S 2 SB 67/09

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
2
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 2 SB 67/09
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 04.11.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.03.2009 wird abgeändert. Es wird festgestellt, dass bei der Klägerin die Voraussetzungen des Merkzeichens "Bl" seit Antragstellung vom 24.09.2008 erfüllt sind. Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um das Merkzeichen "Bl" unter dem Aspekt, ob bei der Klägerin eine faktische Blindheit oder ausschließlich ein Hirnschaden vorliegt.

Die am 00.00.2005 geborene Klägerin erlitt infolge einer totalen Lungenfehlmündung am 05.05.2005 einen Herz-Kreislaufstillstand mit der Notwendigkeit der Reanimation. Durch den Herz-Kreislaufstillstand ist ein hypoxischer Hirnschaden im Sinne einer schweren ce¬rebralen Störung entstanden. Die Klägerin ist schwerbehindert mit einem GdB von 100 und den Merkzeichen "G", "aG", "B", "RF" und "H". Dies wurde mit Bescheid vom 10.10.2007 festgestellt. Eine Entscheidung zum Merkzeichen "Bl" erging seinerzeit nicht. Bereits im damaligen Verwaltungsverfahren wurden das Neurologische Gutachten des Dr. C aus der neurologischen Klinik unter Leitung von Prof. E des evangelischen Krankenhauses C1 vom 18.04.2007 und das radiologische Gutachten von Dr. L vom 01.03.2007 sowie die Stellungnahme des Klinikums E1 vom März 2007 aus dem Verfahren um die Gewährung von Blindengeld beigezogen.

Am 24.09.2008 beantragte die Klägerin die Feststellung des Merkzeichens "Bl". Dieses wurde von der Beklagten abgelehnt. Es sei keine Änderung seit dem Bescheid vom 10.10.2007 eingetreten. Die Sehminderung auf dem besseren Auge liege nicht unter einem Fünfzigstel.

Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch. Die Klage auf Zahlung von Blindengeld vor dem Verwaltungsgericht Minden sei nur deshalb zurückgenommen worden, weil dort auf das fehlende Merkzeichen "Bl" verwiesen worden sei. Es liege ein Fall der faktischen Blindheit vor. Der Auffassung des Landesarztes, dass für Blindheit ein entsprechender morphologi¬scher Befund erforderlich sei, der die Sehbehinderung bis hin zur Blindheit erkläre, fehle es an der spezifischen Einzelfallbetrachtung. Der Landesarzt räume ein, dass eine Halb¬seitenblindheit rechts vorliege. Links sei dagegen lediglich eine "hochgradige Sehbehinde¬rung" wahrscheinlich. Die Untersuchungsmethode des Blitz-VEP habe gerade Reaktionen des rechten Auges angezeigt, nicht des linken. Schon im Gutachten von Dr. C seien Fälle aufgeführt, in denen fehlerhafte Ergebnisse des Blitz-VEP in Untersuchungsreihen mit eindeutig blinden Personen festgestellt worden seien.

Mit Widerspruchsbescheid vom 17.03.2009 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die vorliegenden Befunde rechtfertigten das gewünschte Merkzeichen nicht.

Mit der dagegen erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Anliegen weiter und wiederholt ihre Ausführungen.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid vom 04.11.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.03.2009 abzuändern und bei der Klägerin ab Antragstellung vom 24.09.2008 das Vorliegen der Voraussetzungen des Merkzeichens Bl festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Auch sie wiederholt ihre Ausführungen. Die kurze Anmerkung des Augenarztes, bei Opti¬cusatrophie könnten keine Potenziale abgeleitet werden, entspreche nicht den Tatsachen, es werde auf die Untersuchung mit Blitz-VEP mit reproduzierbaren Reizantworten am rechten Auge hingewiesen.

Das Gericht hat Befundberichte der Kinderklinik C2, des Kinderarztes Dr. T und des Augenarztes Dr. T1 eingeholt. Der Augenarzt wurde befragt, ob die Störung im Bereich des Erkennenkönnens oder des Benennenkönnens angesiedelt sei.

Im Übrigen wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die beigezogene Akte des Verwaltungsverfahrens. Dieser war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid vom 04.11.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.03.2009 ist rechtswidrig und die Klägerin dadurch gemäß § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz in ihren Rechten verletzt.

Auf Antrag des behinderten Menschen stellen gemäß § 69 Abs. 1 SGB IX die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen ei¬ner Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Menschen sind gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Ge¬sundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensal¬ter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt ist. Menschen sind im Sinne des Teils 2 gemäß § 2 Abs. 2 SGB IX schwer¬behindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt ( ...). Für die Beurteilung des Ausmaßes der Funktionseinschränkung waren bis zum 31.12.2008 die Anhaltspunkte für die Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht heranzuziehen. Für die Zeit ab dem 01.01.2009 ist insoweit nun die Versorgungsmedizinverordnung anzuwenden. Diese Verordnung regelt gemäß ihrem § 1 VersMedV unter anderem die Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädi¬gungsfolgen und die Feststellung von Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes und für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung nach § 1 Abs.3 des Bundesversorgungsgesetzes. Die in § 1 genannten Grundsätze und Kriterien sind gemäß § 2 VersMedV in der Anlage zu § 2 enthalten. Bei dieser Anlage handelt es sich dann letztlich um eine Fortentwicklung der Anhaltspunkte.

Blind ist gemäß Ziffer A6 der VersMedV, dort unter Buchstabe a, ein behinderter Mensch, dem das Augenlicht vollständig fehlt. Als blind ist auch ein behinderter Mensch anzusehen, dessen Sehschärfe auf keinem Auge und auch nicht beidäugig mehr als 0,02 (1/50) beträgt oder wenn andere Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorliegen, dass sie dieser Beeinträchtigung der Sehschärfe gleichzustellen sind. Gemäß dortigem Buchstaben c ist blind auch ein behinderter Mensch mit nachgewiesenem vollständigen Ausfall der Sehrinde (Rindenblindheit), nicht aber mit einer visuellen Agnosie oder anderen gnostischen Störungen. Unter Blindheit fällt insoweit gemäß der präzisierenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auch der Zustand der faktischen Blindheit im Sinne einer Störung im Erkennenkönnen, die dann von der Störung im Bereich des Benennenkönnens als reiner Schädigung des Gehirns abzugrenzen ist (dazu Urteil des Bun¬dessozialgericht vom 26.10.2004 zum Aktenzeichen B 7 SF 2/03 R und zum Aktenzeichen B 9a BL 1/05R)

Zur Überzeugung der Kammer handelt es sich um faktische Blindheit und nicht um eine rein isolierte Schädigung des Gehirns. Der Ausfall des Sehvermögens (im weiteren Sinne) tritt hier nicht erst auf der Ebene der Nutzbarmachung der zu Nervenreizen weiterverarbei¬teten Lichtreize im Gehirn in der Phase des Benennenkönnens auf. Vielmehr ist schon die Aufarbeitung der Lichteinwirkung im Bereich der Augen einschließlich der Sehrinde im Sin¬ne des Erkennenkönnens aufgehoben. Bereits der behandelnde, aktuell befragte Augen¬arzt Dr. T1 teilt auf die ausdrückliche Nachfrage des Gerichts, ob die Störung im Bereich des Erkennenkönnens oder des Bennenkönnens liegt, mit, dass ein Fall von Blindheit und nicht von Agnosie vorliege. Natürlich sind bei einem fünfjährigen, mehrfach- und schwerstbehinderten Kind den Möglichkeiten der Beweisaufnahme Grenzen gesetzt. Die Kammer ist jedoch fest davon überzeugt, dass bei einem Kind, dass keinerlei Abwehr- und Schutzreaktionen für die Augen zeigt, im Lichte der Gesamtwürdigung der hiesigen Befun¬de dieses Einzelfalls zumindest eine faktische Blindheit vorliegt. Dass die Klägerin keiner¬lei Schutzreflexe oder Schreckreaktionen zeigt, ergibt sich beispielsweise aus Bl. 3 des Gutachtens Dr. C und ist auch zwischen den Beteiligten nicht in Frage gestellt worden. Schutzreflexe werden unmittelbar an das zentrale Nervensystem im Rückenmark weitergeleitet und von dort verarbeitet, ohne dass es darauf ankäme, dass erst ein Benen¬nenkönnen des Gegenstandes, der das Auge bedroht, erforderlich wäre. Zum Schutz des Auges ist es beispielsweise unerheblich, ob ein Insekt, ein Steinchen oder ein Tennisball auf das Auge zufliegt. Es wird der gleiche Schutzreflex ausgelöst. Die Klägerin hat im Rah¬men der Testung nicht einmal auf vorsichtigen Druck mit einem Wattestäbchen an das Auge reagiert. Auch insoweit wäre es ohne Bedeutung, ob das Kind gleichsam erkannt hätte: "Hier wird mein Auge von einem Wattestäbchen oder einem Zweig oder einem Blei¬stift oder von sonst etwas bedroht". Diese Tatsache hat für das Gericht so starke Bedeu¬tung, dass es dem Gericht nicht einmal darauf ankäme, wo hier die Hirnforschung die letz¬te wissenschaftliche Grenze zwischen den Funktionseinheiten Auge und Gehirn zieht, da der Begriff der Blindheit natürlich hier funktions- und kontextbezogen zum Schutz von behinderten Menschen zu würdigen ist, wie sich insbesondere aus Ziffer A6 Buchstabe c der VersMedV. ergibt, wo sonstige Sehstörungen gleichen Schweregrades ebenfalls erfasst werden. Und irgendwelche Hinweise dafür, dass die Nervenbahnen zum ZNS oder zurück geschädigt wären und deshalb der Schutzreflex nicht ausgelöst würde, liegen nicht vor. Außerdem zeigt die Klägerin Reaktionen auf Geräusche und Berührungen, wie sich aus Blatt 30 des Gutachtens von Dr. C ergibt. Ferner wäre bei einem schwerstbehinderten Kleinkind jede Frage nach Aggravation oder Simulation bei der Unterdrückung des Schutzreflexes selbstredend überflüssig und wurde im Übrigen natürlich auch nicht von der Beklagtenseite aufgeworfen. Obendrein gilt die Blitz-VEP-Methode in Abgrenzung zur einfachen VEP-Methode schon per se selbst bei Erwachsenen als nicht mehr durch den Probanden willentlich beherrschbar, da die Lichtblitze viel zu schnell und plötzlich auftre¬ten, als dass die Augenreaktion willentlich noch unterdrückt werden könnte. Ferner spricht das bereits in der Akte des Verwaltungsverfahrens befindliche und oben erwähnte Gutach¬ten des Mediziners Dr. C vom Team des Prof. E für eine Blindheit. Im Kern legt Dr. C dar, dass das Blitz-VEP zu falsch-positiven Ergebnissen führen kann. Damit verliert diese Methode zumindest ihre Bedeutung dahin, eine Blindheit eindeutig zu widerlegen. Demgegenüber hat die Beklagte gerade die Ergebnisse des Blitz-VEP als Einwand gegen eine Blindheit angeführt. Bereits in seiner Stellungnahme vom 26.09.2006, die die Begutachtung ausgelöst hat, hatte der Landesarzt ein neurologisches Gutachten auf dem Boden von Blitz-VEP gefordert und dann je nach Ergebnis eine cerebrale MRT mit Begutachtung der für das Sehen relevanten Strukturen gefordert. Nach Vorliegen des Gutachtens erschöpft sich die letzte Stellungnahme des Landesarztes vom 03.07.2007 dann in der Bemerkung, die morphologische Läsion bestehe nur rechtsseitig; es bestehe eine VEP rechts. Demgegenüber führt Dr. C auf Bl. 30 unten detailliert aus, die Reizantwort im Blitz-VEP des rechten Auges zeige lediglich, dass einzelne Axone einen Reiz weiterleiten. Ob hiermit eine suffiziente visuelle Perzeption möglich ist, vermöge die Methode nicht nachzuweisen. Übersetzt in eine technische Umgangssprache versteht das Gericht diese Aussage dahin, dass gleichsam einzelne Pixel im Sinne eines zur Matrix aufgelösten Bildes noch ansprechbar sind, ob daraus aber überhaupt ein Bild entstehe, könne die Methode nicht aufzeigen. Der Landesarzt setzt sich in der auf einem Formblatt erfolgten Stellungnahme jedoch nicht im Einzelnen mit den Ausführungen von Dr. C auseinander. Der Landesarzt ist offensichtlich der Auffassung, dass positive Werte beim Blitz-VEP die Blindheit eindeutig widerlegen. Dieser pauschalen Einschätzung ist die Beklagte dann gefolgt. Wie viele Axone (gleichsam Pixel) auf den Reiz anspringen müssen, damit so etwas wie ein Bild im Sinne von Sehenkönnen vorliegt, diskutiert der Landesarzt nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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