Auch sehe diese Vorschrift vor, dass vollarbeitslose Personen auch die Möglichkeit haben, sich zusätzlich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaates zur Verfügung zu stellen, in dem sie zuletzt eine Beschäftigung ausgeübt haben. Dies habe sie - die Klägerin - getan.

Die Klägerin hat schriftsätzlich beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 30.08.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.10.2011 zu verurteilen, ihr Arbeitslosengeld ab 01.07.2011 zu bewilligen.

Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid Bezug genommen und ergänzend darauf hingewiesen, dass nach Artikel 65 Abs. 2 VO EG 883/2004 der Wohnsitzstaat auch zuständig für die Gewährung von Leistungen sei. Es komme nicht darauf an, in welcher Entfernung zur niederländisch-deutschen Grenze die Klägerin wohne. Auch komme es nicht darauf an, aus welchen Gründen, hier Nichterfüllung der erforderlichen Vorbeschäftigungszeiten, der niederländische Versicherungsträger keine Leistungen erbringe.

Mit Richterbrief vom 04.01.2012 hat das Sozialgericht den Beteiligten mitgeteilt, dass es eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid gemäß § 105 des Sozialgerichtsgesetzes - (SGG) beabsichtige und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme binnen 4 Wochen gegeben.

Sodann hat das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 27.02.2012 die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen das Folgende ausgeführt:

Die Klage sei unbegründet. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld ab 01.07.2011 gegen die Beklagte. Diese habe in den angefochtenen Bescheiden zutreffend darauf abgestellt, dass nach Art. 65 Abs. 2 VO EG 883/2004 der Mitgliedsstaat zuständig sei, in dem die Klägerin wohne. Sie habe ihren Wohnsitz in den Niederlanden, daher seien die Niederlande der für die Klägerin zuständige Wohnmitgliedsstaat. Art. 65 Abs. 2 Satz 1 VO EG 883/2004 enthalte eine Sonderregelung für Grenzgänger, für die Wohnstaat und Beschäftigungsstaat nicht identisch seien. Die Klägerin sei echte Grenzgängerin, die täglich von ihrem Wohnstaat Niederlande zum Beschäftigungsstaat Bundesrepublik Deutschland und zurück gependelt sei. Für diesen Personenkreis regele Art. 65 Abs. 2 i.V.m. Abs. 5a VO EG 883/2004, dass der Wohnstaat zuständiger Leistungsträger sei. Die in Art. 65 Abs. 2 Satz 1 genannten Arbeitslosen erhielten Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates, als ob diese Rechtsvorschriften für sie während ihrer letzten Beschäftigung gegolten hätten. Diese Leistungen würden von dem Träger des Wohnortes gewährt.

Gegen diesen ihr am 05.03.2012 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich die Klägerin mit der am 28.03.2012 eingelegten Berufung.

Zur Begründung wiederholt sie im Wesentlichen ihr Vorbringen im Klageverfahren. Darüber hinaus macht sie geltend, dass sie angesichts der Tatsache, dass sie ihr ganzes Arbeitsleben lang Beiträge zur Arbeitslosenversicherung geleistet habe, vor dem Hintergrund der Koordinierungsbemühungen der EG zur sozialen Sicherheit gegenüber anderen Beitragszahlern, die ihren Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland haben, nicht schlechter gestellt werden dürfe. Dies müsse auch unter dem Gesichtspunkt gelten, dass das niederländische Arbeitsamt den Anspruch auf Arbeitslosengeld deswegen zurückgewiesen habe, weil dort das Elternjahr nicht angerechnet werde und sie nach niederländischem Recht die geforderten 26 Wochen Beschäftigungszeit daher nicht erfüllt habe. Dagegen hätte sie nach dem SGB III einen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Demnach stellten die Entscheidungen der beteiligten Sozialversicherungsträger eine Ungleichbehandlung dar, welche alleine auf ihre Elternzeit zurückzuführen sei. Im Übrigen verbleibe sie bei ihrem Rechtsstandpunkt, dass die Regelung des Art. 65 Abs. 2 VO EG 883/2004 einer Leistungsgewährung durch den Träger der Arbeitslosenversicherung des Beschäftigungsstaates nicht entgegenstehe.

Seit dem 01.03.2012 ist die Klägerin wieder beschäftigt.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Duisburg vom 27.02.2012 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 30.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.10.2011 zu verurteilen, ihr Arbeitslosengeld für die Zeit vom 01.07.2011 bis 29.02.2012 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist auf die Ausführungen im angefochtenen Gerichtsbescheid. Die Berufungsbegründung enthalte keine Ausführungen, die nicht schon im Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berücksichtigung gefunden hätten. Es sei weiterhin unerheblich, wie weit die Klägerin von der deutsch-niederländischen Grenze entfernt wohne, da gemäß Art. 65 Abs. 2 VO EG 883/04 die Arbeitsverwaltung des Wohnstaates zuständig sei und die Klägerin ihren Wohnsitz eindeutig in den Niederlanden habe. Zwar sei es der Klägerin möglich, sich der deutschen Arbeitsverwaltung für die Vermittlung einer Tätigkeit zur Verfügung zu stellen (Hinweis auf Art. 65 Abs. 2 Satz 2 VO EG 883/04). Dies ermögliche jedoch keine Leistungsgewährung nach deutschem Recht, da gemäß Art. 11 Abs. 1 VO EG 883/04 nur die Rechtsanwendung der Regelungen eines Mitgliedsstaates möglich sei. Hier trete eine Entkoppelung des leistungsrechtlichen Aspekts der "Zurverfügungstellung" hinsichtlich der Arbeitssuche vom Aspekt der Erlangung einer neuen Tätigkeit ein. Auch im Erwägungsgrund 13 zu VO EG 987/09 werde ausdrücklich dargelegt, dass selbst dann, wenn sich eine arbeitslose Person der Vermittlung eines anderen Mitgliedstaates zur Verfügung stellt, Leistungen alleine im Wohnmitgliedsstaat beansprucht werden könnten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Duisburg ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 30.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.10.2011 ist rechtswidrig und beschwert die Klägerin daher i.S.d. § 54 Abs. 2 SGG. Sie hat gegen die Beklagte dem Grunde nach einen Anspruch auf Bewilligung von Arbeitslosengeld in der Zeit vom 01.07.2011 bis 29.02.2012.

1.) Der Anspruch scheitert nicht bereits an § 30 Abs. 1 des Sozialgesetzbuches Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I), wonach die Vorschriften des SGB auf Personen begrenzt sind, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Geltungsbereich haben (Territorialitätsprinzip). Dieser grundsätzlich auf das Inland beschränkte Anwendungsbereich gilt nach Maßgabe der §§ 3 Abs. 2 Nr. 4 SGB I, 117 ff. SGB III (in der bis zum 31.03.2012 geltenden Fassung, nachfolgend a.F., ab dem 01.04.2012 §§ 136 ff. SGB III) auch für die Arbeitslosenversicherung (vgl. zuletzt BSG, Urteil vom 06.03.2013 - B 11 AL 5/12 R - Juris). Die Klägerin hatte im maßgeblichen Zeitpunkt der Antragstellung bzw. Arbeitslosmeldung ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in den Niederlanden und nicht in Deutschland, was auch noch gegenwärtiger Sachstand ist. Sie hat jedoch einen grenznahen Auslandswohnsitz (ca. 3 km von der deutsch-niederländischen Grenze) und war ausschließlich in Deutschland (F.) beschäftigt und beitragspflichtig. Sie war und ist somit Grenzgängerin und Grenzwohnerin. Nach der Rechtsprechung des BVerfG und - im Anschluss hieran - des BSG steht § 30 Abs. 1 SGB I in einer solchen Konstellation der Auslandswohnsitz eines zuvor (im Inland) beitragspflichtigen Grenzgängers einem Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht entgegen, wenn die übrigen Leistungsvoraussetzungen (§§ 118 ff. SGB III a.F.) vorliegen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 30.12.1999 - 1 BvR 809/95 - SozR 3-1200 § 30 Nr. 20; BSG, Urteil vom 07.10.2009 - B 11 AL 25/08 R - SozR 4-1200 § 30 Nr. 5). Es ist vielmehr mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes - (GG) eine entsprechende verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift vorzunehmen. Das BVerfG hat hierzu das Folgende ausgeführt (BVerfG a.a.O. - Juris-Rdnrn. 11 ff.):

"Zwar kann eine durch § 30 Abs. 1 SGB I bewirkte Ungleichbehandlung der Personen mit Auslandswohnsitz im Vergleich zu den Personen mit Inlandswohnsitz sachlich gerechtfertigt sein (vgl. BVerfGE 51, 1 (24); 81, 208 (222)). Es ist ein verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstandendes Ziel nationaler Sozialpolitik, sozial relevante Tatbestände im eigenen Staatsgebiet zu formen und zu regeln (vgl. BVerfG, NJW 1998, S. 2963 (2964) = NZS 1998, S. 518). Der Gesetzgeber kann den Wohn- und Aufenthaltsort als Kriterium wählen, nach dem sich neben anderen Voraussetzungen die Gewährung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit bestimmt. Er kann auch für die Beitragspflicht an den Beschäftigungsort (§§ 168, 173 a AFG i.V.m. § 3 SGB IV) oder an den Wohn- oder Aufenthaltsort (vgl. die Ermächtigung nach § 173 AFG) anknüpfen. Er ist aber nicht frei darin, ohne gewichtige sachliche Gründe den Anknüpfungspunkt zwischen Beitragserhebung und Leistungsberechtigung zu wechseln. Das hat in der Arbeitslosenversicherung vor allem Bedeutung für Personen mit grenznahem Auslandswohnsitz, die im Inland beschäftigt und versichert sind (Grenzgänger). Deren besondere Situation ist durch ihre Nähe zum Staatsgebiet der Bundesrepublik, ihre zwangsweise Einbeziehung in das nationale Sicherungssystem des Beschäftigungsorts und nicht des Wohnsitzes mit entsprechender Beitragspflicht und durch den fortbestehenden Bezug zum Inlandsarbeitsmarkt gekennzeichnet. Gründe, die für die Gruppe der so genannten Grenzgänger einen Wechsel des Anknüpfungssachverhalts rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Steht das Wohnsitzprinzip dem Eingriff durch Auferlegung von Beiträgen nicht entgegen, so können territoriale Gründe nicht erstmals gegen die Einlösung des mit Beiträgen erworbenen Versicherungsschutzes ins Feld geführt werden. Unter diesen Voraussetzungen ist von Verfassungs wegen eine Auslegung geboten, die den aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleiteten Anspruch des Grenzgängers auf eine seiner Beitragszahlung entsprechende Sozialleistung zur Geltung bringt (vgl. BVerfGE 92, 53 (71 f.)). Der notwendige und verfassungsrechtlich unbedenkliche Bezug zum Geltungsbereich des Gesetzes ergibt sich aus den allgemeinen Leistungsvoraussetzungen für das Arbeitslosengeld und die Arbeitslosenhilfe (§§ 100 f., 134 f. AFG; jetzt: §§ 117 f. und 190 f. SGB III). Dazu gehört vor allem die subjektive und objektive Verfügbarkeit (§ 103 AFG; jetzt: Beschäftigungssuche nach § 119 SGB III) bezogen auf den inländischen Arbeitsmarkt. Die Vermittlungsfähigkeit lässt sich insbesondere anhand der Sprachkenntnisse, persönlicher Bindungen und des Verlaufs des bisherigen Berufs- und Erwerbslebens objektivieren (vgl. EuGH, Slg. 1986, S. 1837 (1852)). Die Leistungsvoraussetzungen erhalten insgesamt eine spezifische - mit der beitragsrechtlichen Anknüpfung in Einklang stehende - Ausprägung des Territorialitätsprinzips, die die Reichweite des allgemeinen Wohnsitzprinzips nach § 30 Abs. 1 SGB I einschränkt. Erfüllt ein zuvor in Deutschland beitragspflichtiger Grenzgänger nach den allgemeinen Vorschriften den Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe, so steht der Auslandswohnsitz als solcher dem Anspruch nicht entgegen [ ]".

Die dort geschilderte "besondere Situation" einer grenznah wohnenden Person, die eine Einschränkung des Anwendungsbereichs von § 30 Abs. 1 SGB I gebietet, trifft auf die Klägerin zu: Auch ihre Situation ist durch ihre Nähe zum Staatsgebiet der Bundesrepublik, ihre zwangsweise Einbeziehung in das nationale Sicherungssystem des Beschäftigungsorts und nicht des Wohnsitzes mit entsprechender Beitragspflicht und durch den fortbestehenden Bezug zum Inlandsarbeitsmarkt gekennzeichnet. Sie wohnt eindeutig grenznah, war ausweislich der Arbeitsbescheinigung ihres vormaligen Arbeitgebers bis zum 30.06.2011 (lediglich unterbrochen durch Zeiten des Mutterschutzes und der Elternzeit) durchgängig in F. beschäftigt und in der Arbeitslosenversicherung beitragspflichtig (s. das von der Agentur für Arbeit L.ausgefüllte Formular U1 vom 09.11.2011). Auch besteht bei ihr ein fortgesetzter Bezug zum Inlandsarbeitsmarkt, was sich nicht zuletzt an ihrer objektiven und subjektiven Verfügbarkeit für den deutschen Arbeitsmarkt sowie die Erfüllung der sonstigen allgemeinen Leistungsvoraussetzungen für das Arbeitslosengeld zeigt (s. sogleich).

2.) Die Klägerin hat die Anspruchsvoraussetzungen für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld dem Grunde nach für die Zeit vom 01.07.2011 bis zum 29.02.2012 - dem Tag vor der Wiederaufnahme einer Beschäftigung - erfüllt.

Nach § 118 Abs. 1 SGB III a.F. haben Arbeitnehmer Anspruch auf Arbeitslosengeld, die 1. arbeitslos sind, 2. sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet und 3. die Anwartschaftszeit erfüllt haben.

a) Bei der Klägerin lag seit dem 01.07.2011 Arbeitslosigkeit vor, weil sie beschäftigungslos war (§ 119 Abs. 1 Nr. 1 SGB III a.F.) und keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie sich nicht bemüht hat, ihre Beschäftigungslosigkeit zu beenden (§ 119 Abs. 1 Nr. 2 SGB III a.F.).

Ferner stand die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung (§ 119 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 5 SGB III a.F.). Nach § 119 Abs. 5 SGB III a.F. steht den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung, wer eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende zumutbare Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarktes ausüben kann und darf, Vorschlägen der Agentur für Arbeit zur beruflichen Eingliederung zeit - und ortsnah Folge leisten kann, bereit ist, jede Beschäftigung im Sinne der Nummer 1 anzunehmen und auszuüben und bereit ist, an Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung in das Erwerbsleben teilzunehmen. Diese Voraussetzungen für die Verfügbarkeit lagen bei der Klägerin vor. Sie hat sich im Antrag auf Bewilligung von Arbeitslosengeld zur Ausübung einer Tätigkeit im Umfang von 24 Stunden pro Woche bereit erklärt.

Insbesondere war sie in der Lage, Vorschlägen der Agentur für Arbeit zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge zu leisten, weil ihr Wohnort T1. unmittelbar an der deutsch-niederländischen Grenze liegt und die für sie am nächsten erreichbaren Geschäftsstellen der Agentur für Arbeit in F. und L. nur ca. 13 bzw. 25 Autominuten entfernt liegen. Damit war sie nach Maßgabe der Erreichbarkeitsanordnung (EAO) vom 23.10.1997 (ANBA 1997 S. 1685) für Vermittlungsbemühungen der Beklagten ohne Weiteres erreichbar. Die Klägerin hält sich insbesondere im Nahbereich des Arbeitsamtes auf (§ 2 Nr. 3 EAO). Dies ist der Fall, wenn der Wohnort der Klägerin zu einem der Orte in der Umgebung des Arbeitsamts gehört, von denen aus der Arbeitslose erforderlichenfalls in der Lage wäre, das Arbeitsamt täglich ohne unzumutbaren Aufwand zu erreichen (§ 2 Nr. 3 Satz 2 EAO). Konkretisiert man den Begriff des zumutbaren Aufwands dahingehend, dass an die in § 121 Abs. 4 SGB III a.F. bzw. § 140 Abs. 4 SGB III n.F. normierten zumutbaren Pendelzeiten zwischen Auslandswohnsitz und zuständiger Agentur für Arbeit angeknüpft wird (so BayLSG, Urteil v. 15.12.2009 - L 10 AL 395/05 - Juris-Rdnr. 32; ebenso Geiger, info also 2013, 147, 148), ist maßgeblich, ob der oder die Arbeitslose die einfache Strecke zwischen Wohnung und zuständiger, d.h. grenznächster (s. hierzu BSG, Urteil vom 09.02.1994 - 11 RAr 1/93 - Juris) Agentur für Arbeit mit den ihm oder ihr zur Verfügung stehenden Verkehrsmitteln in maximal 75 Minuten bewältigen kann (s. BayLSG, Urteil vom 16.01.2013 - L 11 AS 583/10 - Juris-Rdnr. 24; Geiger, a.a.O.). Dies ist hier ausweislich der örtlichen Gegebenheiten bei der Klägerin der Fall.

b) Die Klägerin hat auch die Anwartschaftszeit (§§ 118 Abs. 1 Nr. 3, 123 Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 1 Satz 1 SGB III a.F.) erfüllt.

Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 SGB III a.F. hat die Anwartschaftszeit zurückgelegt, wer in der Rahmenfrist mindestens zwölf Monate (360 Tage, § 339 Satz 1 SGB III) in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat. Die Rahmenfrist beträgt gemäß § 124 Abs. 1 Satz 1 SGB III a.F. zwei Jahre und beginnt mit dem Tag vor der Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosengeld.

Die Klägerin hat sich mit Wirkung vom 01.07.2011 arbeitslos gemeldet (§ 122 Abs. 1 SGB III a.F.). Damit reicht die zweijährige Rahmenfrist vom 01.07.2009 bis 30.06.2011. Durch ihre Beschäftigung als kaufmännische Angestellte bei der Fa. PG L1. GmbH, F. war sie ausweislich der Arbeitsbescheinigung vom 05.04.2011 innerhalb dieser Rahmenfrist nach §§ 24, 25 SGB III in der Zeit vom 02.11.2009 bis 15.02.2010 sowie vom 18.03.2011 bis 30.06.2011 in der Arbeitslosenversicherung versicherungspflichtig. Ferner bezog die Klägerin in der Zeit vom 26.09.2008 bis 06.01.2009 und vom 16.02.2010 bis 25.05.2010 Mutterschaftsgeld sowie in der Zeit vom 01.07.2009 bis 30.06.2011 Kindergeld. Danach sind die in die Rahmenfrist fallende Erziehungszeit vom 01.07.2009 bis 01.11.2009 (nach der Geburt des ersten Kindes am 11.11.2008), die Zeit des Mutterschaftsgeldbezuges vom 16.02.2010 bis 25.05.2010 sowie die Elternzeit vom 26.05.2010 bis 17.03.2011 als Zeiten der Versicherungspflicht zu berücksichtigen. Die Zeit des Mutterschaftsgeldbezuges vom 26.09.2008 bis 06.01.2009 ist versicherungspflichtig nach § 26 Abs. 2 Nr. 1 SGB III, weil diese Zeit unmittelbar auf die versicherungspflichtige Beschäftigung folgte. Die anschließende Erziehungszeit ist gemäß § 26 Abs. 2a SGB III versicherungspflichtig, da eine Zeit der Versicherungspflicht unmittelbar vorausging und die Klägerin sich mit dem Kind zwar nicht im Inland aufhielt, aber Anspruch auf Kindergeld hatte (§ 26 Abs. 2a Satz 1 Nr. 2 SGB III). Entsprechend verhält es sich mit den Mutterschaftsgeldbezugs- und Erziehungszeiten anlässlich der Geburt des zweiten Kindes am 18.03.2010. Die Beklagte hat insbesondere diese außerhalb des o.a. Beschäftigungsverhältnisses stehenden Versicherungspflichttatbestände dem Senat auf dessen ausdrückliche Nachfrage (Schreiben vom 09.10.2013) mit Schriftsatz vom 09.10.2013 nach Rücksprache mit der für die Klägerin zuständigen Familienkasse und Krankenkasse (BKK H. T2.) mitgeteilt. Anhaltspunkte, an der Richtigkeit dieser Daten zu zweifeln, hat der Senat nicht.

Nach alledem war die Klägerin innerhalb der zweijährigen Rahmenfrist vom 01.07.2009 bis 30.06.2011 mehr als 12 Monate versicherungspflichtig und hat die Anwartschaftszeit für den Anspruch auf Arbeitslosengeld erfüllt.

3.) Der Anspruch ruht auch nicht nach Maßgabe des § 142 Abs. 3 SGB III a.F. wegen eines vergleichbaren Anspruchs auf eine andere Sozialleistung, den ein ausländischer Träger zuerkannt hat. Der niederländische Träger der Arbeitslosenversicherung (UWV) hat mit (bestandskräftigem) Bescheid vom 22.07.2011 Leistungen an die Klägerin abgelehnt, weil sie mangels Berücksichtigung der Kindererziehungszeiten nicht die nach niederländischem Recht vorgegebene Anwartschaftszeit von 26 Wochen innerhalb der Rahmenfrist von 36 Wochen zurückgelegt habe.

4.) Da die Klägerin somit bereits nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts einen Anspruch auf Arbeitslosengeld hat, kommt es auf das Gemeinschaftsrecht, insbesondere die Regelungen zu den echten Grenzgängern in Art. 65 Abs. 2 und 5a VO EG 883/2004, nicht mehr an.

Auch der sog. Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts steht dem "nationalen" Anspruch nicht entgegen. Bei Art. 65 VO EG 883/2004 handelt es sich um eine Koordinationsnorm, nicht um eine Kollisionsnorm. Mit der VO EG 883/2004 sollen nicht nur die gleichzeitige Anwendung von Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können vermieden werden, sondern sie soll auch verhindern, dass Personen, die in den Geltungsbereich der VO fallen, der Schutz im Bereich der nationalen Sicherheit vorenthalten wird, weil keine Rechtsvorschriften auf sie anwendbar sind (vgl. EuGH, Urteil vom 11.06.1998 - C-275/96 - Slg. 1998, I-3419 - Rdnr. 28 [Kuusijärvi]; EuGH, Urteil vom 19.09.2013 - C-140/12 - Juris-Rdnr. 40 [Brey]). Die VO schafft kein gemeinsames System der sozialen Sicherheit, sondern lässt unterschiedliche nationale Systeme bestehen und soll diese nur koordinieren. Sie lässt somit unterschiedliche Systeme bestehen, die zu unterschiedlichen Forderungen gegen unterschiedliche Träger führen, gegen die dem Leistungsberechtigten unmittelbare Ansprüche entweder allein nach dem nationalen Recht oder nach dem erforderlichenfalls durch Unionsrecht ergänzten nationalen Recht zustehen (so zuletzt EuGH, Urteil vom 19.09.2013 - C-140/12 - Juris-Rdnr. 43 [Brey] m.w.N.). Damit kann die VO EG 883/2004 nicht dazu führen, einen bereits nach innerstaatlichem Recht bestehenden Anspruch zu vereiteln, zumal Art. 65 VO EG 883/2004 als Konkretisierungsnorm für das Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV) Ansprüche auf staatliche Leistungen sichern bzw. erhalten soll. Mit der Einbeziehung grenznaher Sachverhalte in das einfache deutsche Leistungsrecht der Arbeitslosenversicherung liegt auch kein grenzüberschreitender Sachverhalt im Rechtssinne vor, der ein Eingreifen primären und sekundären Gemeinschaftsrechts im Bereich der Grundfreiheiten erst ermöglicht (zur Anwendung von Art. 45 AEUV bei grenzüberschreitendem Bezug vgl. nur EuGH, Urteil vom 07.03.2013 - C 127/11 [von den Booren] -; EuGH, Urteil vom 16.04.2013 - C-202/11 [Las] -; EuGH, Urteil vom 16.05.2013 - C-589/10 [Wencel] -). Es gibt dann nichts mehr zu koordinieren. Im Übrigen kann die durch das BVerfG postulierte verfassungskonforme Auslegung des § 30 Abs. 1 SGB I für Grenzbewohner nur unabhängig davon gelten, ob es sich bei ihnen auch um Unionsbürger und/oder (echte) Grenzgänger i.S.d. VO EG 883/2004 handelt. Denn die Grundrechtsberechtigung (hier: Art. 3 Abs. 1 GG) hängt nicht von letzteren "supranationalen" Eigenschaften ab.

5.) Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

6.) Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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