Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 1 SB 2758/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 3723/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 18. Juli 2012 abgeändert. Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheids vom 29. Januar 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Oktober 2010 verurteilt, bei dem Kläger ab dem 18. Dezember 2012 die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nach-teilsausgleichs "aG" (außergewöhnlich gehbehindert) festzustellen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
2. Der Beklagte erstattet dem Kläger zwei Drittel der außergerichtlichen Kosten für das Berufungsverfahren. Eine Kostenerstattung für das Klageverfahren vor dem Sozialgericht Konstanz findet nicht statt.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens (Nachteilsausgleichs) "aG" (außergewöhnlich gehbehindert).
Der am 21.04.1967 geborene, in Deutschland wohnhafte Kläger ist Deutscher. Er erlitt bei einem Arbeitsunfall am 01.10.1991 (Sturz von einem Baugerüst) ein Schädel-Hirn-Trauma. Mit Bescheid vom 03.04.1992 stellte das damals zustände Versorgungsamt Stuttgart bei ihm wegen einer spastischen Hemiparese rechts und globaler Aphasie in Rückbildung sowie eines hirnorganischen Psychosyndroms einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 fest und erkannte die Merkzeichen "G" (gehbehindert), "B" (ständige Begleitung notwendig), "aG" (außergewöhnlich gehbehindert) und "H" (hilflos) zu.
Mit Bescheid vom 01.12.1994 setzte das Versorgungsamt den GdB auf 80 herab und entzog die Merkzeichen "aG" und "H".
Am 07.11.1995 beantragte der Kläger wegen einer Verschlimmerung Neufestsetzung und die Wiedererteilung des Merkzeichens "aG". Das Versorgungsamt kam dem teilweise nach und stellte mit Bescheid vom 30.01.1996 den GdB mit 90 fest, erkannte jedoch das Merkzeichen "aG" weiterhin nicht zu. Als Gesundheitsschäden wurden zusätzlich eine Sehbehinderung und Schwerhörigkeit anerkannt. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhob der Kläger Klage vor dem Sozialgericht (SG) Stuttgart (S 13 Vs 2277/96). In jenem Verfahren wurde von Amts wegen das Gutachten des Orthopäden Prof. Dr. A. vom 22.10.1996 erhoben. Dieser Sachverständige beschrieb das Gangbild im Einzelnen, insoweit wird auf die Ausführungen in jenem Gutachten Bezug genommen. Nach den Feststellungen des Sachverständigen konnte der Kläger damals 150 bis 200 m allein gehen, mit Hilfe eines Gehapparats etwa 500 m. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" lägen nicht vor. Der Kläger nahm nach Eingang dieses Gutachtens seine damalige Klage zurück.
Einen weiteren Antrag des Klägers auf Zuerkennung des Merkzeichens "aG" vom 18.11.2008 lehnte der zwischenzeitlich zuständige Landrat des Rheinisch-Bergischen Kreises mit Bescheid vom 16.12.2008 ab. Der Entscheidung zu Grunde lag auch der Entlassungsbericht der Kliniken B., Prof. Dr. C., vom 03.11.2008 über einen stationären Aufenthalt des Klägers vom 17.09. bis 29.10.2008. Nach diesem Bericht hätten sich das Gangbild und der physiologische Bewegungsablauf verbessert, der Kläger habe angegeben, durch langsames Gehen ein sicheres Gangbild zu erreichen. Auch bei insgesamt drei Stürzen während des Aufenthalts habe sich aber gezeigt, dass bei Ablenkung oder in stressbelasteten Situationen wie einem engen Zeitplan oder unter Zeitdruck auch schon bei kurzen Gehstrecken von deutlich weniger als 100 m eine erhebliche Sturzgefahr bestehe.
Am 09.09.2009 beantragte der Kläger bei dem nunmehr als Versorgungsamt zuständigen Landratsamt (LRA) Bodenseekreis erneut die Feststellung des Merkzeichens "aG". Er legte den Arztbrief des Chirurgen und Orthopäden Dr. D. vom 25.08.2009 bei, wonach er - der Kläger - ständig auf eine Gehschiene angewiesen sei, um außerhalb seines Pkw unter starken Schmerzen wenige Meter gehen zu können. Zur Akte gelangte ferner der Entlassungsbericht der Kliniken B., Prof. Dr. C., vom 22.09.2009 über einen weiteren stationären Aufenthalt des Klägers vom 04.08. bis 22.09.2009. Darin ist ausgeführt, bei dem Kläger beständen ein Wernicke-Mann’sches Gangbild mit spastischer Beugung des rechten Arms und Zirkumduktion (kreisförmiges Herumführen) des rechten Beins. Der Zehengang sei durchführbar, Hacken- und Seiltänzergang nicht. Es bestehe eine Fußheberschwäche rechts (3-4/5). Nach der Therapie laufe der Kläger, wenn er generell entspannt sei und sich konzentriere, flüssiger und gleichmäßiger. Die Schmerzen (an den oberen Gliedmaßen) hätten nachgelassen, sodass er wieder schmerzfrei Auto fahren könne. Daraufhin lehnte das LRA den Antrag mit Bescheid vom 29.01.2010 ab.
Im nachfolgenden Vorverfahren reichte der Kläger das Attest des Orthopäden Dr. E. vom 16.04.2012 zur Akte, wonach er an einer außergewöhnlichen Gehbehinderung mit einer Limitierung der Gehstrecke auf 80 m leide. Gestützt auf die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. F. vom 13.09.2010 erließ der Beklagte den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 14.10.2010. Eine außergewöhliche, mit Rollstuhlabhängigkeit vergleichbare Einschränkung des Gehvermögens liege nicht vor. Es lägen keine fachärztlichen Unterlagen über eine außergewöhnliche Wegstreckenverkürzung vor.
Am 28.10.2010 hat der Kläger Klage zum SG Konstanz erhoben. Er hat vorgetragen, er könne das rechte Bein nicht als Standbein benutzen. Beim Barfußgang müsse er den rechten Fuß komplett mit zwei Unterarmgehstützen entlasten. Der freie Stand sei ohne Hilfsmittel nur kurzzeitig möglich. Auch das linke Bein könne er nicht voll belasten. Er leide an Schmerzen beim Gehen. Der Kläger hat hierzu das Attest der BG-Unfallklinik G., Dr. H., vom 15.02.2011 vorgelegt, wonach die Gehstrecke durch Schmerz auf weniger als 100 m eingeschränkt sei.
Das SG hat zunächst den Entlassungsbericht der Kliniken B., Dr. J., vom 23.03.2011 über einen Aufenthalt des Klägers vom 01.03. bis 12.03.2011 beigezogen. Hiernach hatte der Kläger bei einem Treppensturz am 18.01.2010 zusätzlich Frakturen des 7. und des 8. Brustwirbelkörpers sowie des Schulterblatts erlitten. Hierdurch habe sich die vorbestehende Gangstörung - auch im Vergleich zu den schriftlichen Vorbefunden - verschlimmert.
Sodann hat das SG von Amts wegen den Internisten Dr. K. mit einer Begutachtung des Klägers beauftragt. Dieser Sachverständige hat unter dem 28.10.2011 bekundet, der Kläger habe von einem weiteren Sturz am 18.02.2011 berichtet, bei dem es zu Prellungen gekommen sei. Er benutze seit dem ersten Sturz 2010 zwei Unterarmgehstützen, wobei er nicht wisse, warum. Die Berufsgenossenschaft habe ihm ein Spezialfahrzeug gestellt, bei dem Gas und Bremse mit dem linken Fuß bedient würden. Mit Hilfe der Gehstützen sei er in der Wartehalle vor der Begutachtung 25 m gegangen. Er zeige einen Gang im Wechselschritt mit leicht verkürzter Schrittlänge, das rechte Bein entlastend, mit angedeuteter Zirkumduktion und am Ende des Schritts mit stärkerer Außenrotation des Fußes/Beines auf dem rechten Vorderfuß stehend. Die linke Körperhälfte werde in eine diskrete Einwärtsdrehung und leichte Vorwärtsbewegung gebracht. Beim Barfußgang werde das rechte Bein durch zwei Unterarmgehstützen komplett entlastet. Freier Stand sei zumindest kurzfristig möglich. Der Einbeinstand rechts erfolge mit zwei Unterarmgehstützen. Treppensteigen sei möglich. Die Muskulatur rechts sei vermindert. Die Wirbelkörper seien knöchern verheilt. Dr. K. hat ferner die Bewegungseinschränkungen an der Wirbelsäule und den oberen und unteren Extremitäten mitgeteilt, darauf wird verwiesen (S. 10 f. des Gutachtens). Zusammenfassend hat er angegeben, es bestehe das Erscheinungsbild einer Wernicke-Mann-Prädilektionsparese. Die Angabe im Entlassungsbericht vom 23.03.2011, es sei eine Verschlechterung feststellbar, lasse sich jedoch, gestützt auf die Angaben aus den Jahren 2008 und 2009, nicht nachvollziehen. Die - allerdings sehr spärliche - Befunderhebung lasse Unterschiede nicht erkennen. Aus dem Entlassungsbericht lasse sich vielmehr eine Besserung herauslesen. Der Kläger habe selbst angegeben, er komme mit der spastischen Parese "gut zurecht". Das Krankheitsbild sei in den Hauptkomponenten gleichbleibend. Die Variabilität der Spastik und ggfs. eine medikamentöse und physikalische Behandlung riefen erfahrungsgemäß gewisse Fluktuationen hervor. Auch Gelenkkontrakturen und vorzeitiger Gelenkverschleiß seien eine häufige Folge. Bei dem Kläger bestehe in diesem Rahmen bislang - nur - eine geringe Skoliose der Wirbelsäule. Für die Benützung der Gehstützen seien eine medizinische Begründung oder ein pathologisches Korrelat nicht ersichtlich, unter anderem sei eine Gewöhnung zu diskutieren. Insgesamt bestehe kein Krankheitsbild, das dem eines Querschnittgelähmten, Doppeloberschenkelamputierten oder anderer vergleichbarer Bilder entspreche.
Unter dem 28.02.2012 hat Dr. K. zu verschiedenen Einwänden des Klägers ergänzend Stellung genommen. Er hat ausgeführt, im Gegensatz zu einer schlaffen Lähmung eines Beins führe gerade die spastische Parese, also die übersteigerte Kontraktion der Muskeln, zu der beschriebenen Gebrauchsfähigkeit. Krankhafte Veränderungen des linken Beins, die dessen Gebrauchsfähigkeit einschränken könnten, seien nicht vorhanden, der Kläger könne Gas- und Bremspedal seines Autos mit links bedienen. Die vom Kläger vorgebrachten Schmerzen seien gewürdigt worden. Hinweise auf einen außergewöhnlichen spastischen Schmerz habe es nicht gegeben. Weitere Schmerzverursachungen durch Arthritis, ausgeprägte Arthrose, instabile Frakturen, Pseudoarthrosen oder Malignome seien nicht gefunden worden. Die jetzt angegebene Medikation mit Ibuprofen, einem nichtsteroidalen und nichtopioiden Antirheumatikum, widerspreche dem nicht. Der vom Kläger demonstrierte Vier-Punkte-Gang (außer im Barfußgang) zeige, dass er beide Beine, auch das rechte, als Standbein benutzen könne. Seine Beeinträchtigung entspreche daher nicht jener der Vergleichsgruppen. Amputierten oder Querschnittsgelähmten fehlten beide Beine, diese seien schlaff gelähmt oder ihnen fehle zumindest ein Bein als Standbein, sodass ihnen Gehen überhaupt nicht oder nur unter erheblicher Anstrengung im Drei-Punkte-Gang über eine gewisse Distanz möglich sei.
Mit Urteil vom 18.07.2012 hat das SG die Klage abgewiesen. Der Kläger sei nicht den Vergleichsgruppen der Amputierten oder Querschnittgelähmten, wie sie in Teil D Ziffer 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG) beschrieben seien, gleichzustellen. Er könne relevante Strecken gehend zurücklegen. Dr. K. habe bekundet, der Kläger habe in der Wartehalle 25 m auf zwei Unterarmgehstützen gehen können. Auch beständen Zweifel daran, dass er noch auf Unterarmgehstützen angewiesen sei.
Gegen dieses Urteil, das seinen Prozessbevollmächtigten am 06.08.2012 zugestellt worden ist, hat der Kläger am 29.08.2012 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Er meint, er dürfe nicht nur mit Querschnittsgelähmten oder Doppelober- oder Doppelunterschenkelamputierten verglichen werden, sondern es sei ein Vergleich mit jeder der Gruppen notwendig, die die Verwaltungsvorschrift zu § 46 Straßenverkehrsordnung (StVO) nenne. Er behauptet, sein Gehvermögen habe sich verschlechtert, wie es Dr. E. bescheinigt habe. Es sei auch auf die erhöhte Sturzgefahr und auf die erhöhten Schmerzen beim Gehen hinzuweisen. Der Kläger macht auch geltend, die Vergleichsgruppen in der Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVO erfassten nach wie vor Personen, die - auf Grund der Fortschritte der medizinischen Wissenschaft - inzwischen keine nennenswerten Schwierigkeiten bei der Fortbewegung mehr hätten. So gebe es doppelunterschenkelamputierte Menschen, die mit Hilfe moderner Prothesen Spitzensport leisteten und sogar an den Olympischen Spielen teilnähmen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 18. Juli 2012 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 29. Januar 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Oktober 2010 zu verurteilen, ihm das Merkzeichen "aG" zuzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das angegriffene Urteil und seine Entscheidungen.
Der Senat hat die Beteiligten auf das Urteil des SG Dresden vom 26.02.2000 (S 7 SB 334/98) hingewiesen und die Sach- und Rechtslage mit ihnen erörtert. Auf das Protokoll der nichtöffentlichen Sitzung vom 26.03.2013 wird verwiesen.
Der Senat hat ferner den Entlassungsbericht des SRH Gesundheitszentrums Bad L., Dr. M., vom 11.02.2013 über einen stationären Aufenthalt des Klägers vom 05.03. bis 12.03.2013 beigezogen. Hiernach war bei dem Kläger am 18.12.2012 operativ die Achillessehne verlängert worden. In der Folge habe sich eine Streckhemmung der Großzehe rechts eingestellt, die dazu führe, dass der Kläger nicht mehr richtig abrollen könne. Zum Gehvermögen ist in dem zuletzt, am 04.07.2013, übersandten Bericht ausgeführt, bei der Entlassung sei der Gang mit Unterarmgehstützen auf Stationsniveau 60 bis 80 m möglich gewesen, bei darüber hinaus gehenden Strecken sei der Kläger rollstuhlbedürftig unter anderem auf Grund der Beugespastik der rechten Großzehe, wobei hier eine operative Intervention empfohlen werde. Treppensteigen mit Geländer werde Schritt für Schritt bewältigt, subjektiv habe sich die Mobilität gebessert.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 13.11.2013 hat der Kläger zwei Kurzbescheinigungen der BG-Unfallklinik G., Oberarzt H., vom 07.11.2013 und der BG-Klinik N., Dr. O., vom 11.11.2013 vorgelegt, die beide eine ausgeprägte Gangstörung mit einer schmerzhaft eingeschränkten Gehstrecke von weniger als 80 Metern angeben.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
1. Die Berufung des Klägers ist nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und auch sonst zulässig, insbesondere form- und fristgerecht nach § 151 Abs. 1 SGG erhoben. Sie ist zum Teil auch begründet, und zwar für die Zeit seit dem 18.12.2012.
a) Gegenstand des Verfahrens ist ein Anspruch des Klägers auf behördliche Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" für die gesamte Zeit seit Stellung des Antrags beim LRA am 09.09.2009. Die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) des Klägers ist daher statthaft. Wie grundsätzlich bei allen Leistungsklagen entscheidet das Gericht auch im Rahmen einer Anfechtungs- und Verpflichtungsklage unter Zugrundelegung des Sach- und Streitstands im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung. Es sind daher auch Veränderungen zu berücksichtigen, die erst während des Prozesses, ggfs. sogar erst während des Berufungsverfahrens, eintreten. In solchen Fällen ist das angefochtene erstinstanzliche Urteil abzuändern, auch wenn es - bezogen auf den Zeitraum, über den es entschieden hat - zutrifft.
b) So gestaltet sich die Situation nach Einschätzung des Senats hier. Für die Zeit ab dem 18.12.2012 steht dem Kläger der geltend gemachte Anspruch gegen den Beklagten zu. Ab diesem Zeitpunkt, also schon während des Berufungsverfahrens, hat sich sein Gesundheitszustand soweit verschlechtert, dass die Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" zu bejahen sind. Diese Veränderung ist auch dauerhaft und daher zu berücksichtigen. Insoweit erweisen sich auch die angefochtenen Ablehnungsbescheide als rechtswidrig.
aa) In prozessualer Hinsicht ist vorab darauf hinzuweisen, dass der Antrag des Klägers auf Zuerkennung des Merkzeichens aG nicht nach § 48 Abs. 1 Satz 1 oder gar Satz 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zu beurteilen ist. Er kann mit seinem Begehren nicht nur dann Erfolg haben, wenn der Bescheid vom 01.10.1994 wieder aufgehoben wird. Mit jenem Bescheid war ihm das zuvor festgestellt Merkzeichen "aG" für die Zukunft entzogen worden. Gleichwohl handelte es sich nicht um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 48 Abs. 1 SGB X. Bescheide, mit denen eine Leistung oder eine Feststellung wie hier abgelehnt wird, entfalten keine Dauerwirkung. Das Gleiche gilt für Bescheide, die eine zuvor bewilligte Leistung entziehen. Dazu gehören auch Bescheide, die eine vorherige Feststellung, die ihrerseits Dauerwirkung hatte, wieder entziehen (vgl. Schütze, in: v. Wulffen, SGB X, 6. Aufl. 2008, § 45 Rn. 65).
bb) Anspruchsgrundlage für die begehrte Feststellung ist § 69 Abs. 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne von § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung [SchwbAuswV]). Diese Feststellung zieht straßenverkehrsrechtlich die Gewährung von Parkerleichterungen im Sinne von § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO nach sich, wobei Ausgangspunkt für die Feststellung der außergewöhnlichen Gehbehinderung die in der allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur StVO (VwV-StVO) enthaltenen Regelungen sind.
(1) Nach Abschnitt II Nr. 1 VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO (Rn. 129 ff.) sind als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Dazu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind. Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 erster Halbsatz VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO aufgeführten schwerbehinderten Menschen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (vgl. BSG, Urt. v. 29.03.2007, B 9a SB 5/05 R, Juris). Dabei ist zu beachten, dass die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften nicht darauf abstellen, über welche Wegstrecken ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist, nämlich nur noch mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzungen – praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an – erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (vgl. BSG, Urt. v. 10.12.2002, B 9 SB 7/01 R, Juris).
(2) Ein anderer Bewertungsmaßstab ergibt sich auch nicht aus Teil D Nr. 3 der Anlage zu der nach § 30 Abs. 17 Bundesversorgungsgesetz (BVG) erlassenen Versorgungsmedizin-Verord¬nung (VersMedV), den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG).
Auch dort werden zunächst die Vergleichsgruppen aus der VwV zur § 46 StVO genannt. Ergänzend wird allerdings - unter lit. c - ausgeführt: "Die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung darf nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden. Bei der Frage der Gleichstellung von behinderten Menschen mit Schäden an den unteren Gliedmaßen ist zu beachten, dass das Gehvermögen auf das Schwerste eingeschränkt sein muss und deshalb als Vergleichsmaßstab am ehesten das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist. Dies gilt auch, wenn Gehbehinderte einen Rollstuhl benutzen: Es genügt nicht, dass ein solcher verordnet wurde; die Betroffenen müssen vielmehr ständig auf den Rollstuhl angewiesen sein, weil sie sich sonst nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen können. Als Erkrankungen der inneren Organe, die eine solche Gleichstellung rechtfertigen, sind beispielsweise Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz sowie Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades anzusehen".
Mit dem Kläger ist daher davon auszugehen, dass trotz dieser Formulierungen in den VG weiterhin ein Vergleich mit allen Gruppen nötig ist, die in der VwV zu § 46 StVO genannt sind. Soweit die VG vorzugsweise einen Vergleich nur mit Doppeloberschenkelamputierten zulassen wollten, ist zu berücksichtigen, dass diese Regelungen aus der VersMedVO wegen Verstoßes gegen Art. 80 Abs. 1 Grundgesetz (GG) unwirksam sind, nachdem die einschlägige Ermächtigungsgrundlage dieser Verordnung in § 30 Abs. 17 Bundesversorgungsgesetz (BVG) den Ver¬ordnungsgeber nicht zur Interpretation oder gar Konkretisierung der tatbestandlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" ermächtigt (so auch LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 23.07.2010, L 8 SB 3119/08, Juris; Urt. v. 21.02.2013, L 6 SB 5788/11, Juris). Entsprechend ist auch in der Rechtsprechung anerkannt, dass ein Vergleich mit jeder der dort genannten Gruppen behinderter Menschen notwendig ist (BSG, Urt. v. 11.03.1998, B 9 SB 1/97 R, Juris).
cc) Zusammenfassend kommt der Senat auch auf der Basis der bisherigen Rechtsprechung, wonach die Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt sein muss und sich der behinderte Mensch vom ersten Schritt an nur unter großen Anstrengungen ohne fremde Hilfe fortbewegen kann, zu der Überzeugung, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" für die Zeit vor dem 18.12.2012 nicht nachgewiesen sind, während sie ab diesem Zeitpunkt bejaht werden können.
Für die Zeit vor der Operation an der Achillessehne stützt sich der Senat mit dem SG im Wesentlichen auf die Feststellungen und Schlussfolgerungen des Sachverständigen Dr. K. in seinem Gutachten vom 28.10.2011. Bei der dortigen Untersuchung konnte der Kläger, wenngleich Dr. K. nur eine kurze Strecke von 25 m beobachtet hat, im Wechselschritt mit nur leicht verkürzter Schrittlänge laufen. Er konnte beide Beine belasten. Nur beim Barfußgang war der Kläger auf zwei Unterarmgehstützen angewiesen, im Übrigen konnte Dr. K. keinen Grund dafür erkennen, dass Gehstützen benutzt wurden. Die Schmerzen, die der Kläger beim sicherlich mühevollen Gehen empfand, hat Dr. K. gewürdigt und - auch gestützt auf die durchgeführte, nicht sehr erhebliche Medikation - nachvollziehbar als nicht besonders ausgeprägt eingestuft. Weitere Einschränkungen der Beweglichkeit, etwa auf Grund degenerativer Folgen der Hemiparese, konnte Dr. K. in nennenswertem Umfang nicht feststellen, es bestand nur eine geringe Skoliose der Wirbelsäule. Der Senat hat keinen Anlass, an den Feststellungen Dr. K.s zu zweifeln. Vor diesem Hintergrund kann auch den Angaben der behandelnden Ärzte aus jener Zeit nicht gefolgt werden, die eine Gehstrecke von weniger als 100 m genannt (Attest Dr. H. vom 15.02.2011) bzw. Unterarmgehstützen für notwendig gehalten (Entlassungsbericht Kliniken B. vom 23.03.2011) hatten.
Dagegen liegen seit der Operation des Klägers an der Achillessehne im Dezember 2012 die Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" vor. Nach den Angaben von Dr. M. in dem Entlassungsbericht des SRH Gesundheitszentrums Bad L. vom 11.02.2013 war die Gehstrecke des Klägers bei Entlassung dort auf 60 bis 80 m limitiert, darüber hinaus bestand Rollstuhlpflicht. Selbst für die kurze Strecke, die der Kläger gehen konnte, war er - nunmehr - auf Unterarmgehstützen angewiesen. Der Grund hierfür liegt darin, dass der Kläger seit der Operation wegen der nunmehr spastisch gebeugten Großzehe rechts nicht mehr abrollen kann. Ob diese Beeinträchtigung von Dauer sein wird, bleibt abzuwarten: Aus dem Entlassungsbericht geht hervor, dass eine spontane Heilung nicht zu erwarten war, vielmehr sollte die Großzehe zunächst mit Botulinumtoxin-Injektionen behandelt werden, aber Dr. M. hielt auch eine operative Intervention für notwendig. Jedenfalls hat diese weitergehende Einschränkung des Gehvermögens bis zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 13.11.2013 angedauert, sodass sie für mehr als sechs Monate besteht und daher als Behinderung im Rechtssinne (vgl. § 2 Abs. 1, Abs. 2 SGB IX) eingestuft werden kann. Diese Einschätzung stützt der Senat auf die im Termin vorgelegten Atteste zweiter BG-Kliniken, auf den persönlichen Eindruck, den der Senat vor und in dem Termin vom Gehvermögen des Klägers hatte, sowie auf seine glaubhaften Angaben dort. Hiernach hat die Botox-Behandlung stattgefunden, aber keine Besserungen gezeitigt, während eine Operation bislang nicht durchgeführt worden ist. Ferner hat er angegeben, er benutze den Rollstuhl nach wie vor, wenn er mehr als äußerst kurze Gehstrecken bewältigen müsse. Hiernach bedarf der Kläger zwar nicht vom ersten Schritt außerhalb seines Pkw an fremde Hilfe. Aber die andere Variante der Voraussetzungen aus der VvV zu § 46 Nr. 11 StVO ist erfüllt. Der Kläger kann sich nur unter sehr großen Mühen und Anstrengungen zu Fuß fortbewegen.
2. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens beruht auf § 193 SGG. Der Senat hat davon abgesehen, die Kostenentscheidung des SG abzuändern, nachdem sich das angegriffene Urteil - bezogen auf den dort überprüften Zeitraum - als zutreffend erwiesen hat.
3. Die Revision war nicht zuzulassen. Keiner der in § 160 Abs. 2 SGG genannten Zulassungsgründe liegt vor. Insbesondere kommt der Entscheidung keine grundsätzliche rechtliche Bedeutung zu, nachdem es sich um eine Einzelfallentscheidung unter Würdigung der individuellen tatsächlichen Beeinträchtigungen des Klägers handelt.
2. Der Beklagte erstattet dem Kläger zwei Drittel der außergerichtlichen Kosten für das Berufungsverfahren. Eine Kostenerstattung für das Klageverfahren vor dem Sozialgericht Konstanz findet nicht statt.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens (Nachteilsausgleichs) "aG" (außergewöhnlich gehbehindert).
Der am 21.04.1967 geborene, in Deutschland wohnhafte Kläger ist Deutscher. Er erlitt bei einem Arbeitsunfall am 01.10.1991 (Sturz von einem Baugerüst) ein Schädel-Hirn-Trauma. Mit Bescheid vom 03.04.1992 stellte das damals zustände Versorgungsamt Stuttgart bei ihm wegen einer spastischen Hemiparese rechts und globaler Aphasie in Rückbildung sowie eines hirnorganischen Psychosyndroms einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 fest und erkannte die Merkzeichen "G" (gehbehindert), "B" (ständige Begleitung notwendig), "aG" (außergewöhnlich gehbehindert) und "H" (hilflos) zu.
Mit Bescheid vom 01.12.1994 setzte das Versorgungsamt den GdB auf 80 herab und entzog die Merkzeichen "aG" und "H".
Am 07.11.1995 beantragte der Kläger wegen einer Verschlimmerung Neufestsetzung und die Wiedererteilung des Merkzeichens "aG". Das Versorgungsamt kam dem teilweise nach und stellte mit Bescheid vom 30.01.1996 den GdB mit 90 fest, erkannte jedoch das Merkzeichen "aG" weiterhin nicht zu. Als Gesundheitsschäden wurden zusätzlich eine Sehbehinderung und Schwerhörigkeit anerkannt. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhob der Kläger Klage vor dem Sozialgericht (SG) Stuttgart (S 13 Vs 2277/96). In jenem Verfahren wurde von Amts wegen das Gutachten des Orthopäden Prof. Dr. A. vom 22.10.1996 erhoben. Dieser Sachverständige beschrieb das Gangbild im Einzelnen, insoweit wird auf die Ausführungen in jenem Gutachten Bezug genommen. Nach den Feststellungen des Sachverständigen konnte der Kläger damals 150 bis 200 m allein gehen, mit Hilfe eines Gehapparats etwa 500 m. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" lägen nicht vor. Der Kläger nahm nach Eingang dieses Gutachtens seine damalige Klage zurück.
Einen weiteren Antrag des Klägers auf Zuerkennung des Merkzeichens "aG" vom 18.11.2008 lehnte der zwischenzeitlich zuständige Landrat des Rheinisch-Bergischen Kreises mit Bescheid vom 16.12.2008 ab. Der Entscheidung zu Grunde lag auch der Entlassungsbericht der Kliniken B., Prof. Dr. C., vom 03.11.2008 über einen stationären Aufenthalt des Klägers vom 17.09. bis 29.10.2008. Nach diesem Bericht hätten sich das Gangbild und der physiologische Bewegungsablauf verbessert, der Kläger habe angegeben, durch langsames Gehen ein sicheres Gangbild zu erreichen. Auch bei insgesamt drei Stürzen während des Aufenthalts habe sich aber gezeigt, dass bei Ablenkung oder in stressbelasteten Situationen wie einem engen Zeitplan oder unter Zeitdruck auch schon bei kurzen Gehstrecken von deutlich weniger als 100 m eine erhebliche Sturzgefahr bestehe.
Am 09.09.2009 beantragte der Kläger bei dem nunmehr als Versorgungsamt zuständigen Landratsamt (LRA) Bodenseekreis erneut die Feststellung des Merkzeichens "aG". Er legte den Arztbrief des Chirurgen und Orthopäden Dr. D. vom 25.08.2009 bei, wonach er - der Kläger - ständig auf eine Gehschiene angewiesen sei, um außerhalb seines Pkw unter starken Schmerzen wenige Meter gehen zu können. Zur Akte gelangte ferner der Entlassungsbericht der Kliniken B., Prof. Dr. C., vom 22.09.2009 über einen weiteren stationären Aufenthalt des Klägers vom 04.08. bis 22.09.2009. Darin ist ausgeführt, bei dem Kläger beständen ein Wernicke-Mann’sches Gangbild mit spastischer Beugung des rechten Arms und Zirkumduktion (kreisförmiges Herumführen) des rechten Beins. Der Zehengang sei durchführbar, Hacken- und Seiltänzergang nicht. Es bestehe eine Fußheberschwäche rechts (3-4/5). Nach der Therapie laufe der Kläger, wenn er generell entspannt sei und sich konzentriere, flüssiger und gleichmäßiger. Die Schmerzen (an den oberen Gliedmaßen) hätten nachgelassen, sodass er wieder schmerzfrei Auto fahren könne. Daraufhin lehnte das LRA den Antrag mit Bescheid vom 29.01.2010 ab.
Im nachfolgenden Vorverfahren reichte der Kläger das Attest des Orthopäden Dr. E. vom 16.04.2012 zur Akte, wonach er an einer außergewöhnlichen Gehbehinderung mit einer Limitierung der Gehstrecke auf 80 m leide. Gestützt auf die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. F. vom 13.09.2010 erließ der Beklagte den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 14.10.2010. Eine außergewöhliche, mit Rollstuhlabhängigkeit vergleichbare Einschränkung des Gehvermögens liege nicht vor. Es lägen keine fachärztlichen Unterlagen über eine außergewöhnliche Wegstreckenverkürzung vor.
Am 28.10.2010 hat der Kläger Klage zum SG Konstanz erhoben. Er hat vorgetragen, er könne das rechte Bein nicht als Standbein benutzen. Beim Barfußgang müsse er den rechten Fuß komplett mit zwei Unterarmgehstützen entlasten. Der freie Stand sei ohne Hilfsmittel nur kurzzeitig möglich. Auch das linke Bein könne er nicht voll belasten. Er leide an Schmerzen beim Gehen. Der Kläger hat hierzu das Attest der BG-Unfallklinik G., Dr. H., vom 15.02.2011 vorgelegt, wonach die Gehstrecke durch Schmerz auf weniger als 100 m eingeschränkt sei.
Das SG hat zunächst den Entlassungsbericht der Kliniken B., Dr. J., vom 23.03.2011 über einen Aufenthalt des Klägers vom 01.03. bis 12.03.2011 beigezogen. Hiernach hatte der Kläger bei einem Treppensturz am 18.01.2010 zusätzlich Frakturen des 7. und des 8. Brustwirbelkörpers sowie des Schulterblatts erlitten. Hierdurch habe sich die vorbestehende Gangstörung - auch im Vergleich zu den schriftlichen Vorbefunden - verschlimmert.
Sodann hat das SG von Amts wegen den Internisten Dr. K. mit einer Begutachtung des Klägers beauftragt. Dieser Sachverständige hat unter dem 28.10.2011 bekundet, der Kläger habe von einem weiteren Sturz am 18.02.2011 berichtet, bei dem es zu Prellungen gekommen sei. Er benutze seit dem ersten Sturz 2010 zwei Unterarmgehstützen, wobei er nicht wisse, warum. Die Berufsgenossenschaft habe ihm ein Spezialfahrzeug gestellt, bei dem Gas und Bremse mit dem linken Fuß bedient würden. Mit Hilfe der Gehstützen sei er in der Wartehalle vor der Begutachtung 25 m gegangen. Er zeige einen Gang im Wechselschritt mit leicht verkürzter Schrittlänge, das rechte Bein entlastend, mit angedeuteter Zirkumduktion und am Ende des Schritts mit stärkerer Außenrotation des Fußes/Beines auf dem rechten Vorderfuß stehend. Die linke Körperhälfte werde in eine diskrete Einwärtsdrehung und leichte Vorwärtsbewegung gebracht. Beim Barfußgang werde das rechte Bein durch zwei Unterarmgehstützen komplett entlastet. Freier Stand sei zumindest kurzfristig möglich. Der Einbeinstand rechts erfolge mit zwei Unterarmgehstützen. Treppensteigen sei möglich. Die Muskulatur rechts sei vermindert. Die Wirbelkörper seien knöchern verheilt. Dr. K. hat ferner die Bewegungseinschränkungen an der Wirbelsäule und den oberen und unteren Extremitäten mitgeteilt, darauf wird verwiesen (S. 10 f. des Gutachtens). Zusammenfassend hat er angegeben, es bestehe das Erscheinungsbild einer Wernicke-Mann-Prädilektionsparese. Die Angabe im Entlassungsbericht vom 23.03.2011, es sei eine Verschlechterung feststellbar, lasse sich jedoch, gestützt auf die Angaben aus den Jahren 2008 und 2009, nicht nachvollziehen. Die - allerdings sehr spärliche - Befunderhebung lasse Unterschiede nicht erkennen. Aus dem Entlassungsbericht lasse sich vielmehr eine Besserung herauslesen. Der Kläger habe selbst angegeben, er komme mit der spastischen Parese "gut zurecht". Das Krankheitsbild sei in den Hauptkomponenten gleichbleibend. Die Variabilität der Spastik und ggfs. eine medikamentöse und physikalische Behandlung riefen erfahrungsgemäß gewisse Fluktuationen hervor. Auch Gelenkkontrakturen und vorzeitiger Gelenkverschleiß seien eine häufige Folge. Bei dem Kläger bestehe in diesem Rahmen bislang - nur - eine geringe Skoliose der Wirbelsäule. Für die Benützung der Gehstützen seien eine medizinische Begründung oder ein pathologisches Korrelat nicht ersichtlich, unter anderem sei eine Gewöhnung zu diskutieren. Insgesamt bestehe kein Krankheitsbild, das dem eines Querschnittgelähmten, Doppeloberschenkelamputierten oder anderer vergleichbarer Bilder entspreche.
Unter dem 28.02.2012 hat Dr. K. zu verschiedenen Einwänden des Klägers ergänzend Stellung genommen. Er hat ausgeführt, im Gegensatz zu einer schlaffen Lähmung eines Beins führe gerade die spastische Parese, also die übersteigerte Kontraktion der Muskeln, zu der beschriebenen Gebrauchsfähigkeit. Krankhafte Veränderungen des linken Beins, die dessen Gebrauchsfähigkeit einschränken könnten, seien nicht vorhanden, der Kläger könne Gas- und Bremspedal seines Autos mit links bedienen. Die vom Kläger vorgebrachten Schmerzen seien gewürdigt worden. Hinweise auf einen außergewöhnlichen spastischen Schmerz habe es nicht gegeben. Weitere Schmerzverursachungen durch Arthritis, ausgeprägte Arthrose, instabile Frakturen, Pseudoarthrosen oder Malignome seien nicht gefunden worden. Die jetzt angegebene Medikation mit Ibuprofen, einem nichtsteroidalen und nichtopioiden Antirheumatikum, widerspreche dem nicht. Der vom Kläger demonstrierte Vier-Punkte-Gang (außer im Barfußgang) zeige, dass er beide Beine, auch das rechte, als Standbein benutzen könne. Seine Beeinträchtigung entspreche daher nicht jener der Vergleichsgruppen. Amputierten oder Querschnittsgelähmten fehlten beide Beine, diese seien schlaff gelähmt oder ihnen fehle zumindest ein Bein als Standbein, sodass ihnen Gehen überhaupt nicht oder nur unter erheblicher Anstrengung im Drei-Punkte-Gang über eine gewisse Distanz möglich sei.
Mit Urteil vom 18.07.2012 hat das SG die Klage abgewiesen. Der Kläger sei nicht den Vergleichsgruppen der Amputierten oder Querschnittgelähmten, wie sie in Teil D Ziffer 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG) beschrieben seien, gleichzustellen. Er könne relevante Strecken gehend zurücklegen. Dr. K. habe bekundet, der Kläger habe in der Wartehalle 25 m auf zwei Unterarmgehstützen gehen können. Auch beständen Zweifel daran, dass er noch auf Unterarmgehstützen angewiesen sei.
Gegen dieses Urteil, das seinen Prozessbevollmächtigten am 06.08.2012 zugestellt worden ist, hat der Kläger am 29.08.2012 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Er meint, er dürfe nicht nur mit Querschnittsgelähmten oder Doppelober- oder Doppelunterschenkelamputierten verglichen werden, sondern es sei ein Vergleich mit jeder der Gruppen notwendig, die die Verwaltungsvorschrift zu § 46 Straßenverkehrsordnung (StVO) nenne. Er behauptet, sein Gehvermögen habe sich verschlechtert, wie es Dr. E. bescheinigt habe. Es sei auch auf die erhöhte Sturzgefahr und auf die erhöhten Schmerzen beim Gehen hinzuweisen. Der Kläger macht auch geltend, die Vergleichsgruppen in der Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVO erfassten nach wie vor Personen, die - auf Grund der Fortschritte der medizinischen Wissenschaft - inzwischen keine nennenswerten Schwierigkeiten bei der Fortbewegung mehr hätten. So gebe es doppelunterschenkelamputierte Menschen, die mit Hilfe moderner Prothesen Spitzensport leisteten und sogar an den Olympischen Spielen teilnähmen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 18. Juli 2012 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 29. Januar 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Oktober 2010 zu verurteilen, ihm das Merkzeichen "aG" zuzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das angegriffene Urteil und seine Entscheidungen.
Der Senat hat die Beteiligten auf das Urteil des SG Dresden vom 26.02.2000 (S 7 SB 334/98) hingewiesen und die Sach- und Rechtslage mit ihnen erörtert. Auf das Protokoll der nichtöffentlichen Sitzung vom 26.03.2013 wird verwiesen.
Der Senat hat ferner den Entlassungsbericht des SRH Gesundheitszentrums Bad L., Dr. M., vom 11.02.2013 über einen stationären Aufenthalt des Klägers vom 05.03. bis 12.03.2013 beigezogen. Hiernach war bei dem Kläger am 18.12.2012 operativ die Achillessehne verlängert worden. In der Folge habe sich eine Streckhemmung der Großzehe rechts eingestellt, die dazu führe, dass der Kläger nicht mehr richtig abrollen könne. Zum Gehvermögen ist in dem zuletzt, am 04.07.2013, übersandten Bericht ausgeführt, bei der Entlassung sei der Gang mit Unterarmgehstützen auf Stationsniveau 60 bis 80 m möglich gewesen, bei darüber hinaus gehenden Strecken sei der Kläger rollstuhlbedürftig unter anderem auf Grund der Beugespastik der rechten Großzehe, wobei hier eine operative Intervention empfohlen werde. Treppensteigen mit Geländer werde Schritt für Schritt bewältigt, subjektiv habe sich die Mobilität gebessert.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 13.11.2013 hat der Kläger zwei Kurzbescheinigungen der BG-Unfallklinik G., Oberarzt H., vom 07.11.2013 und der BG-Klinik N., Dr. O., vom 11.11.2013 vorgelegt, die beide eine ausgeprägte Gangstörung mit einer schmerzhaft eingeschränkten Gehstrecke von weniger als 80 Metern angeben.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
1. Die Berufung des Klägers ist nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und auch sonst zulässig, insbesondere form- und fristgerecht nach § 151 Abs. 1 SGG erhoben. Sie ist zum Teil auch begründet, und zwar für die Zeit seit dem 18.12.2012.
a) Gegenstand des Verfahrens ist ein Anspruch des Klägers auf behördliche Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" für die gesamte Zeit seit Stellung des Antrags beim LRA am 09.09.2009. Die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) des Klägers ist daher statthaft. Wie grundsätzlich bei allen Leistungsklagen entscheidet das Gericht auch im Rahmen einer Anfechtungs- und Verpflichtungsklage unter Zugrundelegung des Sach- und Streitstands im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung. Es sind daher auch Veränderungen zu berücksichtigen, die erst während des Prozesses, ggfs. sogar erst während des Berufungsverfahrens, eintreten. In solchen Fällen ist das angefochtene erstinstanzliche Urteil abzuändern, auch wenn es - bezogen auf den Zeitraum, über den es entschieden hat - zutrifft.
b) So gestaltet sich die Situation nach Einschätzung des Senats hier. Für die Zeit ab dem 18.12.2012 steht dem Kläger der geltend gemachte Anspruch gegen den Beklagten zu. Ab diesem Zeitpunkt, also schon während des Berufungsverfahrens, hat sich sein Gesundheitszustand soweit verschlechtert, dass die Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" zu bejahen sind. Diese Veränderung ist auch dauerhaft und daher zu berücksichtigen. Insoweit erweisen sich auch die angefochtenen Ablehnungsbescheide als rechtswidrig.
aa) In prozessualer Hinsicht ist vorab darauf hinzuweisen, dass der Antrag des Klägers auf Zuerkennung des Merkzeichens aG nicht nach § 48 Abs. 1 Satz 1 oder gar Satz 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zu beurteilen ist. Er kann mit seinem Begehren nicht nur dann Erfolg haben, wenn der Bescheid vom 01.10.1994 wieder aufgehoben wird. Mit jenem Bescheid war ihm das zuvor festgestellt Merkzeichen "aG" für die Zukunft entzogen worden. Gleichwohl handelte es sich nicht um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 48 Abs. 1 SGB X. Bescheide, mit denen eine Leistung oder eine Feststellung wie hier abgelehnt wird, entfalten keine Dauerwirkung. Das Gleiche gilt für Bescheide, die eine zuvor bewilligte Leistung entziehen. Dazu gehören auch Bescheide, die eine vorherige Feststellung, die ihrerseits Dauerwirkung hatte, wieder entziehen (vgl. Schütze, in: v. Wulffen, SGB X, 6. Aufl. 2008, § 45 Rn. 65).
bb) Anspruchsgrundlage für die begehrte Feststellung ist § 69 Abs. 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne von § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung [SchwbAuswV]). Diese Feststellung zieht straßenverkehrsrechtlich die Gewährung von Parkerleichterungen im Sinne von § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO nach sich, wobei Ausgangspunkt für die Feststellung der außergewöhnlichen Gehbehinderung die in der allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur StVO (VwV-StVO) enthaltenen Regelungen sind.
(1) Nach Abschnitt II Nr. 1 VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO (Rn. 129 ff.) sind als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Dazu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind. Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 erster Halbsatz VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO aufgeführten schwerbehinderten Menschen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (vgl. BSG, Urt. v. 29.03.2007, B 9a SB 5/05 R, Juris). Dabei ist zu beachten, dass die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften nicht darauf abstellen, über welche Wegstrecken ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist, nämlich nur noch mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzungen – praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an – erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (vgl. BSG, Urt. v. 10.12.2002, B 9 SB 7/01 R, Juris).
(2) Ein anderer Bewertungsmaßstab ergibt sich auch nicht aus Teil D Nr. 3 der Anlage zu der nach § 30 Abs. 17 Bundesversorgungsgesetz (BVG) erlassenen Versorgungsmedizin-Verord¬nung (VersMedV), den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG).
Auch dort werden zunächst die Vergleichsgruppen aus der VwV zur § 46 StVO genannt. Ergänzend wird allerdings - unter lit. c - ausgeführt: "Die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung darf nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden. Bei der Frage der Gleichstellung von behinderten Menschen mit Schäden an den unteren Gliedmaßen ist zu beachten, dass das Gehvermögen auf das Schwerste eingeschränkt sein muss und deshalb als Vergleichsmaßstab am ehesten das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist. Dies gilt auch, wenn Gehbehinderte einen Rollstuhl benutzen: Es genügt nicht, dass ein solcher verordnet wurde; die Betroffenen müssen vielmehr ständig auf den Rollstuhl angewiesen sein, weil sie sich sonst nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen können. Als Erkrankungen der inneren Organe, die eine solche Gleichstellung rechtfertigen, sind beispielsweise Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz sowie Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades anzusehen".
Mit dem Kläger ist daher davon auszugehen, dass trotz dieser Formulierungen in den VG weiterhin ein Vergleich mit allen Gruppen nötig ist, die in der VwV zu § 46 StVO genannt sind. Soweit die VG vorzugsweise einen Vergleich nur mit Doppeloberschenkelamputierten zulassen wollten, ist zu berücksichtigen, dass diese Regelungen aus der VersMedVO wegen Verstoßes gegen Art. 80 Abs. 1 Grundgesetz (GG) unwirksam sind, nachdem die einschlägige Ermächtigungsgrundlage dieser Verordnung in § 30 Abs. 17 Bundesversorgungsgesetz (BVG) den Ver¬ordnungsgeber nicht zur Interpretation oder gar Konkretisierung der tatbestandlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" ermächtigt (so auch LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 23.07.2010, L 8 SB 3119/08, Juris; Urt. v. 21.02.2013, L 6 SB 5788/11, Juris). Entsprechend ist auch in der Rechtsprechung anerkannt, dass ein Vergleich mit jeder der dort genannten Gruppen behinderter Menschen notwendig ist (BSG, Urt. v. 11.03.1998, B 9 SB 1/97 R, Juris).
cc) Zusammenfassend kommt der Senat auch auf der Basis der bisherigen Rechtsprechung, wonach die Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt sein muss und sich der behinderte Mensch vom ersten Schritt an nur unter großen Anstrengungen ohne fremde Hilfe fortbewegen kann, zu der Überzeugung, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" für die Zeit vor dem 18.12.2012 nicht nachgewiesen sind, während sie ab diesem Zeitpunkt bejaht werden können.
Für die Zeit vor der Operation an der Achillessehne stützt sich der Senat mit dem SG im Wesentlichen auf die Feststellungen und Schlussfolgerungen des Sachverständigen Dr. K. in seinem Gutachten vom 28.10.2011. Bei der dortigen Untersuchung konnte der Kläger, wenngleich Dr. K. nur eine kurze Strecke von 25 m beobachtet hat, im Wechselschritt mit nur leicht verkürzter Schrittlänge laufen. Er konnte beide Beine belasten. Nur beim Barfußgang war der Kläger auf zwei Unterarmgehstützen angewiesen, im Übrigen konnte Dr. K. keinen Grund dafür erkennen, dass Gehstützen benutzt wurden. Die Schmerzen, die der Kläger beim sicherlich mühevollen Gehen empfand, hat Dr. K. gewürdigt und - auch gestützt auf die durchgeführte, nicht sehr erhebliche Medikation - nachvollziehbar als nicht besonders ausgeprägt eingestuft. Weitere Einschränkungen der Beweglichkeit, etwa auf Grund degenerativer Folgen der Hemiparese, konnte Dr. K. in nennenswertem Umfang nicht feststellen, es bestand nur eine geringe Skoliose der Wirbelsäule. Der Senat hat keinen Anlass, an den Feststellungen Dr. K.s zu zweifeln. Vor diesem Hintergrund kann auch den Angaben der behandelnden Ärzte aus jener Zeit nicht gefolgt werden, die eine Gehstrecke von weniger als 100 m genannt (Attest Dr. H. vom 15.02.2011) bzw. Unterarmgehstützen für notwendig gehalten (Entlassungsbericht Kliniken B. vom 23.03.2011) hatten.
Dagegen liegen seit der Operation des Klägers an der Achillessehne im Dezember 2012 die Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" vor. Nach den Angaben von Dr. M. in dem Entlassungsbericht des SRH Gesundheitszentrums Bad L. vom 11.02.2013 war die Gehstrecke des Klägers bei Entlassung dort auf 60 bis 80 m limitiert, darüber hinaus bestand Rollstuhlpflicht. Selbst für die kurze Strecke, die der Kläger gehen konnte, war er - nunmehr - auf Unterarmgehstützen angewiesen. Der Grund hierfür liegt darin, dass der Kläger seit der Operation wegen der nunmehr spastisch gebeugten Großzehe rechts nicht mehr abrollen kann. Ob diese Beeinträchtigung von Dauer sein wird, bleibt abzuwarten: Aus dem Entlassungsbericht geht hervor, dass eine spontane Heilung nicht zu erwarten war, vielmehr sollte die Großzehe zunächst mit Botulinumtoxin-Injektionen behandelt werden, aber Dr. M. hielt auch eine operative Intervention für notwendig. Jedenfalls hat diese weitergehende Einschränkung des Gehvermögens bis zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 13.11.2013 angedauert, sodass sie für mehr als sechs Monate besteht und daher als Behinderung im Rechtssinne (vgl. § 2 Abs. 1, Abs. 2 SGB IX) eingestuft werden kann. Diese Einschätzung stützt der Senat auf die im Termin vorgelegten Atteste zweiter BG-Kliniken, auf den persönlichen Eindruck, den der Senat vor und in dem Termin vom Gehvermögen des Klägers hatte, sowie auf seine glaubhaften Angaben dort. Hiernach hat die Botox-Behandlung stattgefunden, aber keine Besserungen gezeitigt, während eine Operation bislang nicht durchgeführt worden ist. Ferner hat er angegeben, er benutze den Rollstuhl nach wie vor, wenn er mehr als äußerst kurze Gehstrecken bewältigen müsse. Hiernach bedarf der Kläger zwar nicht vom ersten Schritt außerhalb seines Pkw an fremde Hilfe. Aber die andere Variante der Voraussetzungen aus der VvV zu § 46 Nr. 11 StVO ist erfüllt. Der Kläger kann sich nur unter sehr großen Mühen und Anstrengungen zu Fuß fortbewegen.
2. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens beruht auf § 193 SGG. Der Senat hat davon abgesehen, die Kostenentscheidung des SG abzuändern, nachdem sich das angegriffene Urteil - bezogen auf den dort überprüften Zeitraum - als zutreffend erwiesen hat.
3. Die Revision war nicht zuzulassen. Keiner der in § 160 Abs. 2 SGG genannten Zulassungsgründe liegt vor. Insbesondere kommt der Entscheidung keine grundsätzliche rechtliche Bedeutung zu, nachdem es sich um eine Einzelfallentscheidung unter Würdigung der individuellen tatsächlichen Beeinträchtigungen des Klägers handelt.
Rechtskraft
Aus
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