L 5 AS 63/14 B ER

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 44 AS 3209/13 ER
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 5 AS 63/14 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg vom 8. Dezember 2013 wird abgeändert. Der Beschwerdegegner wird verpflichtet, dem Beschwerdeführer vorläufig Leistungen für die Zeit vom 15. bis 31. Oktober 2013 i.H.v. 222,25 EUR, vom 1. November 2013 bis Dezember 2014 monatlich i.H.v. 444,50 EUR sowie vom 1. Januar bis 31. März 2014 monatlich i.H.v. 452,50 EUR zu bewilligen. Der Beschwerdegegner hat die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeführers für beide Rechtszüge zu erstatten. Dem Beschwerdeführer wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung bewilligt.

Gründe:

I.

Der Antragsteller zu 4. des erstinstanzlichen Verfahrens und Beschwerdeführer begehrt die vorläufige Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II).

Der am ... 1968 geborene, erwerbslose Beschwerdeführer ist rumänischer Staatsbürger. Er war nach seinen Angaben im Februar 2013 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, wo er eine volljährige Tochter habe. Seit dem 15. April 2013 ist er nach Darstellung des Beschwerdegegners unter der jetzigen Anschrift gemeldet.

Er zog zum 1. Juli 2013 mit den Antragstellern zu 1. bis 3. des erstinstanzlichen Verfahrens, einer alleinerziehenden Mutter mit zwei minderjährigen Kindern, in die 80 m² große gemeinsame Wohnung. Diese bezogen schon zuvor vom Beschwerdegegner Leistungen nach dem SGB II, wobei auch ein Zuschlag für Alleinerziehung gewährt wurde. Der Umzug erfolgte ohne dessen vorherige Zusicherung. Im Rahmen der Veränderungsmitteilung vom 26. Juni 2013 war zunächst nicht mitgeteilt worden, dass auch der Beschwerdeführer in der neu bezogenen Wohnung wohnen sollte. Der Mietvertrag war zunächst unter dem 21. Juni 2013 nur von der Antragstellerin zur 1. des erstinstanzlichen Verfahrens unterzeichnet worden. Mit Änderungsvertrag vom 16. September 2013 unterzeichnete auch der Beschwerdeführer als Mitmieter. Die geltend gemachte Bruttowarmmiete beträgt monatlich 398 EUR, die Beheizung erfolgt mit Nachtspeicheröfen.

Am 7. August 2013 beantragten die Antragstellerin zu 1. bis 3. des erstinstanzlichen Verfahrens und der Beschwerdeführer Leistungen nach dem SGB II als Bedarfsgemeinschaft. Der Beschwerdegegner bewilligte mit Bescheid vom 21. September 2013 nur der Antragstellerin zu 1. des erstinstanzlichen Verfahrens Leistungen für die Zeit vom 1. Oktober 2013 bis 31. März 2014. Dabei legte er für sie und ihre Kinder 3/4 der bisherigen Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU) zu Grunde (=215,68 EUR/Monat). Wegen des Bezugs von Kindergeld und Unterhaltsvorschuss seien die Antragsteller zu 2. und 3. des erstinstanzlichen Verfahrens nicht hilfebedürftig. Einen Leistungsanspruch des Beschwerdeführers verneinte er gemäß § 7 SGB II. Dagegen ist am 14. Oktober 2013 Widerspruch eingelegt worden.

Die Antragstellerin zu 1. bis 3. des erstinstanzlichen Verfahrens und der Beschwerdeführer haben am 15. Oktober 2013 einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht Magdeburg gestellt. Ihnen stünden Leistungen i.H.d. tatsächlichen KdU zu, da der Umzug zum Zweck der Begründung einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft erfolgt sei. Der Beschwerdeführer sei nicht vom Leistungsbezug gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen. Diese Regelung verstoße gegen das Gleichbehandlungsgebot nach Art. 4 VO 883/2004/EG. Ein Leistungsausschluss sei auch nicht nach Art. 24 Abs. 2 RL 2004/98/EG möglich, denn es handele sich nicht um eine Leistung der Sozialhilfe. Die Folgenabwägung müsse vorliegend zu seinen Gunsten ausgehen. Er übernehme familiäre Verpflichtungen als faktischer Stiefvater. Die Bedarfsgemeinschaft drohe auf Dauer zu zerbrechen, denn sein Bedarf könne nicht durch die Leistungen an die Antragsteller zu 1. bis 3. des erstinstanzlichen Verfahrens gedeckt werden. Entgegen der Darstellung des Beschwerdegegners erhalte er nicht monatlich 500 EUR von seinen Eltern aus Rumänien. Vielmehr habe er lediglich im April und Juli 2013 solche Zuwendungen erhalten.

Der Beschwerdegegner hat an seiner Rechtsauffassung festgehalten. Er hat jedoch eingeräumt, dass grundsätzlich das Umzugserfordernis bei der Begründung einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft anzunehmen sei.

Das Sozialgericht hat den Beschwerdegegner mit Beschluss vom 18. Dezember 2013 verpflichtet, den Antragstellern zu 1. und 2. des erstinstanzlichen Verfahrens weitere Leistungen unter Berücksichtigung der tatsächlichen KdU zu zahlen. Hinsichtlich des Beschwerdeführers hat das Sozialgericht den Antrag abgelehnt. Das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 Europäisches Fürsorgeabkommen (ESA) sei nicht einschlägig, da Rumänien dieses bislang nicht ratifiziert habe. Der Anspruch ergebe sich auch nicht aus Art. 4 VO 883/2004 EG, denn der Beschwerdeführer sei seit seiner Einreise nicht erwerbstätig. Deshalb falle er nur unter den sachlichen Geltungsbereich der RL 2004/48/EG. Das dort in Art. 24 Abs. 1 Satz 1 geregelte Gleichbehandlungsgebot sei nicht einschlägig. Denn die Bundesrepublik Deutschland habe die in Art. 24 Abs. 2 RL 2004/48/EG vorgesehene Möglichkeit des mitgliedsstaatlichen Leistungsausschlusses mit § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II umgesetzt. Leistungen nach dem SGB II seien keine Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt des Mitgliedstaats erleichtern sollten, sondern Sozialhilfeleistungen i.S.v. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/48/EG. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit eines Anordnungsanspruchs ergebe sich auch nicht aus dem - zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Volltext vorliegenden - Vorlagebeschluss des Bundessozialgerichts (BSG) vom 12. Dezember 2013 (B 4 AS 9/13 R), dessen Ausgang abzuwarten bleibe.

Gegen den ihm am 18. Dezember 2013 zugestellten Beschluss hat der Beschwerdeführer am 17. Januar 2014 Beschwerde eingelegt. Er verweist auf sein bisheriges Vorbringen.

Der Beschwerdegegner hält an seiner Auffassung fest. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II werde nicht durch das EFA verdrängt. Auch nach Auffassung des BSG sei der von der Bundesregierung am 19. Dezember 2011 erklärte Vorbehalt wirksam. Er hat mit Änderungsbescheid vom 15. Januar 2014 den Beschluss des Sozialgerichts vorläufig umgesetzt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Akten und Beiakten Bezug genommen. Die Verwaltungsakte des Beschwerdegegners hat vorgelegen und ist Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

II.

1.

Die Beschwerde des Beschwerdeführers ist form- und fristgerecht erhoben i.S.v. § 173 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Sie ist auch statthaft gemäß § 172 Satz 3 Ziffer 1 i.V.m. § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG. Die begehrten Regelleistungen und die anteiligen KdU im Zeitraum vom 15. Oktober 2013 bis 31. März 2014 übersteigen den Wert des Beschwerdegegenstands von 750 EUR.

2.a.

Die Beschwerde ist auch begründet, denn das Sozialgericht hat zu Unrecht die vorläufige Bewilligung der begehrten Leistungen für den Beschwerdeführer abgelehnt. Die Voraussetzungen für die geltend gemachte einstweilige Anordnung liegen hier vor.

Das Gericht kann nach § 86b Abs. 2 SGG eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragsstellers erschwert oder wesentlich vereitelt wird. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist gemäß § 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) stets die Glaubhaftmachung des Vorliegens sowohl eines Anordnungsgrunds (also die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile), als auch eines Anordnungsanspruchs (die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Hauptsache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs). Grundsätzlich soll wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung die endgültige Entscheidung der Hauptsache nicht vorweg genommen werden.

Der Beweismaßstab im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erfordert im Gegensatz zu einem Hauptsacheverfahren für das Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatsachen nicht die volle richterliche Überzeugung. Dies erklärt sich mit dem Wesen dieses Verfahrens, das wegen der Dringlichkeit der Entscheidung regelmäßig keine eingehenden, unter Umständen langwierigen Ermittlungen zulässt. Deshalb kann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur eine vorläufige Regelung längstens für die Dauer des Klageverfahrens getroffen werden, die das Gericht in der Hauptsache nicht bindet. Ein Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft gemacht, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen überwiegend wahrscheinlich sind. Dies erfordert, dass mehr für als gegen die Richtigkeit der Angaben spricht (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. § 86b Rn. 16b).

Der Senat geht vom Vorliegen eines Anordnungsgrunds aus. Der Beschwerdeführer hat im Antragsverfahren angegeben, lediglich zweimal von seinen Eltern Zuwendungen in Höhe von 500 EUR erhalten zu haben. Dies steht zwar im Widerspruch zu dem Telefonvermerk vom 20. September 2013 auf Bl. 71 der Verwaltungsakte. Danach habe er bis Ende Juli 2013 monatlich 500 EUR von seiner Mutter erhalten. Diese Frage kann jedoch offen bleiben, da jedenfalls kein Hinweis auf weitere Zuwendungen im streitigen Zeitraum vorliegt.

Auch das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs bejaht der Senat. Er hält die vorläufige Bewilligung von Leistungen im Rahmen der Folgenabwägung für geboten. Insoweit wird auf die bereits mit Hinweis vom 31. Januar 2014 genannten Beschlüsse des erkennenden Senats vom 28. Februar 2013 (L 5 AS 32/13 B ER und L 5 AS 33/13 B) wie vom 4. März 2013 (L 5 AS 6/10 B ER und L 5 AS 7/13 B; juris) verwiesen. In Anbetracht der grundsätzlich zu klärenden komplexen Rechtsfragen hinsichtlich der Vereinbarkeit von § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II mit den Vorschriften der Europäischen Union sowie der bundesweit uneinheitlichen Rechtsprechung kann im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes keine abschließende Entscheidung getroffen werden.

Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass auch der - nunmehr im Volltext vorliegende - Vorlagebeschluss des BSG vom 12. Dezember 2013 nicht die hinreichende Überzeugung von der Rechtmäßigkeit des Leistungsausschlusses zulässt. Zwar betrifft dieser Beschluss eine schwedische Staatsangehörige, weshalb dort zuvörderst die Frage des von der Bundesregierung im November 2011 erklärten Vorbehalts zum EFA als streitrelevant erachtet worden ist. Darüber hinaus hat das BSG aber auch die Frage der Vereinbarkeit von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit europäischen Primärrecht aufgeworfen. Es sieht die Leistungen nach dem SGB II nicht als eine reine Sozialhilfeleistung an, sondern als Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen (BSG, a.a.O., (42 f.)).

Ob die in Art. 24 Abs. 2 RL 2004/48/EG vorgesehene Möglichkeit des mitgliedsstaatlichen Leistungsausschlusses auf die Leistungen des SGB II anwendbar ist, ist daher fraglich. Problematisch ist auch, dass § 7 Abs. 2 Nr. 2 SGB II für Unionsbürger mit einem Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche - wie bei dem Beschwerdeführer - keine einzelfallbezogene Berücksichtigung einer Verbindung zum innerstaatlichen Arbeitsmarkt oder einer sonstigen tatsächlichen Verbindung zum Mitgliedstaat zulässt. Dies könnte bedeuten, dass eine unzulässige Typisierung vorliegt, die im Widerspruch zu Art. 45 Abs. 2 AEUV steht. Auch die jüngsten Äußerungen der EU-Kommission in der Presseöffentlichkeit weisen auf eine solche Sichtweise hin (vgl. etwa Süddeutsche.de, 10. Januar 2014 "Brüssel fordert Hartz IV-Prüfung für arbeitslose EU-Zuwanderer").

Insoweit lässt sich - hinsichtlich des Beschwerdeführers - anhand der bisherigen Erkenntnisse weder positiv noch negativ feststellen, inwieweit eine Verbindung zum innerstaatlichen Arbeitsmarkt besteht, bzw. ob angesichts der dargestellten Rolle als Stiefvater für die Antragsteller zu 2. und 3. des erstinstanzlichen Verfahrens eine sonstige tatsächliche Verbindung zur Bundesrepublik Deutschland besteht. Für den Wahrheitsgehalt der Darstellung eines familiären Zusammenhalts spricht, dass die Antragstellerin zu 1. des erstinstanzlichen Verfahrens durch die Angabe des Beschwerdeführers als Partner in nichtehelicher Lebensgemeinschaft auf den ihr zustehenden Zuschlag für Alleinerziehende verzichtet hat.

b.

Hinsichtlich des vorläufigen Anspruchs auf die geltend gemachten KdU verweist der Senat auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Beschlusses des Sozialgerichts.

Der vorläufige Leistungsanspruch des Beschwerdeführers ergibt sich aus den anteilig auf ihn entfallenden geltend gemachten KdU (1/4 von 398 EUR = 99,50 EUR) sowie der Regelleistung i.H.v. 345 Euro bzw. ab Januar 2014 353 Euro. Für Oktober 2013 war nur ein Anspruch in Höhe der Hälfte des Monatsbetrags zuzusprechen, da der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz erst am 15.Oktober 2013 erhoben worden ist.

3.

Der Beschwerdeführer hat Anspruch auf die beantragte Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren ohne Ratenzahlungsverpflichtung.

Nach § 73a Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 114 ff. Zivilprozessordnung (ZPO) ist auf Antrag Prozesskostenhilfe zu bewilligen, soweit der Antragsteller nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder -verteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Dabei hat der Antragsteller gemäß § 115 ZPO für die Prozessführung sein Einkommen und Vermögen einzusetzen, soweit ihm dies nicht aufgrund der dort genannten Tatbestände unzumutbar ist.

Als hinreichend sind die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels einzuschätzen, wenn der Erfolg in der Hauptsache zwar nicht gewiss, eine Erfolgschance jedoch nicht unwahrscheinlich ist (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 13. März 1990, 1 BvR 94/88, NJW 1991, S. 413 f.).

Das Beschwerdeverfahren hatte hinreichende Aussicht auf Erfolg. Der Beschwerdeführer ist auch bedürftig im Sinn des Gesetzes. Er verfügt nach seinen glaubhaften gemachten Angaben weder über Einnahmen noch anzurechnendes Vermögen.

4.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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