L 4 AS 263/15 B ER

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Gotha (FST)
Aktenzeichen
S 37 AS 297/15 ER
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 4 AS 263/15 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Nach § 12a Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 SGB II ist ein Leistungsberechtigter nach Vollendung des 63. Lebensjahres gesetzlich verpflichtet, eine vorzeitige Altersrente zu beantragen.

2. Ein Leistungsträger ist im Regelfall berechtigt, einen Leistungsberechtigten aufzufordern, dieser Pflicht nachzukommen. Das in § 5 Abs. 3 S. 1 SGB bei der Aufforderung zur Beantragung vorrangiger Sozialleistungen anderer Träger vorgesehene Ermessen ist im Falle des § 12a Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 SGB II ein sog. intendiertes Ermessen, so dass der Leistungsträger im Rahmen der Ermessensausübung die regelmäßig mit der Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente verbundenen nachteiligen, aber vom Gesetzgeber grundsätzlich gebilligten Konsequenzen nicht nochmals in eine Abwägung einzustellen hat. Eine die Interessen des Leistungsberechtigten mit dem öffentlichen Interesse im Einzelnen abwägende Ermessensentscheidung ist im Rahmen des § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II nur in atypischen Fällen und insbesondere dann erforderlich, wenn die erzwungene Inanspruchnahme der anderen Sozialleistung mit einem außergewöhnlichen Nachteil für den Leistungsberechtigten verbunden wäre, der eine unangemessene („unbillige“) Härte begründen könnte (Anschluss Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 19. Februar 2015 – L 8 AS 1232/14 ER, juris).
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 5. Februar 2015 wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller auch für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgewiesen.

Gründe:

I.

Der Antragsteller wendet sich gegen die Aufforderung durch den Antragsgegner, eine vorzeitige Rente zu beantragen und begehrt insoweit die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage zum Sozialgericht und die Rücknahme eines im Wege der Ersatzvornahme durch den Antragsgegner gestellten Rentenantrags.

Der Antragsteller steht beim Antragsgegner als Bedarfsgemeinschaft mit seiner Ehefrau im Leistungsbezug nach dem SGB II. Mit dem 1. August 2013 vollendete er sein 63. Lebensjahr.

Mit Bescheid vom 4. Juli 2014 forderte der Antragsgegner den Antragsteller auf, bei seinem zuständigen Rentenversicherungsträger eine geminderte Altersrente zu beantragen. Den dage-gen eingelegten Widerspruch vom 1. August 2014 wies der Antragsgegner mit Widerspruchs-bescheid vom 14. Oktober 2014 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er aus, dass sich die Pflicht zur Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente aus § 12a SGB II ergebe. Die Voraussetzungen des § 65 Abs. 4 SGB II lägen nicht vor und es sei auch keiner der Tatbestände der Unbilligkeitsverordnung erfüllt. Auch im Wege einer teilweise von der Rechtsprechung geforderten Ermessensausübung ergebe sich im Falle des Antragstellers kein anderes Ergebnis. Zwar sei davon auszugehen, dass der Antragsteller bei Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente dauerhaft SGB XII-Leistungen in Anspruch nehmen müsse. Dies sei angesichts der zu erwartenden abschlagsfreien Nettorente von 575,38 Euro allerdings auch bei regulärem Renteneintritt zu erwarten. Daher überwiege das öffentliche Interesse an der Verringerung zu gewährender Sozialleistungen.

Unter dem 30. Oktober 2014 beantragte der Antragsgegner für den Antragsteller bei der Rente.

Gegen den Bescheid vom 4. Juli 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Oktober 2014 hat der Antragsteller Klage zu Sozialgericht Gotha erhoben (S 20 AS 5189/14). Parallel dazu hat er beim Sozialgericht Gotha beantragt, die aufschiebende Wirkung seiner Klage anzuordnen und den Antragsgegner zu verpflichten, den gestellten Rentenantrag zurückzunehmen.

Das Sozialgericht hat den Eilantrag mit Beschluss vom 5. Februar 2015 abgewiesen. Zur Be-gründung hat es ausgeführt, dass die Aufforderung durch den Antragsgegner rechtmäßig sei. Rechtsgrundlagen seien §§ 12a S. 1, 5 Abs. 3 S. 1 SGB II. Ausnahmen nach der Unbillig-keitsverordnung oder aus Ermessensgesichtspunkten heraus seien nicht gegeben, da der An-tragsteller auch bei Inanspruchnahme einer ungekürzten Rente aufstockende Leistungen nach dem SGB XII erhalten würde. Prognosen, welche SGB II-Leistungen gegenüber aufzuwendenden SGB XII-Leistungen eingespart würden, seien nicht anzustellen.

Dagegen hat der Antragsteller Beschwerde eingelegt. Er ist der Meinung, der Antragsgegner habe pflichtwidrig kein Ermessen ausgeübt. Soweit der Widerspruchsbescheid Ermessenerwägungen enthalte, seien diese verspätet, jedenfalls aber fehlerhaft. Der Antragsgegner habe weniger einschneidende Maßnahmen, wie die Eingliederung ins Arbeitsleben, nicht berücksichtigt. Auch treffe es nicht zu, dass der Antragsteller bei Bezug einer abschlagsfreien Altersrente SGB XII-Leistungen beanspruchen müsse, da eine Bedarfsgemeinschaft vorliege und auch das spätere Einkommen der Ehefrau zu berücksichtigen sei. Zudem könne der Antragsteller Wohngeld beantragen. Dass Ermessen auszuüben sei, sei mittlerweile von verschiedenen Landessozialgerichten festgestellt worden. Der vom Antragsgegner gestellte Rentenantrag sei zurückzunehmen.

Der Antragsgegner hat im Beschwerdeverfahren keine Stellungnahme abgegeben.

Bzgl. der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakte verwiesen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das Sozialgericht hat den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt.

Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid vom 4. Juli 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Oktober 2014. Nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage - wie hier gem. §§ 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG, 39 Nr. 3 SGB II - keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise herstellen. Dabei ist eine Interessenabwägung vorzunehmen. Erweist sich der Bescheid nach summarischer Prüfung als offensichtlich rechtmäßig, ist der Antrag abzulehnen. Spricht dagegen mehr für als gegen die Rechtswidrigkeit, ist in der Regel die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anzuordnen, weil dann ein überwiegendes Interesse an der Vollziehung des Verwaltungsaktes nicht erkennbar ist. Im Rahmen der Abwägung ist zusätzlich die besondere Dringlichkeit zur Rechtfertigung einer vorläufigen Regelung zu beachten.

Der Bescheid vom 4. Juli 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Oktober 2014 ist offensichtlich rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten.

Rechtsgrundlage für die Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente sind §§ 5 Abs. 3 S. 1, 12a S. 1 SGB II. Nach § 12a S. 1 SGB II sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die hierfür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist. § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II ermächtigt den Leistungsträger zur Ersatzvornahme, wenn ein Leistungsberechtigter "trotz Aufforderung" einen solchen Antrag nicht stellt. Zutreffend wurde die Aufforderung als Verwaltungsakt erlassen (vgl. BSG, Beschluss vom 16. Dezember 2011 – B 14 AS 138/11 B, juris).

Der Ausnahmetatbestand des § 12a S. 2 Nr. 1 SGB II, wonach Leistungsberechtigte abweichend vom Satz 1 nicht verpflichtet sind, bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen, greift nicht, da der Antragsteller mit dem 1. August 2013 das 63. Lebensjahr vollendet hat.

Auch aus § 65 Abs. 4 SGB II ergibt sich keine Ausnahme, da der Antragsteller am 1. Januar 2008 das 58. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte.

Es lag auch keine der Fallgruppen vor, in denen Leistungsberechtigte nach der Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente (Unbilligkeitsverordnung - UnbilligkeitsV), die in Wahrnehmung der Ermächtigung aus § 13 Abs. 2 SGB II erlassen wurde, nach Vollendung des 63. Lebensjahrs ausnahmsweise zur Vermeidung von Unbilligkeiten nicht verpflichtet sind, eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen. Der Antragsteller hatte nicht, wie § 2 UnbilligkeitsV verlangt, einen Anspruch auf Arbeitslosengeld nach dem SGB III. Er konnte auch nicht im Sinne des § 3 UnbilligkeitsV "in nächster Zukunft", d.h. demnächst bzw. innerhalb von drei Monaten (vgl. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 4. Dezember 2014 – L 7 AS 1775/14, juris, m.w.N.), sondern erst ab 1. Dezember 2015 ohne Abschläge in Altersrente gehen (Rentenauskunft der vom 5. Mai 2014). Ferner war er nicht, wie nach § 4 UnbilligkeitsV erforderlich wäre, sozialversicherungspflichtig beschäftigt oder erzielte aus sonstiger Erwerbstätigkeit ein entsprechend hohes Einkommen (gem. § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV mehr als 450 Euro). Schließlich lag auch kein Fall des § 5 UnbilligkeitsV vor, weil der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht hat, dass er in nächster Zukunft einer solchen nicht nur vorübergehenden Erwerbstätigkeit nachgehen werde.

Aus § 1 UnbilligkeitsV folgt nichts anderes. Soweit dort bestimmt wird, dass Hilfebedürftige nach Vollendung des 63. Lebensjahres nicht verpflichtet sind, eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen, wenn die Inanspruchnahme "unbillig" wäre, ist dies nicht dahingehend zu verstehen, dass hiermit durch Rechtsverordnung die Unbilligkeit – im Sinne eines unbestimmten Rechtsbegriffs – als negative Voraussetzung für die von Gesetzes wegen (nach § 12a SGB II) bestehende Pflicht zur Inanspruchnahme einer Altersrente statuiert werden soll (zutreffend Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 19. Februar 2015 – L 8 AS 1232/14 ER, juris; so aber Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23. Oktober 2014, L 7 AS 886/14). § 13 Abs. 2 SGB II ermächtigt den Verordnungsgeber nur zu bestimmen, "unter welchen Voraussetzungen und für welche Dauer" die Inanspruchnahme der Altersrente unbillig ist, d.h. er darf lediglich "eng umgrenzte Fälle" der Unbilligkeit definieren (vgl. BT-Drucks. 16/7460, S. 12).

Auch das im Rahmen des § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II vorgesehene Ermessen wurde durch den Leistungsträger nicht fehlerhaft ausgeübt.

§ 5 Abs. 3 S. 1 SGB II bestimmt, dass Leistungsträger erforderliche Anträge auf Leistungen eines anderen Trägers stellen "können". Dies ist nicht in dem Sinne zu verstehen, dass ihnen lediglich eine Befugnis zur Antragstellung eingeräumt wird (sog. "Kompetenz-Kann", vgl. dazu BSG, Urteil vom 8. Februar 2007 – B 7a AL 36/06 R, juris), sondern dahingehend, dass ihnen auch ein Ermessen hinsichtlich der Frage zustehen soll, ob sie für an sich nach § 12a S. 1 SGB II zur Antragstellung verpflichtete Leistungsberechtigte ersatzweise Anträge stellen (sog. "Ermessens-Kann"; Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 19. Februar 2015 – L 8 AS 1232/14 ER, juris und Beschluss vom 28. August 2014 – L 7 AS 836/14 B ER, juris; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23.10.2014 – L 7 AS 886/14, juris und Beschluss vom 22. Mai 2013 – L 19 AS 291/13 B ER, juris). Dies muss schon deshalb gelten, weil sich die Inanspruchnahme von Sozialleistungen nach § 5 Abs. 3, § 12a S. 1 SGB II als eine Verwertung von Vermögenspositionen zur Minderung bedarfsabhängiger Sozialleistungen darstellt, die insbesondere dann, wenn es sich wie bei der Altersrente nach §§ 35 ff. SGB VI um eigentumsrechtlich geschützte Positionen handelt (BVerfG, Beschluss vom 11. Januar 2011 – 1 BvR 3588/08 u.a., juris), aus Verfassungsgründen unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit steht (vgl. z.B. BVerfG, Kammerbeschluss vom 15. Januar 2007 – 1 BvR 2971/06, juris), d.h. verhältnismäßig, insbesondere angemessen, sein muss (Knickrehm, Soziale Sicherheit, 2008, 192, 195). Von daher muss auch im Regelungszusammenhang der §§ 5 Abs. 3, 12a S. 1 SGB II – ähnlich wie für das übrige Vermögen in § 12 Abs. 3 S. 1 Nr. 6 SGB II bestimmt – generell eine Möglichkeit bestehen, besonderen, nicht von der UnbilligkeitsV und § 12a S. 2 Nr. 1 SGB II erfassten Härtefällen Rechnung zu tragen, was nur durch die Eröffnung von Ermessen erreicht werden kann (Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 19. Februar 2015 – L 8 AS 1232/14 ER, juris; vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. November 2014 – L 10 AS 2254/14 B ER, juris). Die Ermessensausübung muss entgegen dem insoweit missverständlichen Wortlaut des § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II dabei nicht erst bei der ersatzweisen Antragstellung durch den Leistungsträger erfolgen, sondern bereits bei der Auf-forderung zur Antragstellung (S. Knickrehm/Hahn, in: Eicher, SGB II, 3. Aufl., § 5 Rn. 35; Breitkreuz, ASR 2015, 2, 4 f.). Denn die Aufforderung kann nur dann rechtmäßig sein, wenn auch die Antragstellung rechtmäßig wäre (Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 19. Februar 2015 – L 8 AS 1232/14 ER, juris).

Das auszuübende Ermessen ist nach dem Regelungszusammenhang und -zweck ein intendiertes Ermessen (Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 19. Februar 2015 – L 8 AS 1232/14 ER, juris; so auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. November 2014 – L 10 AS 2254/14 B ER, juris). Von einem intendierten Ermessen ist auszugehen, wenn die Auslegung des Gesetzes nach dem Zweck der Ermächtigung ergibt, dass der Behörde für den Regelfall eine bestimmte Entscheidung vorgegeben sein soll (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl., § 54 Rn. 25). Dies ist bei § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II der Fall. Denn die dort vorausgesetzte Pflicht des Leistungsberechtigten, eine vorrangige Sozialleistung in Anspruch zu nehmen, ist - in konsequenter Umsetzung des Grundprinzips des SGB II, wonach jeder Einzelne zunächst selbst für die Sicherung seines Lebensunterhalts verantwortlich ist und daher alle ihm hierfür zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen hat - bereits in § 12a S. 1 SGB II geregelt. Demgegenüber betrifft die Ermessensvorschrift des § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II nur die Durchsetzung dieser Pflicht und regelt damit letztlich eine be-sondere Form des Verwaltungszwangs. Für die Befugnis, einen derartigen Zwang ausüben zu können, besteht ein Bedürfnis, weil nicht beantragte Sozialleistungen – trotz der Nachrangigkeit der SGB II-Leistungen – nicht als fiktives Einkommen oder Vermögen im Sinne der §§ 11, 12 SGB II berücksichtigt werden dürfen. Das Gesetz räumt also dem SGB II-Leistungsträger in § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II Ermessen nicht im Hinblick auf die Frage ein, ob die andere Sozialleistung in Anspruch zu nehmen ist, sondern nur im Hinblick auf die Frage, ob eine Pflicht zur Inanspruchnahme auch zwangsweise durchgesetzt wird. Daher kann es insbesondere im Fall der Pflicht zur Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente nach § 12a S. 1, S. 2 Nr. 1 SGB II nicht Aufgabe des Leistungsträgers sein, im Rahmen der Ermessensausübung die regelmäßig damit verbundenen nachteiligen, aber vom Gesetzgeber grundsätzlich gebilligten Konsequenzen nochmals in eine Abwägung einzustellen. Bei der Frage, ob die Inanspruchnahme der vorrangigen Sozialleistung erzwungen werden darf, ist nicht ersichtlich, weshalb der Leistungsträger – anders als sonst bei Einkommen und Vermögen im Sinne von §§ 11, 12 SGB II – hinsichtlich der Verwertung dieser Rechte bzw. Anwartschaften ein offenes Ermessen sollte ausüben müssen. Soweit der Leistungsberechtigte nach § 12a S. 1 SGB II zur Inanspruchnahme der anderen Sozialleistung gesetzlich verpflichtet ist, muss der Leistungsträger diesen vielmehr im Regelfall auch auffordern dürfen, seiner Pflicht nachzukommen, und notfalls ersatzweise selbst den Antrag stellen. Eine die Interessen des Leistungsberechtigten mit dem öffentlichen Interesse im Einzelnen abwägende Ermessensentscheidung ist im Rahmen des § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II deshalb nur in atypischen Fällen und insbesondere dann erforderlich, wenn die erzwungene Inanspruchnahme der anderen Sozialleistung mit einem außergewöhnlichen Nachteil für den Leistungsberechtigten verbunden wäre, der eine unangemessene ("unbillige") Härte begründen könnte (zutreffend Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 19. Februar 2015 – L 8 AS 1232/14 ER, juris; vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. November 2014 – L 10 AS 2254/14 B ER, juris; a.A. LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 10. Dezember 2014 – L 2 AS 520/14 B ER, juris). Soweit dagegen keine Umstände offensichtlich sind oder sich nach den Umständen des Falles aufdrängen, die einen atypischen Fall begründen, versteht sich das Ergebnis der Abwägung von selbst und muss dementsprechend auch nicht nach § 35 Abs. 1 S. 3 SGB X weitergehend begründet werden (Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 19. Februar 2015 – L 8 AS 1232/14 ER, juris; vgl. zur Abwägung und Begründung beim intendierten Ermessen Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 23.05.1996 – 3 C 13/94, juris).

Ein atypischer Fall im vorstehenden Sinne liegt hier nicht vor.

Dass der Antragsteller mit Erreichen der Regelaltersgrenze eine höhere abschlagfreie Altersrente beziehen könnte, ist kein Umstand, der einen atypischen Fall begründen kann. Denn nach dem Regelungskonzept des Gesetzgebers, wie es in § 12a S. 1 und S. 2 Nr. 1 SGB II zum Ausdruck gekommen ist, soll eine mögliche vorzeitige Altersrente ab dem 63. Lebensjahr regelmäßig in Anspruch genommen werden – und dies obwohl damit gemäß § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB VI in jedem Fall die Rechtsfolge verbunden ist, dass die Rente lebenslang mit Abschlägen versehen ist (vgl. BT-Drucks. 16/7460, S. 12: "Damit wird einheitlich für alle Hilfebedürftigen ein Alter festgelegt, ab dem sie eine vorzeitige Altersrente mit Abschlägen in Anspruch zu nehmen haben."; s. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23. Oktober 2014 – L 7 AS 886/14, juris). Der Gesetzgeber hat die grundlegende Entscheidung getroffen, dass bei der Vermögensverwertung nach dem SGB II nicht auf den Schutz der erarbeiteten Vermögensposition ankommen soll (BSG, Urteil vom 23. Mai 2012 - B 14 AS 100/11 R, juris) und diese mit der Verpflichtung zur Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente mit Abschlägen konsequent fortentwickelt. Insoweit hat das SGB II - anders als etwa das Rentenversicherungsrecht - gerade keine möglichst weitreichende soziale Absicherung zum Ziel (Breitkreuz, ASR 2015, 2, 5). Demnach kann zunächst in den Fällen, in denen nicht nur die abschlagfreie, sondern auch die vorzeitige Altersrente bedarfsdeckend wäre, der bloße Umstand der niedrigeren Rentenleistung keinen atypischen Fall begründen (Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 19. Februar 2015 – L 8 AS 1232/14 ER, juris; vgl. auch LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 19. August 2014 – L 4 AS 159/14 B ER, juris).

Ein atypischer Fall liegt ferner nicht schon dann vor, wenn die vorzeitige Altersrente des Leistungsberechtigten, die nach § 7 Abs. 4 S. 1 SGB II ergänzende Leistungen nach dem SGB II ausschließt, nicht bedarfsdeckend sein würde und er daher Leistungen nach dem SGB XII (Hilfe zum Lebensunterhalt nach §§ 27 ff. SGB XII, nach Erreichen der Altersgrenze Grundsicherung im Alter nach §§ 41 ff. SGB XII), ggf. alternativ Wohngeld in Anspruch nehmen müsste (Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 19. Februar 2015 – L 8 AS 1232/14 ER, juris; ausführlich dazu LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. November 2014 – L 10 AS 2254/14 B ER, juris; vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23. Oktober 2014 – L 7 AS 886/14, juris; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13. Mai 2013 – L 7 AS 525/13 B ER u.a., juris; Breitkreuz, ASR 2015, 2, 5). Denn allein der Wechsel vom SGB II zum SGB XII kann nicht als unbillig gewertet werden. Dies gilt erst recht, wenn sogar die abschlagsfreie Altersrente so niedrig sein würde, dass voraussichtlich ein Leistungsbezug nach dem SGB XII erforderlich würde (Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 19. Februar 2015 – L 8 AS 1232/14 ER, juris und Beschluss vom 28. August 2014 – L 7 AS 836/14 B ER, juris; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13. Mai 2013 – L 7 AS 525/13 B ER u.a.).

Nichts anderes gilt für diejenigen Leistungsempfänger, die eine voraussichtlich bedarfsdeckende abschlagsfreie Altersrente beziehen könnten, jedoch bei Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente weitere Sozialleistungen beantragen müssten. Denn indem auch diese Leistungsberechtigten bei Bezug einer vorzeitigen Altersrente ergänzend Sozialleistungen mindestens auf Grundsicherungsniveau – nämlich Wohngeld oder notfalls Leistungen nach dem SGB XII – erhalten, wird ihre Rentenminderung gemildert. So gesehen sind sie wirtschaftlich weniger hart betroffen als diejenigen, deren vorzeitige Altersrente bedarfsdeckend ist (ggf. sogar nur in etwa auf Grundsicherungsniveau) und die somit die Rentenabschläge im vollen Umfang als dauerhafte Einbuße hinnehmen müssen (Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 19. Februar 2015 – L 8 AS 1232/14 ER, juris).

Vor diesem Hintergrund ist es nicht Aufgabe des Leistungsträgers, im Rahmen der Ermes-sensausübung nach § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II den Versuch einer Schätzung zu unternehmen, ob die – ggf. erst nach Jahren zu zahlende – abschlagsfreie Altersrente voraussichtlich bedarfsdeckend sein würde (zutreffend Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 19. Februar 2015 – L 8 AS 1232/14 ER, juris; a.A. LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 10. Dezember 2014 - L 2 AS 520/14 B ER, juris). Eine solche Schätzung wäre ohnehin äußerst unsicher, da die künftige Höhe der Rentenwerte, Regelsätze, Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge wie auch der Kosten der Unterkunft und Heizung (Energiepreise, Witterung im Winter, Umzug usw.) nur mit großen Unsicherheiten vorhergesagt werden könnten. Ob die abschlagsfreie Altersrente des Antragstellers überhaupt bedarfsdeckend sein könnte, kann damit dahinstehen.

Entgegen der Ansicht des Antragstellers begründet die Eingliederung in den Arbeitsmarkt als weniger einschneidende Maßnahme keinen atypischen Fall. Es ist nicht vorgetragen oder sonst ersichtlich, dass eine solche Eingliederung in absehbarer Zeit realistisch in Aussicht stand. Insoweit handelt es sich gerade um einen typischen Fall.

Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen - insbesondere mit Blick auf Art. 14 GG - ebenfalls nicht. Das BVerfG hat bereits entschieden, dass Abschläge, die sich an der Tatsache des Eintritts in den Ruhestand vor Vollendung des Regelalters orientieren, von Verfassungswegen nicht danach unterschieden werden müssen, ob die Zurruhesetzung aus der Perspektive des Betroffenen freiwillig oder unfreiwillig erfolgt (BVerfG, Beschluss vom 11. Januar 2011 - 1 BvR 3588/08 u.a.). Diese Entscheidung, die zur Frage des richtigen Zugangsfaktors bei Renten wegen Erwerbsminderung (§ 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB VI) ergangen ist und somit auf einen Fall der "Unfreiwilligkeit aus tatsächlichen Gründen" Bezug nimmt, ist auf den in §§ 12a, 5 Abs. 3 SGB II angelegten Fall der "Unfreiwilligkeit" aus rechtlichen Gründen" übertragbar sein (Breitkreuz, ASR 2015, 2, 4).

Angesichts dessen wird es nicht zu beanstanden sein, dass der Beklagte über § 65 Abs. 4 SGB II und die UnbilligkeitsV hinaus keine weitere Ermessenprüfung vorgenommen hat. Anhaltspunkte für einen insoweit zu berücksichtigenden atypischen Fall sind nicht vorgetragen oder ersichtlich.

Da die Aufforderung zur Rentenantragsstellung offensichtlich rechtmäßig war, hat der An-tragsteller ebenfalls keinen Anspruch auf Rücknahme des Rentenantrags durch den Antrags-gegner (§ 86b Abs. 1 S. 2 SGG).

Die Kostenentscheidung orientiert sich am Ausgang der Beschwerde entsprechend § 193 Abs. 1 S. 1 SGG.

Die Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe folgt aus §§ 73a SGG, 114 ZPO, da es der Beschwerde aus den genannten Gründen jedenfalls an hinreichenden Erfolgsaussichten fehlt.

Der Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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