S 197 AS 8527/13

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
197
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 197 AS 8527/13
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Ändert sich die Prognose über die voraussichtlichen Einkommensverhältnisse eines selbstständigen Leistungsberechtigten nach Erlass eines vorläufigen Bewilligungsbescheids wesentlich i.S.v. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X und bestehen für diese Änderung plausible Anhaltspunkte, ist ein Leistungsträger schon während des laufenden Bewilligungszeitraums verpflichtet, die vorläufige Bewilligung abzuändern. Im Fall einer erheblichen Lücke bei der Bedarfsdeckung seines Lebensunterhalts ist es dem Leistungsberechtigten nicht zuzumuten, die endgültige Festsetzung nach § 328 Abs. 2 SGB III abzuwarten.
Der Beklagte hat der Klägerin 3/4 (drei Viertel) ihrer notwendigen außergerichtli-chen Kosten zu erstatten.

Gründe:

Nachdem der Rechtsstreit infolge der endgültigen Leistungsbewilligung durch den Beklagten im Bescheid vom 13.08.2013 und des daraufhin angenommenen Anerkenntnisses erledigt ist, war auf Antrag der Klägerin gemäß § 193 Abs. 1 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz – SGG – nur noch über die Kosten zu entscheiden.

Die nach § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG zu treffende Kostenentscheidung ist nach allgemeiner An-sicht unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen zu treffen (st. Rspr. seit BSG, Beschluss vom 18.01.1957 – 6 RKa 7/56 –, SozR Nr. 3 zu § 193 SGG = juris Rn. 6 f.; weitere Nachweise zur Rechtsprechung bei Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, 10. Aufl. 2012, § 193 Rn. 13). Hierbei sind alle Umstände des Einzelfalls, insbesondere die (ursprünglichen) Erfolgsaussichten der Klage, zu berücksichtigen (BSG, Beschluss vom 16.05.2007 – B 7b AS 40/06 R –, SozR 4-4200 § 22 Nr. 4 = juris Rn. 5). Da das SGG jedoch im Gegensatz zu anderen Verfahrensordnungen keine zwingende Kos-tentragungslast des letztlich Unterlegenen kennt, muss im Rahmen der Ermessensentschei-dung zudem berücksichtigt werden, inwieweit der Beklagte Veranlassung zur Klageerhebung gegeben hat, ob während des Verfahrens Änderungen der Sach- oder Rechtslage eingetreten sind und wie die Beteiligten auf eine etwaige Änderung reagiert haben (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., Rn. 13 f. m.w.N.).

Auf dieser Grundlage entspricht es billigem Ermessen, den Beklagten zur mehrheitlichen Kos-tenerstattung zu verpflichten. Denn die Klage war ursprünglich zulässig und begründet. Der Beklagte wäre verpflichtet gewesen, die vorläufige Bewilligungsentscheidung in dem angegrif-fenen Bescheid vom 28.01.2013 gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Zehntes Buch Sozialgesetz-buch – SGB X – abzuändern und der Klägerin höhere Leistungen zur Sicherung des Lebens-unterhalts nach den §§ 19 ff. Zweites Buch Sozialgesetzbuch – SGB II – zu gewähren.

Zwar war der Bewilligungsbescheid zunächst rechtmäßig, denn die Leistungsbewilligung er-folgte rechnerisch zutreffend unter Berücksichtigung eines durchschnittlichen monatlichen Gewinns von 353,00 EUR aus der selbstständigen Tätigkeit der Klägerin, den sie in der beim Be-klagten eingereichten Anlage EKS vom 15.01.2013 (VA Bl. 480–485) angegeben hatte. Nach Erlass des Bescheids, aber noch vor dessen Bestandskraft trat indes eine wesentliche Ände-rung in den tatsächlichen Verhältnissen i.S.v. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ein. Eine solche Än-derung liegt vor, wenn im Hinblick auf die für den Erlass eines Verwaltungsakts entschei-dungserheblichen tatsächlichen Umstände ein anderer Sachverhalt vorliegt (von Wulffen/Schüt¬ze, SGB X, 8. Aufl. 2014, § 48 Rn. 8). Dies traf auf die von der Klägerin in ihrem Wider-spruch vom 13.02.2013 mitgeteilten Umstände zu, dass mehrere Auftraggeber ihren Auftrag zurückgenommen hätten und sie im Januar und Februar 2013 – den ersten beiden Monaten des bis Juni laufenden Bewilligungszeitraums – kein Einkommen erzielt habe, denn unter Zugrundelegung dieser Tatsachen hätte sie gar kein anrechenbares Einkommen mehr erzielt. Gleiches gilt für die ergänzende Mitteilung, dass eine Verbesserung der Auftragslage bzw. Einkommenssituation nicht abschätzbar sei.

Infolge dieser Mitteilung, die die Klägerin nach Aufforderung des Beklagten mit der Einrei-chung von Kontoauszügen und der Benennung zweier abgesprungener Auftraggeber in ihrem Schreiben vom 27.02.2013 (VA Bl. 535) belegte, wäre der Beklagte verpflichtet gewesen, ei-nen Änderungsbescheid zu erlassen, in dem der Klägerin gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Drittes Buch Sozialgesetzbuch – SGB III – vorläufig Leistun-gen ohne Berücksichtigung eines Gewinns aus selbstständiger Tätigkeit zu bewilligen waren. Soweit sich der Beklagte darauf beruft, dass eine positive Veränderung der Auftragslage und ein erneuter Zufluss von Einnahmen nicht ausgeschlossen gewesen seien, greift dieser Ein-wand nicht durch. Denn Grundlage der vorläufigen Bewilligung nach § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB III ist gerade, dass die Einkommenssituation eines Leistungsberechtigten noch nicht ab-schließend geklärt ist; nur deswegen ergeht eben keine endgültige, sondern eine vorläufige Bewilligung. Grundlage einer vorläufigen Bewilligung, die ein zu erwartendes Einkommen be-rücksichtigt, kann freilich nur eine Prognose sein, die der Leistungsberechtigte dem Leistungs-träger mitteilt. Diese prognostische Einschätzung muss plausibel sein und den tatsächlichen Umständen möglichst nahe kommen (vgl. SG Aachen, Urteil vom 18.02.2014 – S 14 AS 921/13 –, juris Rn. 19), wobei vom Leistungsträger bei der Plausibilitätskontrolle keine hohen Anforderungen gestellt werden können. Es genügt insoweit, wenn die vom Leistungsberech-tigten erwarteten Betriebseinnahmen und -ausgaben nachvollziehbar dargelegt werden und nicht wie "aus der Luft gegriffen" erscheinen. Denn es ist grundsätzlich der Leistungsberech-tigte selbst, der das Risiko trägt, seine künftige Einnahmesituation richtig beurteilt zu haben: Fällt die Einschätzung seiner künftigen Gewinne im Vergleich zur tatsächlichen Entwicklung zu gering aus, muss er die so im Ergebnis entstehende Überzahlung gemäß § 328 Abs. 3 Satz 2 SGB III an den Leistungsträger erstatten. Setzt er die künftigen Einnahmen dagegen zu hoch an, läuft er Gefahr, infolge der nur in geringerer Höhe bewilligten Leistungen seinen Lebensunterhalt nicht ausreichend decken zu können. Unter anderem zur Korrektur letzterer Fehleinschätzung existiert indessen die Regelung des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X. Denn wenn sich die fehlerhafte Prognose des Leistungsberechtigten als derart gravierend erweist, dass erhebliche Lücken bei der Deckung seiner Bedarfe entstehen, liegt jedenfalls dann eine wesentliche Tatsachenänderung vor, wenn die ursprüngliche Prognose auf einer tatsachen-basierten Einschätzung beruhte und nicht lediglich eine völlig freihändige Schätzung darstell-te. Die auf der überholten Prognose basierende, nunmehr zu niedrige Leistungsbewilligung bedarf dann der Korrektur durch den Leistungsträger.

So lag der Fall auch hier. Die Klägerin ging ausweislich ihrer Angaben in der Anlage EKS von stetig steigenden Einnahmen während des Bewilligungszeitraums aus. Angesichts des Um-stands, dass sie zu Jahresbeginn offenbar noch mindestens zwei Auftraggeber mit entspre-chenden Aufträgen hatte, erscheint diese Einschätzung auch nicht völlig willkürlich. Tatsäch-lich stellte die Klägerin dagegen Mitte Februar 2013 fest, dass sie die anvisierten Einnahmen aufgrund des Wegfalls der Auftraggeber voraussichtlich nicht würde erzielen können. Ob die mitgeteilten Tatsachen seinerzeit der Wahrheit entsprachen, muss die Kammer nicht mehr aufklären, denn nach Erledigung der Hauptsache sind grundsätzlich keine neuen Ermittlungen mehr anzustellen (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., Rn. 13d m.w.N.; LSG Berlin-Bran¬den¬burg, Beschluss vom 11.05.2009 – L 11 B 232/08 SB –, juris Rn. 7; Bayerisches LSG, Be-schluss vom 09. Juni 2009 – L 19 B 125/08 R –, juris Rn. 14). Zu berücksichtigen sind jedoch bereits vorliegende Urkunden oder sonstiger, zwischen den Beteiligten unstreitiger Vortrag. Daraus ergibt sich hier, dass die Veränderungsmitteilung der Klägerin wahrheitsgemäß erfolg-te, soweit sie das Ausbleiben von Einnahmen in den Monaten Januar und Februar 2013 durch die o.g. Kontoauszüge belegt hat. Aus der endgültigen Bewilligung von Leistungen in Höhe des vollen Regelbedarfs im Bescheid vom 13.08.2013 folgt zudem, dass sich die veränderte Prognose jedenfalls im Nachhinein auch für die übrigen Monate als zutreffend herausstellte.

Aus alledem folgt, dass die Mitteilung der Klägerin von vornherein zu einer Änderung der vor-läufigen Leistungsbewilligung hätte führen müssen, denn aus der seinerzeit maßgeblichen Betrachtung ex ante waren an die Substantiierung der Angaben zu den Veränderungen ihrer tatsächlichen Einnahmesituation keine hohen Anforderungen zu stellen. Es gilt insoweit der gleiche Maßstab wie für die erstmalige Mitteilung der voraussichtlichen Einnahmen in einem kommenden Bewilligungszeitraum. Ein Leistungsberechtigter kann dagegen nicht – wie hier vom Beklagten – ohne jeden sachlichen Anhaltspunkt darauf verwiesen werden, dass entge-gen seiner eigenen Prognose möglicherweise doch neue Einnahmen erzielt werden könnten. Wäre dem so, wären jegliche Angaben von Leistungsberechtigten in den EKS-Formularen obsolet, da die Leistungsträger dennoch stets unterstellen könnten, dass die Erzielung höhe-rer Einnahmen möglich wäre. Das Risiko einer aus höheren Gewinnen resultierenden Über-zahlung von Leistungen ist vielmehr dadurch hinreichend abgesichert, dass die Leistungsbe-willigung nur vorläufig erfolgt und eine Erstattung ohne weitere Voraussetzungen oder Ein-schränkungen nach § 328 Abs. 3 Satz 2 SGB III möglich ist.

Ein anderes Ergebnis ergibt sich entgegen der Ansicht des Beklagten schließlich auch nicht daraus, dass der Bewilligungszeitraum bei Klageerhebung am 04.04.2013 noch nicht abge-laufen war und die Klage deshalb nicht geboten gewesen sei. Denn wenn einem Leistungsbe-rechtigten ein wesentlicher Leistungsanteil zur akuten Deckung seines Lebensunterhalts fehlt, kann er nicht darauf verwiesen werden, die endgültige Leistungsfestsetzung nach § 328 Abs. 2 SGB III abzuwarten, um daraufhin eine – gegebenenfalls umfangreiche – Nachzahlung der Leistungen zu erhalten. Die Kammer kann offen lassen, bei welchem Fehlbetrag eine Grenze zu ziehen wäre. Jedenfalls in der hiesigen Konstellation, in der die Klägerin mit monat-lich 179,60 EUR weniger als die Hälfte des vollen Regelbedarfs von seinerzeit 382,00 EUR erhielt, ist von einem derart wesentlichen Fehlbetrag auszugehen, dass ein Anspruch auf unmittelbare Änderung der vorläufigen Bewilligung bestand.

Ungeachtet der vorstehenden Erwägungen ist der Beklagte aus Billigkeitsgründen hier nicht zur vollständigen Kostentragung verpflichtet. Dies beruht zum einen auf dem Umstand, dass der Bescheid vom 28.01.2013 ursprünglich zunächst rechtmäßig war, wenngleich für die Be-urteilung im Rahmen des Klageverfahrens allein die Gestalt des Bescheids maßgeblich ist, die er durch den Widerspruchsbescheid vom 04.03.2014 gefunden hat (§ 95 SGG). Bei Erlass des Bewilligungsbescheids konnte sich der Beklagte jedoch einzig auf die Angaben der Klä-gerin in der Anlage EKS stützen, so dass eine volle Kostentragung bis zum Zeitpunkt der Er-hebung des Widerspruchs am 13.02.2013 unbillig ist. Die nur anteilige Kostentragung von drei Vierteln, die sich aus dem Verhältnis der Zeit nach Widerspruchserhebung (ca. viereinhalb Monate) zum gesamten Bewilligungszeitraum ergibt, ist auch vor dem Hintergrund des oben erläuterten Prognoserisikos sachgerecht. Denn es lag einzig in der Hand der leistungsberech-tigten Klägerin, welche Angaben sie zu ihren erwarteten Gewinnen macht. Erweist sich die Prognose als unrichtig, ist der Beklagte zwar zur Bewilligung und Auszahlung der tatsächlich zustehenden Leistungen verpflichtet, muss aber aus Billigkeitsgründen nicht auch noch die entsprechenden Verfahrenskosten tragen. Denn diese sind bezüglich der Zeit bis zum 13.02.2013 ausschließlich infolge der nicht eingetroffenen Prognose entstanden, wofür nach dem oben Gesagten die Klägerin das alleinige Risiko trug.

Dieser Beschluss ist nach § 172 Abs. 3 Nr. 3 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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