L 7 AS 534/13

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 6 AS 6210/11
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 534/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die seit 01.04.2011 geltende Verkürzung der Vierjahresfrist auf ein Jahr für das SGB II betreffende Überprüfungsverfahren (§ 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 4 SGB X) ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Sie beruht auf dem Grundgedanken, dass für Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende, die als steuerfinanzierte Leistungen der Sicherung des Lebensunterhalts und der Eingliederung in Arbeit dienen und dabei in besonderem Maß die Deckung gegenwärtiger Bedarfe bewirken sollen (sog. Aktualitätsgrundsatz), die Vierjahresfrist des § 44 Abs. 4 SGB X zu lang ist (BT-Drucks. 17/3404, S. 114, 117; BSG, Urteil vom 26.06.2013 - B 7 AY 6/12 R, RdNr. 10).
2. Die Verkürzung der Frist gem. § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 4 SGB X gilt auch im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs.
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 19. Februar 2013 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten in der Hauptsache darüber, ob der Kläger die Überprüfung der für die Zeit vom 01.12.2006 bis 30.11.2007 ergangenen Leistungsbescheide nach dem SGB II gemäß § 44 SGB X insoweit verlangen kann, als der Beklagte Kosten der Unterkunft und Heizung um 65,78 EUR niedriger als beantragt bewilligt hat.

Der Kläger stand im Leistungsbezug des Beklagten nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Im Zeitraum vom 11.12.2006 bis 31.05.2007 bewilligte der Beklagte ihm insgesamt Leistungen in Höhe von 611,00 EUR monatlich (Bescheid vom 14.11.2006). Hierin enthalten waren Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 266,00 EUR. Mit weiterem Bescheid vom 08.05.2007 bewilligte der Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 01.06.2007 bis 30.11.2007 Leistungen in gleicher Höhe und gleicher Zusammensetzung. Mit Bescheid vom 02.06.2007 bewilligte der Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 01.07.2007 bis zum 30.11.2007 Leistungen i.H.v. 613,00 EUR monatlich. Nach der Betriebskostenabrechnung vom 01.07.2009, wonach sich an den Vorauszahlungen nichts geändert hatte, war die gesamte monatliche Miete mit 331,78 EUR (Grundmiete 256,23 EUR) festgesetzt worden. Nach der Mietbescheinigung vom 25.05.2009 betrug die monatliche Gesamtmiete 321,78 EUR, solange der Kläger Leistungen nach dem SGB II erhalte; sobald dies nicht mehr der Fall sei, betrage die Grundmiete wieder 256,55 EUR. Nach dem Kontoauszug vom 01.11.2011 bezahlte der Kläger Miete i.H.v. 331,78 EUR.

Mit zwei Schreiben vom 12.05.2011 beantragte der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Überprüfung der Bescheide vom 14.11.2006, 08.05.2007 und 02.06.2007 hinsichtlich der Kosten der Unterkunft und Heizung, da diese unter Bezugnahme auf eine rechtswidrige Angemessenheitsrichtlinie gekappt worden seien, die tatsächlichen Kosten jedoch deutlich höher lägen, und zwar ausdrücklich zum Einen für die Zeit vom 01.01.2007 bis 30.11.2007 und zum Anderen für die Zeit vom 01.07.2007 bis 30.11.2007.

Mit Bescheiden vom 18.08.2011 wies der Beklagte die vorgenannten Überprüfungsanträge zurück. Da die Leistungen längstens für einen Zeitraum von einem Jahr vor der Rücknahme erbracht werden könnten, könne die Rücknahme und die nachträgliche Leistungserbringung frühestens ab 01.01.2010 erfolgen, sodass der Antrag wegen Verfristung unzulässig sei.

Hiergegen legte der Kläger jeweils am 22.09.2011 Widerspruch ein. Selbst wenn die Auffassung des Beklagten greife, ergebe sich ein Korrekturanspruch aus dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch. Vor der Rechtsänderung des § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II neuer Fassung sei aus mehreren Klageverfahren bekannt gewesen, dass die Kosten der Unterkunft und Heizung in rechtswidriger Weise gekappt worden seien. Für die nicht von den Klagen ergriffenen Zeiträume habe es der Beklagte pflichtwidrig unterlassen, von Amts wegen die entsprechenden Unterkunftskosten neu einzustellen und den errechneten Nachzahlungsbetrag zur Auszahlung zu bringen. Hierzu habe jedoch eine Verpflichtung von Amts wegen bestanden. Im Übrigen stelle die Neuregelung des § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II eine Ungleichbehandlung gegenüber Empfängern anderer Sozialleistungen dar.

Die Widersprüche wurden jeweils durch Widerspruchsbescheide vom 29.11.2011 zurück-gewiesen. Eine Korrektur von Bescheiden nach § 44 SGB X scheitere bereits an § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II in der ab dem 01.04.2011 in Kraft getretenen Fassung. Eine Überprüfung von bestandskräftigen Entscheidungen sei danach nur noch in einem Zeitraum von einem Jahr möglich. Auch der sozialrechtliche Herstellungsanspruch greife nicht. Zumindest sei die Ausschlussfrist des § 44 Abs. 4 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II auch auf den Herstellungsanspruch anzuwenden.

Hiergegen hat der Kläger am 29.12.2011 Klage beim Sozialgericht Chemnitz (SG) erhoben. Das SG hat diese durch Urteil ohne mündliche Verhandlung am 19.02.2013 abgewiesen. Die Berufung hiergegen hat es nicht zugelassen. Es hat ausgeführt, soweit der Kläger im laufenden Klageverfahren auch die Abänderung der Leistungsbewilligung für den Monat Dezember 2006 begehre, sei die Klage mangels Durchführung eines Vorverfahrens unzulässig. Im Übrigen sei sie unbegründet. Der Überprüfungsantrag sei im Mai 2011 gestellt worden. Aus § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II neuer Fassung, gegen welche verfassungsrechtliche Bedenken nicht bestünden, ergebe sich, dass eine Abänderung der Bewilligungsentscheidungen für Zeiträume vor 2010 nicht in Betracht komme. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch komme in Fällen wie dem vorliegenden nicht zum Tragen. Vielmehr schließe die Anwendbarkeit des § 44 SGB X die Herleitung weitergehender Rechtsfolgen auf der Grundlage des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs aus (BSG, Urteil vom 23.07.1986 – 1 RA 31/85). Hinzu komme, dass auch auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch die Ausschlussfrist des § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II Anwendung finden würde (Aubel in Schlegel/Voelzke, SGB II, 3. Aufl., § 40 RdNr. 27; BSG, Urteil vom 27.03.2007 – B 13 R 58/06 R). Letztlich seien auch die Voraussetzungen eines solchen Anspruchs nicht erfüllt. Eine Beratungspflicht von Amts wegen habe nicht bestanden, da kein Beratungsbedürfnis für den Beklagten erkennbar gewesen sei. Der Kläger sei bereits seit November 2007 anwaltlich vertreten gewesen und habe auch durch seinen Prozessbe-vollmächtigten vertreten entsprechende Überprüfungsanträge gestellt. Vor diesem Hintergrund habe kein Bedürfnis für eine weitergehende Beratung durch den Beklagten bestanden. Im Übrigen sei der sozialrechtliche Herstellungsanspruch auf die Herstellung eines dem Gesetz und seinen Zielen entsprechenden Zustandes gerichtet und dürfe nicht zu Ergebnissen führen, die mit dem Gesetz nicht übereinstimmten. Genau dieses strebe der Kläger jedoch mit seinem Begehren auf Überprüfung auch der länger als ein Jahr zurückliegenden Bewilligungszeiträume an, was durch die Einführung des § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II n. F. gerade habe ausgeschlossen werden sollen.

Gegen das dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 22.02.2013 oder 27.02.2013 zu-gestellte Urteil richtet sich die am 08.03.2013 beim Sächsischen Landessozialgericht ein-gegangene Berufung des Klägers. Dieser ist der Auffassung, die Berufung sei statthaft und begründet, da der Beklagte die Überprüfung des Zeitraumes vom 01.12.2006 bis 30.11.2007 zu Unrecht verweigert habe. Der Antrag auf Überprüfung unterliege selbst keiner Ausschlussfrist. Der Auszahlungs- oder Nachzahlungsanspruch zugunsten des Leistungsberechtigten unterliege einer etwaigen Einrede, nicht jedoch der Überprüfungsantrag bzw. das Zurücknahmeverfahren. Die Verkürzung der Vier-Jahresfrist des § 44 SGB X im Regelungsbereich des SGB II durch § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II sei verfassungswidrig. Denn die Regelung des § 44 SGB X selbst sei nicht geändert worden, was bedeute, dass für andere Bereiche des Sozialrechts weiterhin die Vier-Jahresfrist gelte. Dies beinhalte eine willkürliche sondergesetzliche Einschränkung, die gegen das Gleichbehandlungsgebot und das Willkürverbot verstoße.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 19.02.2013 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung der Bescheide vom 18.08.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.11.2011 zu verurteilen, den Bescheid vom 14.11.2006 und den Bescheid vom 08.05.2007 abzuändern und dem Kläger für die Zeit vom 01.12.2006 bis 30.11.2007 Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 331,78 EUR unter Anrechnung der bereits erbrachten monatlichen Kosten der Unterkunft und Heizung von 266,00 EUR zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er meint, die Berufung müsse erfolglos bleiben, da nach § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II Leistungen längstens für Zeiträume bis zu einem Jahr vor der Rücknahme der zu überprüfenden Entscheidung erbracht werden könnten. Die Verwaltung brauche die Rechtswidrigkeit eines Bescheides gar nicht erst zu überprüfen, wenn § 44 Abs. 4 SGB X greife (BSGE 68, 180 = SozR 3, 1300, § 44 Nr. 1). Denn § 44 Abs. 4 SGB X beinhalte eine materialrechtliche Anspruchsbeschränkung, die von Amts wegen zu beachten und verfassungsrechtlich unbedenklich sei. § 44 Abs. 4 SGB X schließe auch die über ein Jahr zurückgehenden Erstattungen auf der Grundlage eines Herstellungsanspruches aus, d. h., § 44 Abs. 4 SGB X sei auch bei sozialrechtlichen Herstellungsansprüchen anzuwenden (BSG SozR 13, § 44 Nr. 17).

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist statthaft, da der gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erforderliche Wert des Beschwerdegegenstandes von mehr als 750,00 EUR erreicht wird. Der Kläger macht für 12 Monate die vollen Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU) geltend, während der Beklagte ihm diese nur gemindert bewilligt hat. Unbeachtlich ist hierbei, dass die Klage im Hinblick auf den Monat Dezember 2006 als unzulässig abgewiesen wurde, denn maßgeblich für den Wert des Beschwerdegegenstandes ist i.d.R. – so auch hier – das dem Kläger durch das SG Versagte. Der Unterschiedsbetrag beläuft sich auf monatlich 65,78 EUR. Denn nach dem Kontoauszug vom 01.11.2007 hat der Kläger 331,78 EUR Miete gezahlt, wohingegen ihm der Beklagte lediglich 266,00 EUR erstattet hat. Die Berufung ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere fristgerecht, § 151 Abs. 1 SGG, eingelegt worden.

Sie ist jedoch unbegründet. Gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II in der Fassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.03.2011 i.V.m. § 44 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn bei dessen Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind.

Es kann dahinstehen, ob diese Voraussetzungen vorliegen, denn dem Anspruch des Klägers auf Neuberechnung der KdU für den Zeitraum Dezember 2006 bis November 2007 und Nachzahlung einer Restforderung steht jedenfalls § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 4 SGB X entgegen. Danach kann der Kläger für die Zeit vor dem 01.01.2011 weder eine Nachzahlung von Sozialleistungen noch eine isolierte Rücknahme früherer Bescheide verlangen. Entgegen der Regelung des § 44 Abs. 4 SGB X, wonach Sozialleistungen längstens für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht werden können, werden nach der am 01.04.2011 in Kraft getretenen Vorschrift des § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nur für ein Jahr rückwirkend erbracht, wenn der Antrag auf Überprüfung nach dem 31.03.2011 gestellt worden ist (§ 77 Abs. 13 SGB II). Der Zeitpunkt der Rücknahme wird vom Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Antrag gestellt worden ist (§ 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 4 Sätze 2 und 3 SGB X). Nach § 40 Abs. 1 SGB II in der ab dem 01.04.2011 geltenden Fassung (geändert durch das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch) gilt für Verfahren nach diesem Buch das Zehnte Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Abweichend von Satz 1 gilt § 44 Abs. 4 S. 1 SGB X mit der Maßgabe, dass anstelle des Zeitraums von vier Jahren ein Zeitraum von einem Jahr tritt. Die Norm des § 40 Abs. 1 S. 2 SGB II stellt somit eine Ausnahmevorschrift zu § 44 SGB X dar und begrenzt dessen zeitlichen Anwendungsbereich (Eicher/Greiser in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2013, § 40 RdNr. 25, 29 ff.). Die Neufassung von § 40 SGB II gilt nach § 77 Abs. 13 SGB II für alle Anträge, die ab dem Inkrafttreten der Neuregelung gestellt werden.

Die seit 01.04.2011 geltende Neuregelung ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Sie beruht auf dem Grundgedanken, dass für Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, die als steuerfinanzierte Leistungen der Sicherung des Lebensunterhalts und der Eingliederung in Arbeit dienen und dabei im besonderen Maß die Deckung gegenwärtiger Bedarfe bewirken sollen (sog. Aktualitätsgrundsatz), die Vier-Jahresfrist des § 44 Abs. 4 SGB X zu lang und eine kürzere Frist von einem Jahr sach- und interessengerecht ist (so die Gesetzesbegründung, BT-Drucks 17/3404, S. 114 und S. 117 zur entsprechenden Regelung im Sozialhilferecht, § 116a SGB XII; wie hier bereits Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.09.2013 – L 7 AS 1050/13 und Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 19.03.2014 – L 16 AS 289/13, beide juris; siehe auch Beschluss des Senats vom 13.08.2014 – L 7 AS 1569/13 NZB). Da der Kläger seine Überprüfungsanträge am 12.05.2011 gestellt hatte, war eine rückwirkende Überprüfung und Nachzahlung von Leistungen nur für die Zeit ab 01.01.2010 zulässig.

Nachdem wegen § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II eine Nachzahlung von Leistungen für die Zeit vor dem 01.01.2011 ausscheidet, bedurfte es auch keiner Entscheidung des Beklagten darüber, ob dem Kläger im Leistungszeitraum Dezember 2006 bis November 2007 Leistungen vorenthalten worden sind. Die Unanwendbarkeit der Regelung des § 44 Abs. 4 SGB X steht einer isolierten Rücknahme entgegen (vgl. BSG, Urteil vom 26.06.2013 – B 7 AY 6/12 R, juris RdNr. 10; BayLSG, a.a.O.) Zur Parallelvorschrift des § 116a SGB XII, die es auf das Asylbewerberleistungsgesetz analog angewandt hat, hat das BSG in dem vorgenannten Urteil Folgendes ausgeführt: "Zu Unrecht vorenthaltene Leistungen nach dem AsylbLG werden zwar gemäß § 9 Abs 3 AsylbLG iVm § 44 Abs 4 SGB X längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der mit Wirkung für die Vergangenheit erfolgten Rücknahme eines rechtswidrigen nicht be-günstigenden Verwaltungsaktes erbracht; dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird (§ 44 Abs 4 Satz 2 SGB X). Erfolgt die Rücknahme - wie hier - auf Antrag, tritt bei der Berech-nung des Zeitraums, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rück-nahme der Antrag. Die 4-Jahresfrist verkürzt sich aber für Anträge, die - wie hier - nach dem 31.3.2011 gestellt wurden, in entsprechender Anwendung des die Regelung des § 44 Abs 4 SGB X modifizierenden § 116a SGB XII iVm dem bis 31.12.2012 geltenden § 136 SGB XII (jeweils in der Normfassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011 - BGBl I 453) auf ein Jahr, sodass angesichts der im August 2011 erfolgten Antragstellung keine für den streitbefangenen Zeitraum zu Unrecht vorenthaltenen Leistungen mehr zu erbringen sind. Wann ein bestandskräftiger Bescheid über die Ablehnung von Leistungen nach dem AsylbLG für den streitbefangenen Zeitraum - ausdrücklich durch förmlichen Verwaltungs-akt oder konkludent (dazu BSG, Urteil vom 28.2.2013 - B 8 SO 4/12 R- RdNr 9) - ergangen ist, ist für die Anwendung des § 44 Abs 1 iVm Abs 4 SGB X ohne Bedeutung. § 116a SGB XII ist im Zusammenhang mit § 9 Abs 3 AsylbLG iVm § 44 SGB X analog anzuwenden, weil das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch durch das Unterlassen einer Änderung in § 9 Abs 3 AsylbLG eine planwidrige Regelungslücke enthält, die durch richterliche Rechts-fortbildung zu schließen ist (Greiser in juris PraxisKommentar (jurisPK) SGB XII, § 116a SGB XII RdNr 21 ff). Eine direkte Anwendung des § 116a SGB XII scheidet hingegen aus. Zwar werden Leistungen nach § 2 AsylbLG in entsprechender Anwendung des SGB XII erbracht (§ 2 Abs 1 AsylbLG); jedoch betrifft diese Regelung nach ihrem Wortlaut ("ab-weichend von §§ 3 bis 7"), gleich ob sie eine Rechtsgrund- oder eine Rechtsfolgenverwei-sung enthält (offengelassen in BSGE 101, 49 ff RdNr 14 = SozR 4-3520 § 2 Nr 2), nur das Leistungsrecht des AsylbLG. Deshalb bedarf es für eine direkte Anwendung der den Zeit-raum des § 44 Abs 4 SGB X von vier auf ein Jahr verkürzenden Regelung eines besonde-ren Anwendungsbefehls, der in § 9 Abs 3 AsylbLG aber nicht enthalten ist. § 9 Abs 3 AsylbLG sieht selbst (noch) keine Modifikation des § 44 Abs 4 SGB X vor.

Eine Analogie, die Übertragung einer gesetzlichen Regelung - hier des § 116a SGB XII - auf einen Sachverhalt, der von der betreffenden Vorschrift nicht erfasst wird, ist geboten, wenn dieser Sachverhalt mit dem geregelten vergleichbar ist und nach dem Grundgedanken der Norm und damit dem mit ihr verfolgten Zweck dieselbe rechtliche Bewertung erfordert (BSG SozR 3-2500 § 38 Nr 2 RdNr 15). Daneben muss eine (unbewusste) planwidrige Re-gelungslücke vorliegen (BVerfGE 82, 6, 11 ff mwN; BSGE 77, 102, 104 = SozR 3-2500 § 38 Nr 1 S 3; BSGE 89, 199, 202 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 21 S 95 f mwN). Diese Voraus-setzungen liegen vor. Die zu regelnden Sachverhalte sind nicht nur im Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grund-sicherung für Arbeitsuchende - (SGB II, dort § 40 Abs 1 Satz 2) und im SGB XII, für die die Jahresbegrenzung eingefügt worden ist, sondern auch im AsylbLG in diesem Sinn gleichartig. Das SGB II, das SGB XII und das AsylbLG sind Existenzsicherungssysteme, die alle das Ziel haben, den Leistungsberechtigten ein menschenwürdiges Dasein zu er-möglichen (§ 1 Abs 1 SGB II; § 1 Abs 1 Satz 1 SGB XII; BT-Drucks 12/4451 Satz 1 und 3, wonach die fürsorgerischen Gesichtspunkte der Leistungen an Asylbewerber durch das AsylbLG gewahrt bleiben). Ebenso ist allen drei Existenzsicherungssystemen gemeinsam, dass die gewährten Leistungen einen aktuellen Bedarf bei aktueller Hilfebedürftigkeit de-cken sollen (sog Aktualitätsgrundsatz, vgl nur Pattar in Existenzsicherungsrecht, 2. Aufl 2013, S 136) und nicht als nachträgliche Geldleistung ausgestaltet sind (BVerfG, Beschluss vom 12.5.2005 - 1 BvR 569/05; BVerwGE 60, 236, 238; 66, 335, 338), sodass Leistungen im Rahmen eines Zugunstenverfahrens für die Vergangenheit nur zu erbringen sind, wenn die Existenzsicherungsleistungen ihre Aufgabe noch erfüllen können (BSGE 104, 213 ff RdNr 12 ff = SozR 4-1300 § 44 Nr 20; SozR 4-1300 § 44 Nr 12 RdNr 14 f). Dieser Gedanke war auch Beweggrund für den Gesetzgeber zur Einführung des § 116a SGB XII. Ausweislich der Gesetzesbegründung sei die Vierjahresfrist des § 44 Abs 4 SGB X für die Leistungen, die als steuerfinanzierte Leistungen der Sicherung des Lebensunter-halts dienten und dabei in besonderem Maße die Deckung gegenwärtiger Bedarfe bewirken sollten (sog Aktualitätsgrundsatz), zu lang. Eine kürzere Frist von einem Jahr sei sach- und interessengerecht (BT-Drucks 17/3404, S 114, 129). Nichts anderes kann aber angesichts der Gleichartigkeit der zu regelnden Sachverhalte für Leistungen nach dem AsylbLG gelten. Die in den Regelungen des § 40 Abs 1 Satz 2 SGB II und § 116a SGB XII zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Wertung muss deshalb für das AsylbLG übernommen werden. Erst recht gilt dies unter Berücksichtigung der Tatsache, dass ursprüngliches Ziel der Leistungen nach dem AsylbLG eine deutliche Absenkung der früher nach § 120 Abs 2 Bundessozialhilfegesetz gewährten Leistungen war, also eine Schlechterstellung der Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG (BT-Drucks 12/4451 Satz 1; vgl insoweit aber BVerfG SozR 4-3520 § 3 Nr 2). Dieses Ziel würde konterkariert, wären im Zugunstenver-fahren Leistungen nach dem AsylblG (anders als nach dem SGB II bzw dem SGB XII) an-nähernd bis zu fünf Jahren rückwirkend zu erbringen. Die Gleichartigkeit der Sachverhalte im SGB II, dem SGB XII und dem AsylbLG gebietet auch eine gleiche Behandlung. Dies bestätigt die Entscheidung des Bundesverfassungsge-richts (BVerfG) zur Verfassungswidrigkeit des § 3 AsylbLG (BVerfG SozR 4-3520 § 3 Nr 2), wonach das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zusteht. Umgekehrt muss das aber auch für Einschränkungen bei der Nachzahlung zu Unrecht vorenthaltener Leistungen gelten. Deshalb soll nach dem Referentenentwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des AsylbLG (Bearbeitungsstand 4.12.2012; http://www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/asylblg/bverfg-asyl-blg-no-velle.html) der Vorschrift des § 9 Abs 3 folgender Satz 2 angefügt werden (Referentenentwurf S 4): § 44 Abs 4 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch gilt mit der Maßgabe, dass anstelle des Zeitraums von vier Jahren ein Zeitraum von einem Jahr tritt. Zur Begründung wird ausgeführt, es werde den Besonderheiten des AsylbLG nicht gerecht, Bedarfe, die tatsächlich nicht mehr vorhanden seien, auch für Zeiträume, die länger in die Vergangenheit zurückreichten, rückwirkend zu gewähren. Die Vierjahresfrist des § 44 SGB X sei für steuerfinanzierte Leistungen, die der Sicherung des Lebensunterhalts und damit in besonderem Maße der Deckung gegenwärtiger Bedarfe dienten, zu lang. Eine kürzere Frist von einem Jahr sei sach- und interessengerecht. Insofern müssten dieselben Grundsätze wie in § 116a SGB XII und in § 40 Abs 1 SGB XII gelten. Entsprechend werde § 9 Abs 3 AsylbLG so abgeändert, dass § 44 SGB X zukünftig auch im AsylbLG nur mit der Maßga-be Anwendung finde, dass anstelle des Zeitraums von vier Jahren ein solcher von einem Jahr trete (Referentenentwurf S 15 f, aaO). Die Begründung im Referentenentwurf ist da-mit annähernd wortgleich zu der Begründung der Änderung des § 40 Abs 1 SGB II und der Einfügung des § 116a SGB XII (BT-Drucks aaO)."

Das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hat in seinem Urteil vom 19.09.2013 – L 7 AS 1050/13 – juris, RdNrn. 22 und 23 folgende Überlegungen angestellt, die der Senat nach eigener Prüfung teilt: "Es handelt sich um eine Nachleistungsbegrenzungsregelung zu § 44 Abs. 4 SGB X (Hen-gelhaupt in Hauck/Noftz, SGB II, § 40 Rn. 146 ff.). Verfassungsrechtliche Bedenken grei-fen insoweit nicht durch (BSG, Urteil vom 26.06.2013 - B 7 AY 6/12 R Terminbericht Nr. 30/13; Hengelhaupt, a.a.O., Rn. 158; Aubel in jurisPK, § 40 Rn. 24). Aus Art. 1 Abs. 1 und 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) und dem hieraus abzuleitenden Bedarfsdeckungsgrundsatz folgt, dass dem Leistungsberechtigten das Existenzminimum zur Verfügung zu stellen ist, das er zur Bestreitung des gegenwärtigen Bedarfs benötigt (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 - 1 BvL 1/09 Rn. 135, 140 juris). Die Grundsicherung nach dem SGB II verfolgt den Zweck, den aktuellen Lebensunterhalt zu sichern. Ziel ist die Deckung gegenwärtiger Bedarfe. Darüber hinaus handelt es sich auch nicht um eine Verletzung der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG. Dessen Schutzbereich ist nicht betroffen. Denn es handelt sich bei den Leistungen nach dem SGB II und denen nach dem SGB XII nicht um beitragsfinanzierte, sondern um steuerfinanzierte Leistungen (vgl. hierzu LSG Hessen, Beschluss vom 15.01.2013 Rn. 6 juris). Insoweit hat der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum, in welchem Umfang Fürsorgeleistungen unter Berücksichtigung vorhandener Mittel und anderer gleichwertiger Staatsaufgaben gewährt werden kann (BSG, Urteil vom 13.11.2008 - B 14 AS 2/08 R Rn. 34 juris). Auch Art. 3 Abs. 1 GG erfordert nicht die vollständige Re-stitution des status quo ante unbeschadet des Eintritts formeller Bestandskraft. Daneben sollen die Leistungsträger und die Sozialgerichte entlastet werden (BT Drucks 17/3404, S 114)."

Das BSG hat im Übrigen in seinem Urteil vom 13.02.2014 (B 4 AS 19/13 R, juris, RdNr. 16) ausgeführt, dass bereits die Rücknahme des belastenden Verwaltungsaktes bei Eingreifen der Verfallklausel des § 44 Abs. 4 SGB X "schlechthin" ausgeschlossen ist (BSG SozR 3-1300 § 44 Nr. 1; BSG SozR 3-6610 Art 5 Nr. 1) und die Verwaltung dementsprechend schon keine Rücknahmeentscheidung nach § 44 Abs. 1 SGB X mehr zu treffen hat, wenn die rechtsverbindliche, grundsätzlich zurückzunehmende Entscheidung ausschließlich Leistungen für eine Zeit betrifft, die außerhalb der durch den Rücknahmeantrag bestimmten Verfallfrist liegen. Bereits die Rücknahme selbst stehe unter dem Vorbehalt, dass Leistungen nach § 44 Abs. 4 SGB X noch zu erbringen seien (so etwa BSG, Urteil vom 28.02.2013 - B 8 SO 4/12 R – RdNr. 10).

Auch auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch kann der geltend gemachte Anspruch nicht gestützt werden. Dieser setzt voraus, dass der Sozialleistungsträger eine ihm aufgrund des Gesetzes oder eines Sozialrechtsverhältnisses obliegende Pflicht, insbesondere zur Beratung und Auskunft (§§ 14, 15 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB II)), verletzt hat. Ferner ist erforderlich, dass zwischen der Pflichtverletzung des Sozialleistungsträgers und dem Nachteil des Betroffenen ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Schließlich muss der durch das pflichtwidrige Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden können (BSG, Urteil vom 12.05.2012 - B 4 AS 166/11 R). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Denn auch die den Beklagten treffende Pflicht, den Leistungsempfänger auf naheliegende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, geht bei anwaltlich vertretenen Beteiligten nicht dahin, sie vor Nachteilen von ihrem Rechtsbeistand übersehener Rechtsänderungen zu warnen. Für die Sachbearbeitung des Beklagten war nicht erkennbar, dass der anwaltlich vertretene Kläger nicht rechtzeitig vor der Rechtsänderung etwa erforderliche Überprüfungsanträge stellen werde. Eine Antragstellung für die von den Klageverfahren nicht betroffenen Zeiten konnte der Beklagte dem Kläger überlassen; eine Überprüfung von Amts wegen war nicht veranlasst. Selbst dann aber, wenn man dies anders sehen wollte, so bliebe die Frist des § 44 Abs. 4 SGB X in der durch § 40 Abs. 2 Satz 2 SGB II modifizierten Dauer auch für den Herstellungsanspruch maßgeblich (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 27.03.2007 - B 13 R 58/06 R).

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

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Dr. Anders Voigt Weinholtz
Rechtskraft
Aus
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