L 2 U 59/02

Land
Rheinland-Pfalz
Sozialgericht
LSG Rheinland-Pfalz
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Mainz (RPF)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
LSG Rheinland-Pfalz
Aktenzeichen
L 2 U 59/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 4.12.2001 wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Umstritten ist, ob der Kläger einen Anspruch auf Anerkennung seines während einer Strafhaft in der ehemaligen DDR erlittenen Unfalls vom 27.12.1985 als Versicherungsfall in der gesetzlichen Unfallversicherung hat.

Der 1963 geborene Kläger erlitt am 27.12.1985 während seiner Strafhaft in der ehemaligen DDR im VEB M K W. P in H einen Unfall, als sein rechter Arm von einer Drahtziehmaschine erfasst wurde. Dadurch kam es zu einem Plexusabriss am rechten Arm, wodurch die Gebrauchsfähigkeit dieses Arms weitgehend verloren ging.

Mit Bescheid des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) - Kreisvorstand – Verwaltung der Sozialversicherung Gera (Stadt) vom 3.12.1987 wurde eine Unfallrente nach einem Körperschaden von 75 % festgestellt.

Im Juli 1988 verlegte der Kläger seinen Wohnsitz in das Gebiet der alten Bundesländer. Seinen Angaben zufolge erhielt er seine DDR-Unfallrente letztmals für Juli 1988 ausgezahlt.

Mit Schreiben vom Mai 1998 (eingegangen im Juni 1998) machte der Kläger gegenüber der Bundesausführungsbehörde für Unfallversicherung geltend, der Unfall vom Dezember 1985 sei als Arbeitsunfall zu entschädigen.

Durch Bescheid vom 7.4.2000 lehnte die Beklagte diesen Antrag ab, da es sich nach DDR-Recht nicht um einen versicherten Arbeitsunfall gehandelt habe. Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 14.6.2000 zurückgewiesen.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte durch Urteil vom 4.12.2001 unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides verurteilt, den Unfall des Klägers vom Dezember 1985 als Arbeitsunfall anzuerkennen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Entgegen der Meinung der Beklagten sei der Unfall des Klägers nach den Vorschriften der ehemaligen DDR ein versicherter Arbeitsunfall gewesen. Dies ergebe sich aus § 38 des Strafvollzugsgesetzes der DDR (StVG-DDR) vom 7.4.1977 (GBl I Nr 11, S 109 ff), wonach bei Schäden aus im Strafvollzug erlittenen Unfällen oder Berufskrankheiten nach der Entlassung aus dem Strafvollzug nach den für die Behandlung von Schäden oder Berufskrankheiten geltenden Rechtsvorschriften zu verfahren gewesen sei. Entgegen der Meinung der Beklagten sei mit dieser Bestimmung kein "verschuldensunabhängiger Entschädigungsanspruch gegen den Staat" begründet worden. Der Anspruchsbeginn erst nach der Entlassung aus der Haft, stehe dem nicht entgegen.

Gegen dieses ihr am 5.2.2002 zugestellte Urteil richtet sich die am 4.3.2002 beim Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz eingelegte Berufung der Beklagten.

Die Beklagte trägt vor: Der Kläger habe in der ehemaligen DDR nicht zu den in der gesetzlichen Unfallversicherung versicherten Personen gehört. Das SG habe außer Acht gelassen, dass es im DDR-Recht keine Vorschrift gegeben habe, wonach Strafgefangene in den Kreis der versicherten Personen einbezogen worden seien. Der Arbeitsunfall sei in der DDR für die Versicherten unterschiedlich definiert gewesen und zwar für die nach der "Verordnung der Sozialpflichtversicherung der Arbeiter und Angestellten" (SVO I) Versicherten in § 220 Arbeitsgesetzbuch (AGB), für die nach der "Verordnung über die Sozialversicherung bei der Staatlichen Versicherung der DDR" (SVO II) Versicherten in § 90 SVO II und für die nach der "Verordnung über die Sozialversicherung der in eigener Praxis tätigen Ärzte und der freiberuflich tätigen Kultur- und Kunstschaffenden" (SVO III) Versicherten in § 27 SVO III. Strafgefangene seien weder im SVO I noch im SVO II noch im SVO III als zum Kreis der versicherten Personen gehörig aufgeführt gewesen. Auch in der "Verordnung über die Erweiterung des Versicherungsschutzes bei Unfällen in Ausübung gesellschaftlicher, kultureller oder sportlicher Tätigkeiten" finde sich keine Regelung zu Tätigkeiten von Strafgefangenen während eines Arbeitseinsatzes. Der Kläger habe lediglich einen Anspruch auf Leistungen "wie" nach einem Arbeitsunfall gehabt. Wenn der Unfall als Arbeitsunfall zu werten gewesen wäre, hätte sich die Vorschrift des § 38 StVG-DDR erübrigt. Die Tatsache, dass der FDGB nach der Haftentlassung mit der Erledigung der Rentenangelegenheiten betraut gewesen sei, belege nicht, dass es sich um einen Arbeitsunfall gehandelt habe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des SG Mainz vom 4.12.2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Prozessakte verwiesen, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die nach §§ 143 f, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung ist nicht begründet. Das SG hat der Klage zu Recht stattgegeben. Zur Begründung verweist der Senat auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (§ 153 Abs 2 SGG), wobei er Folgendes ergänzt:

Gemäß § 215 Abs 1 des 7. Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VII) sind für die Übernahme der vor dem 1.1.1992 im Beitrittsgebiet eingetretenen Unfälle und Krankheiten als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung § 1150 Abs 2 und 3 Reichsversicherungsordnung (RVO) in der am Tag vor Inkrafttreten dieses Gesetzes geltenden Fassung weiter anzuwenden. Unfälle und Krankheiten, die vor dem 1.1.1992 eingetreten sind und die nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten der Sozialversicherung waren, gelten nach § 1150 Abs 2 Satz 1 RVO als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten im Sinne des Dritten Buches der RVO. Dies gilt nach § 1150 Abs 2 Satz 2 RVO nicht für Unfälle und Krankheiten,

1. die einem ab dem 1.1.1991 für das Beitrittsgebiet zuständigen Träger der Unfallversicherung erst nach dem 31.12.1993 bekannt werden und die nach dem Dritten Buch (der RVO) nicht zu entschädigen wären,

2. die mit Wirkung für die Zeit vor dem 1.1.1992 als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG) anerkannt worden sind, es sei denn, der Verletzte hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt vor dem 1.1.1992 in das Beitrittsgebiet verlegt.

Der Unfall des Klägers vom 27.12.1985 war im Gegensatz zur Meinung der Beklagten nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht ein Arbeitsunfall der Sozialversicherung.

Der Begriff des Arbeitsunfalls war in § 220 Abs 1 Satz 1 des AGB der DDR vom 16.6.1977 (Gbl I Nr 18, S 185) definiert. Danach war Arbeitsunfall die Verletzung eines Arbeitnehmers im Zusammenhang mit dem Arbeitsprozess. Abs 2 dieser Vorschrift erfasste Wegeunfälle. Nach Abs 3 waren den Arbeitsunfällen Unfälle bei organisierten gesellschaftlichen, kulturellen oder sportlichen Tätigkeiten gleichgestellt. Abs 4 regelte, dass durch Ausübung des Dienstes in den Bereichen des Ministeriums des Innern, des Ministeriums für Abrüstung und Verteidigung und der Zollverwaltung erlittene Körper- und Gesundheitsschäden als Folgen eines Arbeitsunfalls bzw einer Berufskrankheit galten.

Durch das StVG-DDR vom 7.4.1977 wurde ein Unfallversicherungsschutz während der Haft eingeführt. Nach § 6 Abs 2 dieses Gesetzes fanden für den Arbeitseinsatz Strafgefangener die Grundsätze der arbeitsrechtlichen Vorschriften nach den in diesem Gesetz getroffenen Regelungen entsprechende Anwendung. Nach Abs 3 dieser Vorschrift wurde nach der Entlassung aus dem Strafvollzug die Dauer des Arbeitseinsatzes der Zeit einer versicherungspflichtigen Tätigkeit gleichgestellt. Gemäß § 38 StVG-DDR wurde bei Schäden aus im Strafvollzug erlittenen Unfällen oder Berufskrankheiten nach der Entlassung aus dem Strafvollzug nach den für die Behandlung von Schäden aus Unfällen oder Berufskrankheiten geltenden Rechtsvorschriften verfahren, sofern diese Schäden zum Zeitpunkt der Entlassung noch vorlagen oder danach als ursächliche Folge eines solchen Unfalls oder einer solchen Berufskrankheit eintraten.

Mit § 6 Abs 3 iVm § 38 StVG-DDR wurden Strafgefangene in den Kreis der gegen "Arbeitsunfall" Versicherten einbezogen. Der Auffassung der Beklagten, Strafgefangene hätten in der DDR nicht zum Kreis der versicherungspflichtigen Personen gehört und nur Anspruch auf Leistungen "wie" nach einem Arbeitsunfall gehabt, kann nicht gefolgt werden. Denn aus § 6 Abs 3 StVG-DDR ergibt sich eindeutig die Gleichstellung mit einer versicherungspflichtigen Tätigkeit.

§ 38 StVG-DDR spricht zudem von "Unfällen und Berufskrankheiten", die Versicherte im Strafvollzug erlitten hatten. Zwar wird in dieser Vorschrift, anders als in § 220 AGB, nicht der Begriff des "Arbeitsunfalls" verwandt. Indem der Begriff der "Berufskrankheit" gebraucht wurde, hat der DDR-Gesetzgeber indes deutlich gemacht, dass schädigende Ereignisse während Arbeitseinsätzen im Strafvollzug als Versicherungsfälle im Sinne der DDR-Vorschriften galten.

Dies steht im Einklang mit Sinn und Zweck der §§ 6 Abs 3, 38 StVG. Diese Regelungen beruhten auf dem Anliegen des DDR-Gesetzgebers, dass Strafgefangenen auf dem Gebiet der Gewährleistung des Gesundheitsschutzes keine Nachteile gegenüber anderen Bürgern erwachsen sollten (Martens/Satzke, Rechte und Pflichten des Strafgefangenen, hrsg im Auftrag des Ministeriums des Innern, Verwaltung Strafvollzug, 1982, S 24). Deshalb wurden Schäden, die durch einen Unfall bei der Arbeit im Rahmen des Strafvollzugs eintraten, als Folgen eines Arbeitsunfalls behandelt (Martens/Satzke, aaO, S 57). Auch ansonsten ist im DDR-Schrifttum aus der damaligen Zeit ausdrücklich davon die Rede, dass es sich um Arbeitsunfälle bzw. Berufskrankheiten handelte (vgl Arbeitseinsatz Strafgefangener, hrsg von einem Autorenkollektiv im Auftrag des Ministeriums des Innern, Verwaltung Strafvollzug, 1981, S 34).

Die Regelung in § 38 StVG-DDR, bei Strafgefangenen werde nach der Entlassung aus dem Strafvollzug nach den für die Behandlung von Schäden aus Unfällen und Berufskrankheiten geltenden Rechtsvorschriften verfahren, diente nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift nicht der Abgrenzung gegenüber Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten. Vielmehr bezweckte die Vorschrift - vor allem wenn gleichzeitig § 6 Abs 3 StVG-DDR in das Blickfeld genommen wird - allein die Klarstellung, dass die verfahrensrechtliche Behandlung solcher Fälle derjenigen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten von Beschäftigten entsprechen sollte.

Das entspricht dem Beschluss des LSG Thüringen vom 25.2.2002 (Az L 1 U 592/01). Dieses ist hierin, ohne dass die Frage dort entscheidungserheblich war, für die Zeit nach dem Inkrafttreten des StVG-DDR davon ausgegangen, dass ein Unfall in der Haft ein Arbeitsunfall nach DDR-Recht im Sinne des § 1150 Abs 2 Satz 1 RVO war. Eine nähere Problematisierung hielt das LSG Thüringen zutreffend nicht für erforderlich, da eine andere Auslegung der DDR-Vorschriften für die Zeit nach dem Inkrafttreten des StVG-DDR im Hinblick auf die eindeutige Regelung in § 6 Abs 3 StVG-DDR nicht ernsthaft in Betracht kommt.

§ 1150 Abs 2 Satz 2 RVO greift vorliegend nicht ein. Eine Anerkennung nach dem FRG im Sinne von Nr 2 dieser Vorschrift ist nicht erfolgt. Für die Anwendbarkeit dieser Vorschrift reicht es zwar aus, dass am 31.12.1991 ein Anerkennungsverfahren lief, wenn an diesem Tag ein Antrag nach dem FRG gestellt war oder das Verfahren auf andere Weise aufgenommen worden war (Bundessozialgericht -BSG-, Urt. v 18.6.1996, Az 9 RV 6/94). Dies ist indes vorliegend nicht der Fall. Der Kläger hat erst im Jahre 1998 einen Antrag auf Entschädigung nach den bundesdeutschen Vorschriften gestellt. Ein solcher Antrag war in seinem Vorbringen im Rahmen des 1988 begonnenen Verfahrens auf Gewährung einer Versichertenrente wegen Erwerbsminderung durch den Träger der gesetzlichen Rentenversicherung nicht enthalten. Dass der Kläger seinerzeit gegenüber dem Rentenversicherungsträger von einem "Arbeitsunfall" gesprochen hat, rechtfertigt nicht die Annahme, er habe einen Antrag auf Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung gestellt.

Auch § 1150 Abs 2 Satz 2 Nr 1 RVO scheidet aus, weil der Unfall des Klägers nach den bundesdeutschen Vorschriften zu entschädigen wäre. Gemäß § 540 RVO idF des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30.4.1963 (BGBl I 241) waren gegen Arbeitsunfall Personen versichert, die während einer auf Grund eines Gesetzes angeordneten Freiheitsentziehung wie ein nach § 539 Abs 1 RVO Versicherter tätig wurden; dies galt nur dann nicht, wenn diese Personen bereits nach § 539 Abs 1 RVO versichert waren.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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