S 20 SO 199/12

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 199/12
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 31.05.2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.10.2012 verurteilt, die Kosten der Eingliederungshilfe in Form von Fachleistungsstunden im Rahmen ambulant betreuten Wohnens der Klägerin für die Zeit vom 16.09.2010 bis 30.05.2011 in Höhe von 6.622,56 EUR zu übernehmen. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt der Beklagte.

Tatbestand:

Streitig ist ein Anspruch der Klägerin auf Eingliederungshilfe in Form von Fachleistungsstunden (FLS) im Rahmen ambulant betreuten Wohnens für die Zeit vom 16.09.2010 bis 30.05.2011 und Kosten in Höhe von 6.622,56 EUR.

Die am 00.00.0000 geborene Klägerin litt (auch) 2010/2011 an einer Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung sowie einer Erschöpfungsdepression. Sie wurde wiederholt wegen einer alkoholbedingten und psychischen Verhaltensstörung im Krankenhaus behandelt. Zuletzt im April 2013 wurde sie drei Wochen stationär wegen einer mittelgradigen depressiven Episode, einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ und einer hyperkinetischen Störung behandelt. Im streitbefangenen Zeitraum lebte sie allein in einer kleinen Wohnung in einem Mehrfamilienhaus.

Am 16.09.2010 beantragte die Klägerin über einen anerkannten Anbieter von Leistungen des betreuten Wohnens (BeWo). Sie legte dazu einen individuellen Hilfeplan (IHP) vor, in dem ein FLS-Bedarf von 3 ½ Stunden pro Woche für Information, Beratung, Förderung, Anleitung, Anwesenheit und Begleitung angesetzt wurde. Im Rahmen der förmlichen Antragstellung legte sie diverse persönliche Unterlagen vor, desweiteren fachärztliche Stellungnahmen des behandelnden Psychiaters L. vom 27.01. und 28.03.2011. Darin beschrieb der Arzt eine wesentliche seelische Behinderung der Klägerin und teilte mit, durch die erstmals adäquate sozialpädagogische Unterstützung habe sich eine wesentliche Verbesserung in der Alltagsbewältigung ergeben.

Die Klägerin erhielt in der Zeit vom 16.09.2010 bis 30.05.2011 nach Angaben des BeWo-Dienstleisters insgesamt 109,5 FLS (durchschnittlich drei Stunden pro Woche); dafür sind ihr bzw. dem BeWo-Anbieter bei einem anerkannten Stundensatz von 50,40 EUR und einem Steigerungsfaktor von 1,2 Kosten in Höhe von 6.622,56 EUR entstanden (Rechnung Nr. 168 des BeWo-Anbieters vom 12.03.2013). Der Leistungserbringer ist damit in Vorleistung gegangen; die Kosten sind noch nicht abgerechnet worden; die Forderung gegenüber der Klägerin ist gestundet.

Durch Bescheid vom 31.05.2011 lehnte der Beklagte den Eingliederungshilfeantrag ab. Zur Begründung führte er aus, aus dem IHP ergebe sich, dass die Klägerin grundsätzlich zu einer selbstständigen Lebensführung in der Lage sei. Die vorliegenden Krankheitsbilder bedürften einer Krankenbehandlung, gegebenenfalls einer Psychotherapie, sowie der Teilnahme an Selbsthilfegruppen; dafür sei vorrangig die Krankenversicherung zuständig. Eine wesentliche Behinderung im Sinne der Eingliederungshilfeverordnung liege nicht vor und drohe auch nicht einzutreten.

Dagegen legte die Klägerin am 29.06.2011 Widerspruch ein. Sie meinte, die festgestellten seelischen Störungen seien sehr wohl geeignet (gewesen), eine wesentliche Einschränkung der Teilhabefähigkeit zu verursachen. Sie erfahre zwar Unterstützung durch ihren Vater, jedoch benötige sie eine feste Struktur und einen Ansprechpartner, desweiteren Hilfestellung und Anleitung für die verschiedensten Bereiche des Alltags, unabhängig von ihrer psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung. Die Klägerin verwies auf ein Gutachten der Gesundheitsamtsärztin (Psychiaterin) von B. vom 10.02.2011 und ein Gutachten des Psychiaters Dr. E. vom 13.07.2011 im Rahmen eines Erwerbsminderungsrentenverfahrens. Im Gutachten der Gesundheitsamtsärztin heißt es u.a., die Klägerin benötige eine enge Struktur und einen kontinuierlich zur Verfügung stehenden Ansprechpartner. Im Rentengutachten stellte der Sachverständige fest, die Klägerin könne allenfalls einer Tätigkeit von drei bis unter sechs Stunden täglich nachgegen; er stellte eine instabile Persönlichkeitsstörung als gesichert fest und meinte, durch das Erkrankungsbild seien insbesondere Aspekte der Zuverlässigkeit, der Stresstoleranz, der Belastbarkeit, der Frustrationstoleranz und der Lernfähigkeit betroffen. Er hielt eine ambulante psychiatrisch/psychotherapeutische Behandlung für sinnvoll und empfahl daneben Maßnahmen zur Teilhabe. Im Formularteil des Rentengutachtens kreuzte der Sachverständige bei der Frage, ob die Klägerin bei Vorliegen einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung ihre Angelegenheiten selbst besorgen könne, dass Kästchen "ja" an.

Der Beklagte holte eine fachliche Stellungnahme ihres Medizinisch-Psychologen Dienstes (MPD) ein. Dieser kam unter dem 24.05.2012 zum Ergebnis, bei der Klägerin liege eine wesentliche seelische Behinderung nicht vor, da sie – wie sich eindrucksvoll aus dem Gutachten des Rentenversicherungsträgers ergebe – zu einer selbstständigen Lebensführung in der Lage sei.

Gestützt hierauf wies der Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 25.10.2012 zurück.

Dagegen hat die Klägerin am 15.11.2012 Klage erhoben. Sie meint, die fachliche Stellungnahme des MPD habe nicht alle Tatsachen berücksichtigt. Ihr Gesundheitszustand sei keinesfalls stabil; sie bemühe sich, sei aber ohne Hilfe überfordert. Die Klägerin hat eine Dokumentation über die geleisteten FLS in der Zeit von September 2010 bis Mai 2011 vorgelegt, desweiteren eine fachärztliche Stellungnahme des Facharztes L. vom 05.11.2010.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 31.05.2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.10.2012 zu verurteilen, die Kosten der Eingliederungshilfe in Form von Fachleistungsstunden im Rahmen ambulant betreuten Wohnens für die Zeit vom 16.09.2010 bis 30.05.2011 in Höhe von 6.622,56 EUR zu übernehmen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er meint, dass die Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung und die Erschöpfungsdepression zwar behandlungsbedürftig seien, aber nicht ausreichten, einen Anspruch auf Übernahme der Kosten der ambulanten Maßnahme des betreuten Wohnens zu begründen. Er behauptet, die Klägerin sei in der Lage (gewesen), selbstständig zu wirtschaften. Er stützt sich hierbei auf Angaben im vorgelegten IHP und die Feststellung des Sachverständigen im Rentengutachten vom 13.07.2011. Die Klägerin habe vorrangige Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung nur sporadisch in Anspruch genommen; die psychiatrische Behandlung habe sie nur unregelmäßig mit nicht ausreichender Intensität verfolgt; insofern sei Eingliederungshilfe weder erforderlich noch geeignet. Aus der Dokumentation des BeWo-Leistungserbringers schließt der Beklagte, dass bereits zu Anfang klar gewesen sei, dass die Klägerin eigentlich eine gesetzliche Betreuung für Vermögenssorge und Behördenangelegenheiten gebraucht habe sowie eine stationäre Therapie; sozialpädagogische Maßnahmen zur Unterstützung des selbstständigen Wohnens seien nicht erforderlich gewesen, da die Klägerin eigenständig gewohnt und über soziale Kontakte verfügt habe. Soweit der behandelnde Facharzt L. in seinem Befundbericht mitgeteilt habe, dass im streitigen Zeitraum Beeinträchtigungen "zumindest teilweise" gegeben gewesen seien, bedeute dies im Umkehrschluss, dass im streitigen Zeitraum teilweise eine selbstständige Lebensführung möglich gewesen sei.

Das Gericht hat zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts Befundberichte des Psychiaters L. vom 09.07., 05.08. und 01.10.2013 eingeholt und zwei Berichte des Universitätsklinikums Aachen über stationäre Behandlungen im April 2013 und Oktober 2012 beigezogen. Wegen des Ergebnisses wird auf den Inhalt dieser Unterlagen verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Klägerin betreffende Verwaltungsakte des Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie rechtswidrig sind. Sie hatte (jedenfalls) in der Zeit vom 16.09.2010 bis 30.05.2011 Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe in Form von FLS im Rahmen ambulant betreuten Wohnens.

Die Klägerin zählt zum Kreis der Leistungsberechtigten im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Danach erhalten Leistungen der Eingliederungshilfe Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Seelische Störungen, die eine wesentliche Einschränkung der Teilhabefähigkeit im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII zur Folge haben können, sind gemäß § 3 der Verordnung nach § 60 SGB XII (Eingliederungshilfe-Verordnung) 1. körperlich nicht begründbare Psychosen, 2. seelische Störungen als Folge von Krankheiten oder Verletzungen des Gehirns, von Anfallsleiden oder von Krankheiten oder körperlichen Beeinträchtigungen, 3. Suchtkrankheiten, 4. Neurosen und Persönlichkeitsstörungen.

Bei der Klägerin besteht eine wesentliche seelische Behinderung im Sinne der Eingliederungshilfe-Verordnung. Wie sich aus den ärztlichen Bescheinigungen des behandelnden Psychiaters L., dem Gesundheitsamtsgutachten vom 10.02.2011 und dem Rentengutachten des Sachverständigen Dr. E. vom 13.07.2011 ergibt, leidet (und litt im streitbefangenen Zeitraum) die Klägerin an einer Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, wiederkehrenden Depressionen und einer Persönlichkeitsstörung.

Dem Beklagten ist zuzugeben, dass eine medizinische Behandlung der psychischen Krankheitsbilder und ihrer Folgen indiziert, sinnvoll und wünschenswert war und ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass entsprechend dem Nachranggrundsatz des § 2 Abs. 1 SGB XII und der Regelung des § 53 Abs. 2 Satz 2 SGB XII solche Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) vorrangig sind und einen Anspruch auf Eingliederungshilfe ausschließen. Mit der von der Klägerin beantragten Eingliederungshilfe sind andere Leistungszwecke verfolgt worden, die sich zwar teilweise mit Leistungen zur medizinischen Rehabilitation überschneiden können, aber auch darüber hinaus gehen. Die Zwecksetzung der Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sind mit der Zwecksetzung der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung nicht identisch; insbesondere verfolgen die Leistungen nach § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 55 SGB IX zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft Ziele, die über die Zwecke der gesetzlichen Krankenversicherung hinaus gehen. Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sind gemäß § 55 Abs. 2 SGB IX insbesondere (u.a.) Hilfen zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten, die erforderlich und geeignet sind, behinderten Menschen die für sie erreichbare Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen (Nr. 3), Hilfen zu selbstbestimmtem Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten (Nr. 6) und Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben (Nr. 7) (vgl. rechtskräftiges Urteil der Kammer vom 03.09.2013 – S 20 SO 155/12; BSG, Urteil vom 19.05.2009 – B 8 SO 32/07 R). Solche Leistungen der Eingliederungshilfe wären nur dann nicht erforderlich, wenn eine erfolgreiche Rehabilitation des behinderten Menschen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ebenso zu erreichen gewesen wäre (LSG NRW, Urteil vom 20.08.2012 – L 20 SO 25/09). Dies trifft – und traf im streitbefangenen Zeitraum – im Fall der Klägerin jedoch nicht zu.

Die Klägerin benötigt(e) vorrangig Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft gem. § 55 SGB IX. Soweit medizinische Maßnahmen der Rehabilitation aufgrund der psychischen Krankheitsbilder und deren Folgen sinnvoll und wünschenswert erschienen, kamen sie schon deshalb nicht – eingliederungshilfeausschließend – in Betracht, weil es an der dafür notwendigen Rehabilitationsfähigkeit der Klägerin fehlte. Der Sachverständige Dr. E. hat in dem Rentengutachten vom 13.07.2011 schlüssig, nachvollziehbar und überzeugend dargelegt, dass bei der Klägerin eine Persönlichkeitsstörung mit gestörter Impulskontrolle bestand. Er hat beschrieben, dass die Klägerin in zwei Maßnahmen gewesen sei, beide Maßnahmen aber abgebrochen habe; jugendpsychiatrische Behandlung sei nur sporadisch und unregelmäßig erfolgt. Bei der Untersuchung hat der Sachverständige eine im unteren Normbereich liegende Intelligenz festgestellt, was dazu führe, dass die Lernfähigkeit und Bildungsfähigkeit der Klägerin begrenzt seien. Durch das Erkrankungsbild seien insbesondere Aspekte der Zuverlässigkeit, der Stresstoleranz, der Belastbarkeit, der Frustrationstoleranz und der Lernfähigkeit betroffen. Solange es aber an einer ausreichenden Introspektionsfähigkeit sowie am Durchhaltevermögen für eine – insbesondere stationäre – Therapie fehlt, wenn sie denn medizinisch notwendig (gewesen) sein sollte, war und ist die Rehabilitationsfähigkeit aufgrund der durch die oben genannten diagnosebedingten Funktions- und Fähigkeitsstörungen erheblich eingeschränkt. Vor diesem Hintergrund hat der Sachverständige Dr. E. im Rentengutachten auch (stationäre) Leistungen zur Rehabilitation abgelehnt, aber ambulante psychiatrisch/psychotherapeutische Behandlung für sinnvoll erachtet. Dem schließt sich die Kammer an. Um aber gerade die Bereitschaft und das Durchhaltevermögen für eine derartige ambulante Behandlung herzustellen bzw. zu fördern, waren im streitbefangenen Zeitraum (und sind möglicherweise auch künftig, worüber hier jedoch nicht zu entscheiden ist,) Leistungen des betreuten Wohnens dringend erforderlich.

Die Leistungen der Eingliederungshilfe im Rahmen ambulant betreuten Wohnens waren auch deshalb erforderlich, weil die Klägerin – entgegen der Einschätzung des Beklagten – nicht zu einer selbständigen Lebens- und Haushaltsführung in der Lage war. Anders als der Beklagte vermag die Kammer dem IHP gerade nicht zu entnehmen, dass die Klägerin auch ohne Leistungen des ambulant betreuten Wohnens im Stande war, ihren Haushalt zu führen und ihren Alltag zu bewältigen. Zwar hat die Klägerin im Abschnitt II. des IHP ausgeführt, dass sie sich in ihrer Freizeit um den Haushalt kümmere, andererseits sich viel Sorgen um ihre Zukunft mache; aufgrund ihrer Psyche fehlte ihr die Motivation, sich mit Freunden zu treffen; sie verlasse selten die Wohnung. Hierzu schreibt der BeWo-Leistungserbringer aus fachlicher Sicht, dass die Wohnung zu klein und die Klägerin durch die Erkrankung sehr eingeschränkt sei; es komme zu Organisationsproblemen im Alltag, verminderter Stress- und Frustrationstoleranz und einer Vielzahl von zwischenmenschlichen Schwierigkeiten und Belastungen. Die Klägerin neige dazu, auch wichtige Termine und Vereinbarungen zu vergessen, sich bei Tätigkeiten zu verzetteln oder planvolles Vorgehen und Überblick vermissen zu lassen. Sie habe Schwierigkeiten, ihr Geld einzuteilen; sie öffne die Post nicht oder unregelmäßig, was eine Regelung der Angelegenheiten zusätzlich erschwere. Soweit Dr. E. im Rentengutachten die Frage nach der Fähigkeit der Klägerin, ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen, bejaht hat, ist diese Beurteilung wenig aussagefähig. Zum einen hat sie für den Begutachtungsgegenstand, die Voraussetzungen einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, wenig oder keine Bedeutung; zum anderen stützt sie sich, wie sich aus Blatt 12 des Gutachtens ergibt, auf anamnestische Angaben der Klägerin und deren subjektive Schilderung ihres Tagesablaufes. Gerade der IHP und die medizinischen Befunde zeigen jedoch, dass die Klägerin dazu neigt, sich selbst zu überschätzten und im Ergebnis gerade nicht in der Lage ist (und im streitigen Zeitraum war), ihren Alltag zu strukturieren und zu bewältigen. Der Psychiater L. hat in seinem Befundberichten dargestellt, es falle der Klägerin schwer, ihren Alltag zu organisieren (09.11.2009), sie sei durch ihre Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung in ungewöhnlich beeinträchtigender Weise in ihrer alltäglichen Lebensplanung eingeschränkt (05.11.2010). Ihre Kommunikation sei, insbesondere durch die Schwierigkeiten, Termine und Vereinbarungen wie vorgesehen wahrzunehmen, deutlich beeinträchtigt gewesen. Daraus und aus den Schwierigkeiten, vorausschauend zu planen, hätten ständige wirtschaftliche Schwierigkeiten resultiert.

Nach der von der Beklagten mit Leistungsanbietern regelmäßig geschlossenen "Leistungs- und Prüfungsvereinbarung gem. §§ 5 und 70 ff. SGB XII für den Leistungsbereich Ambulant Betreutes Wohnen für Menschen mit Behinderung" sind Ziele der ambulanten Eingliederungshilfe zum selbstständigen Wohnen u.a. die Beseitigung, Milderung oder Verhütung von Verschlimmerung einer vorhandenen Behinderung oder deren Folgen, die Erhaltung oder Beschaffung einer Wohnung, eine möglich selbstständige Lebensführung, eine angemessene Tagesstruktur und Freizeitgestaltung, eine Eingliederung in die Gesellschaft, insbesondere Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft, Mobilität und Orientierung sowie Konflikt- und Krisenbewältigung. Die Leistung hat das Ziel, der betreuten Person unabhängig von Art und Schwere der Behinderung eine weitgehend eigenständige Lebensführung, soziale Eingliederung und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu eröffnen und zu erhalten (§ 1 Abs. 2 der Leistungs- und Prüfungsvereinbarung). Direkte Betreuungsleistungen sind z.B. Hausbesuche bei der betreuten Person, Gespräche mit der betreuten Person und ihrem sozialen Umfeld, Begleitung der betreuten Person außerhalb der eigenen Wohnung, telefonische Kontakte bzw. andere Kommunikationswege mit der betreuten Person, Begleitung und Unterstützung beim Wechsel in eine neue Wohn- und Lebensform. Solcher Betreuungsleistungen durch FLS des BeWo-Anbieters bedurfte die Klägerin, wie sich für die Kammer nachvollziehbar aus dem IHP und auch der Dokumentation des BeWo-Anbieters über die geleisteten FLS ergibt. Die Leistungen sind auch durchaus erfolgsorientiert und zielführend gewesen. Bereits in den Stellungnahmen vom 27.01. und 28.03.2011 hat Dr. L. feststellen können, dass "durch die erstmals adäquate sozialpädagogische Unterstützung, sich "eine wesentliche Verbesserung in der Alltagsbewältigung ergeben" habe. Das diese Erfolge offenbar nicht dauerhaft waren, wie sich aus den Entlassungsberichten der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Uni-Klinik Aachen vom 26.11.2012 und 05.08.2013 ergibt, liegt nach Überzeugung der Kammer nicht zuletzt daran, dass der Beklagte die Eingliederungshilfeleistung durch die angefochtenen Bescheide abgelehnt hat, woraufhin der BeWo-Leistungserbringer – wirtschaftlich zwangsläufig – seine weitere Leistungen eingestellt hat. Daraus kann jedoch nicht im Nachhinein der Schluss gezogen werden, dass die Eingliederungshilfe im streitbefangenen Zeitraum nicht notwendig gewesen ist.

Soweit der Beklagte aus einzelnen in der Dokumentation des BeWo-Anbieters beschriebenen Tätigkeiten (Begleitung zu Behörden; Schuldenregulierung) den Schluss zieht, es sei bereits zu Anfang klar gewesen, dass die Klägerin eigentlich eine gesetzliche Betreuung für Vermögenssorge und Behördenangelegenheiten gebraucht habe, verkennt er offensichtlich die Bedeutung und die Voraussetzungen der gerichtlichen Bestellung eines Betreuers sowie dessen Aufgaben (vgl. §§ 1896 ff. BGB). Es mag zwar Überschneidungen in den Aufgaben eines rechtlichen Betreuers und eines BeWo-Leistungserbringers geben; jedoch kann ein gerichtlich bestellter Betreuer die über seinen Aufgabenkreis weit hinausgehenden Leistungen der Eingliederungshilfe im Rahmen des Betreuten Wohnens ebenso wenig erbringen, wie ein BeWo-Anbieter verantwortlich die Aufgaben eines rechtlichen Betreuers wahrnehmen oder gar ersetzen kann.

Unter Berücksichtigung aller ihr bekannt gewordenen Umstände ist die Kammer deshalb davon überzeugt, dass die in der Zeit vom 16.09. bis 30.05.2011 erbrachte Eingliederungshilfe in Form von FLS im Rahmen ambulant betreuten Wohnens notwendig war und der geleistete Umfang auch nachvollziehbar ist. Dementsprechend hat der Beklagte die dem BeWo-Leistungserbringer entstandenen Kosten von 6.622,56 EUR zu übernehmen und diesem die Leistung entsprechend zu vergüten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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