S 26 KA 44/02

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Dortmund (NRW)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
26
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 26 KA 44/02
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 23.10.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.03.2002 verurteilt, den Kläger ab 01.07.2003 nicht zum ärztlichen Notfalldienst in dem Gebiet der Beigeladenen heranzuziehen. Die Beklagte und die Beigeladene tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte. Der Streitwert beträgt 25.000,00 Euro.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) den Kläger zum Notfalldienst im Zuständigkeitsbereich der beigeladenen Kassenärztlichen Vereinigung Koblenz verpflichten darf.

Der Kläger ist als Internist in S niedergelassen und nimmt an der vertragsärztlichen Versorgung teil.

Im Dezember 1985 fand in S eine Abstimmung von 43 am Notfalldienst in S teilnehmenden Vertragsärzten über die Mitversorgung von angrenzenden Dörfern in Rheinland-Pfalz statt. Mit 34 zu 9 Stimmen sprach sich die Mehrheit der Ärzte für den "grenzüberschreitenden" Notfalldienst aus.

Im Mai 2001 verlangte der Kläger von der Beklagten Auskunft darüber, auf welcher rechtlichen Grundlage Ärzte zum Notdienst im Bezirk der KV Koblenz verpflichtet werden könnten. Da man inzwischen einen zweigeteilten Notdienst in S durchführe, müssten Kollegen aus S-Mitte bis zu 14 km von ihrem Praxissitz in den Bezirk der KV Koblenz fahren. Bei der bisherigen Dreiteilung des Notdienstes habe sich die Versorgung der Patienten aus Rheinland-Pfalz auf die Kollegen aus S-Süd beschränkt. Unterstützt von 11Vertragsärzten aus S verlangte der Kläger, entweder zu dieser Regelung zurückzukehren oder den Notdienst auf das Gebiet der KVWL zu beschränken.

Mit Bescheid vom 23.10.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.03.2002 lehnte die Beklagte eine Änderung der Notfalldienstbereiche im Raum S ab. Sie berief sich auf die Abstimmung im Jahre 1985 und eine weitere Abstimmung im Jahre 1989 zur Zweiteilung der Notfalldienstbereiche sowie eine Fragebogenaktion im Jahre 2000. Die Einbeziehung der rheinland-pfälzischen Orte M, B und N sei wegen ihrer Grenzlage bzw. Enklavensituation einvernehmlich zwischen der KVWL und der KV Koblenz vereinbart worden. Diese öffentlich-rechtliche Vereinbarung sei die rechtliche Grundlage für die KV-übergreifende Notfalldienstregelung. In der Gemeinsamen Notfalldienstordnung der Ärztekammer Westfalen-Lippe und der KVWL (GNO) vom 26.01.2002 sei dies noch einmal deklaratorisch dargestellt worden.

Gegen den am 08.05.2002 dem Kläger zugestellten Widerspruchsbescheid richtet sich die am Montag, den 10.06.2002 erhobene Klage. Eine öffentlich-rechtliche Vereinbarung über den grenzüberschreitenden Notfalldienst existiere nicht. Insbesondere fehle es an der nach § 5 Abs. 5 GNO erforderlichen schriftlichen Vereinbarung. Die in M tätigen Ärzte könnten den Notfalldienst selbst durchführen. Die Beigeladene könne zudem auf Ärzte aus den benachbarten Orten K und B zurückgreifen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 23.10.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.03.2002 zu verurteilen, ihn nicht zum ärztlichen Notfalldienst in dem Gebiet der Beigeladenen heranzuziehen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen, hilfsweise eine angemessene Übergangsfrist einzuräumen.

Die Beigeladene beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt außerdem,

den Hilfsantrag der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beklagte hält die angefochtenen Bescheide weiterhin für rechtmäßig.

Sie räumt ebenso wie die Beigeladene ein, dass eine schriftliche Vereinbarung für den zuständigkeitsbereichsüberschreitenden Notfalldienst nicht vorliege.

Die Beigeladene ist der Auffassung, dass auf Grund der ländlichen Struktur der Gemeindegebiete von M, B und N die Einteilung von Vertragsärzten aus der zum Zuständigkeitsbereich der Beklagten gehörenden Großstadt S erforderlich sei und somit eine zulässige Sicherstellungsmaßnahme gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuchs - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) i.V.m. § 75 Abs. 1 Satz 2 SGB V darstelle. Ärzte aus M beteiligten sich am ärztlichen Notfalldienst S und zahlten einen entsprechenden Verwaltungskostenanteil an die Beklagte, so dass die Kooperation auf Gegenseitigkeit beruhe. Die langjährige Praxis habe sich bewährt. Sie verstoße nicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, zumal wegen der ländlichen Struktur des Raumes das Allgemeininteresse überwiege. Ein unzulässiger Eingriff in das Grundrecht des Klägers aus Art. 12 des Grundgesetzes (GG) oder eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung lasse sich nicht feststellen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte und die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen haben vorgelegen und sind ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die angefochtenen Bescheide erweisen sich als rechtswidrig, weil die Beklagte den Kläger ohne ausreichende Rechtsgrundlage zum ärztlichen Notfalldienst im Bereich der Beigeladenen einsetzt. Hierdurch wird der Kläger in seinen Rechten verletzt.

Nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG kann die Berufsausübung (nur) durch Gesetz oder auf Grund eine Gesetzes geregelt werden. Dementsprechend beruht die Verpflichtung des Vertragsarztes, an einem Notfalldienst teilzunehmen, auf § 75 Abs. 1 Satz 2 SGB V i.V.m. § 95 Abs. 3 SGB V. Mit der Kassenzulassung gliedert sich der Vertragsarzt in den der Kassenärztlichen Vereinigung obliegenden Sicherstellungsauftrag einschließlich der vertragsärztlichen Versorgung zu den sprechstundenfreien Zeiten ein. Die Zulassung erfolgt für den Ort der Niederlassung als Arzt (Kassenarztsitz, § 95 Abs. 1 Satz 2 SGB V). Die Zulassung bewirkt nach der gesetzlichen Regelung, dass der Vertragsarzt Mitglied der für seinen Kassenarztsitz zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung wird und zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung einschließlich Notfalldienst berechtigt und verpflichtet ist.

Hieraus folgt, dass der Kläger auf Grund seines Zulassungsstatus allein verpflichtet ist, vertragsärztliche Aufgaben im Bereich der für seinen Kassenarztsitz zuständigen KVWL wahrzunehmen. Für die Heranziehung zu einem "grenzüberschreitenden" Notfalldienst im Zuständigkeitsbereich der Beigeladenen findet sich keine gesetzliche Grundlage. Dies gilt insbesondere für die von der Beigeladenen angeführten Regelungen in § 105 und § 75 SGB V. Wie aus der allgemeinen Verpflichtung jeder Kassenärztlichen Vereinigung, zur Förderung der vertragsärztlichen Versorgung beizutragen, die hier fragliche Rechtspflicht des Klägers begründet werden kann, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.

Selbst wenn man eine ausdrückliche gesetzliche Regelung zur Verpflichtung eines Vertragsarztes zum Notfalldienst im Zuständigkeitsbereich einer anderen Kassenärztlichen Vereinigung nicht für erforderlich hielte, wäre jedenfalls eine entsprechende Regelung in der u.a. von der Vertreterversammlung der Beklagten beschlossenen GNO erforderlich. Bis Ende 2001 existierte keine derartige Regelung. In der aktuellen Fassung der GNO sieht § 5 Abs. 5 vor, dass Notfalldienstbereiche ausnahmsweise auch unter Einbeziehung angrenzender Gebiete anderer Kassenärztlicher Vereinigungen gebildet werden können. Die betroffenen Kassenärztlichen Vereinigungen haben dies nach § 5 Abs. 5 Satz 2 GNO schriftlich zu vereinbaren.

Die Kammer hat unter dem grundrechtlichen Aspekt erhebliche Bedenken, dass diese Vorschrift geeignet seien könnte, die individuelle Notfalldienstverpflichtung eines westfälischen Vertragsarztes im Bereich der KV Koblenz zu begründen. Da nach übereinstimmendem Vorbringen der Beteiligten noch nicht einmal die von der Vertreterversammlung für erforderlich gehaltene schriftliche Vereinbarung der beiden Kassenärztlichen Vereinigungen vorliegt, kann selbst bei Zurückstellung dieser Bedenken keine Teilnahmeverpflichtung des Klägers bestehen.

Nach alledem erscheint es der Kammer als geboten, bei der derzeitigen Rechtslage den ärztlichen Notfalldienst in den Orten M, B und N durch im Bereich der KV Koblenz niedergelassene Vertragsärzte sicherzustellen. Für eine "grenzübergreifende" Notfalldiensteinteilung ist kein Raum, soweit nicht alle beteiligten Vertragsärzte hiermit einverstanden sind. Die bisherige Praxis, die Dienstleistung im Bereich der KV Koblenz zum Gegenstand von Mehrheitsentscheidungen zu machen, ist nicht akzeptabel.

Der Beklagten und der Beigeladenen wird zur Umstellung ihrer Notfalldienstpläne eine Übergangsfrist bis zum 30.06.2003 eingeräumt. Dies trägt den organisatorischen Erfordernissen hinreichend Rechnung. Der Kläger wird nicht über Gebühr in seinen Rechten beeinträchtigt, zumal er derzeit ohnehin auf Grund der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruches vom Notfalldienst befreit ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i.V.m. § 154 Abs. 1 und 3 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Die Festsetzung des Streitwertes erfolgt nach § 13 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG) als Ermessensentscheidung des Gerichts nach der Bedeutung der Sache für den Kläger. Die streitige Notfalldiensteinteilung betrifft die Rechtsstellung des Klägers als Vertragsarzt und ist von langfristiger Bedeutung. Von daher erscheint ein Streitwert in Höhe von 25000,- Euro als angemessen.
Rechtskraft
Aus
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