S 57 AS 1371/15 ER

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
57
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 57 AS 1371/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Der Antragsgegner wird vorläufig verpflichtet, den Antragstellerinnen ab dem 15. April 2015 jeweils Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. II. Der Antragsgegner hat den Antragstellerinnen die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe:

Die Antragstellerinnen, die 14, 12 und 8 Jahre alt sind und bis zum Februar 2015 Sozialhilfe von der Beigeladenen bezogen, begehren im Wege des einstweiligen Rechtschutzes die Verpflichtung des Antragsgegners, hilfsweise der Beigeladenen, ihnen (weiterhin) Leistungen zu gewähren. Dabei streiten die Beteiligten allein darüber, ob die Antragstellerinnen eine Bedarfsgemeinschaft mit ihrem 15-jährigen Bruder C.K. bilden, der als erwerbsfähiger Leistungsberechtigter aktuell SGB II-Leistungen vom Antragsgegner bezieht.

I. Der Eilantrag ist als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in Form der Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig. Er ist gegenüber dem Antragsgegner auch begründet. Eine Regelungsanordnung kann getroffen werden, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Hierfür muss sowohl ein Anordnungsanspruch bestehen, also ein materiell-rechtlicher Anspruch auf die begehrte Leistung, sowie ein Anordnungsgrund, nämlich ein Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG iVm §§ 294, 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung). Das ist den Antragstellerinnen gelungen.

1. Es erscheint überwiegend wahrscheinlich, dass die Antragstellerinnen vom Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Form von Sozialgeld beanspruchen können. Sie können den geltend gemachten Anspruch auf § 19 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 7 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) – Grundsicherung für Arbeitsuchende – stützen. Sie gehören zur Gruppe der nichterwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, hier ihrem Bruder C., in einer Bedarfsgemeinschaft leben, und es gibt keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass sie einen vorrangigen Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuches haben.

a. Dass die Antragstellerinnen mit ihrem Bruder C. eine Bedarfsgemeinschaft bilden, folgt aus § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II. Nach dieser Vorschrift gehören zur Bedarfsgemeinschaft die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder der in den Nrn. 1 bis 3 genannten Personen, wenn sie das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, soweit sie die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen können. Diese Voraussetzungen sind in den Personen der Antragstellerinnen jeweils erfüllt:

aa. Die Antragstellerinnen gehören unstreitig dem Haushalt an, in dem auch ihr Bruder C. lebt.

bb. Sie sind unstreitig die unverheirateten Kinder des 69-jährigen J.M., der im gleichen Haushalt lebt, aber als Rentner und zudem wegen Überschreitens der Altersgrenze des § 7a Abs. 1 Satz 1 SGB II von SGB II-Leistungen ausgeschlossen ist. Herr M. gehört zu den "in den Nummern 1 bis 3 genannten Personen", weil auch er, wiewohl nicht leistungsberechtigt nach dem SGB II, zur Bedarfsgemeinschaft gehört. Das ergibt sich für ihn aus § 7 Abs. 3 Nr. 2 SGB II: Herr M. ist in Bezug auf C.K. ein im Haushalt lebender Elternteil, denn auch C. ist unstreitig sein Kind, und C. ist unstreitig unverheiratet, erwerbsfähig und hat das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet.

cc. Die Antragstellerinnen haben das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet. Mit dem Erkenntnisstand im Eilverfahren ist schließlich davon auszugehen, dass sie ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen bestreiten können; sie bezogen zuletzt Sozialhilfe.

b. Die Antragstellerinnen leben demnach nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut in einer Bedarfsgemeinschaft mit ihrem Bruder C. und werden über § 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II in das Leistungssystem des SGB II einbezogen. Das ist vom Gesetzgeber für derartige Konstellationen ausdrücklich so gewollt. Die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit vom 28. April 2004 zum Kommunalen Optionsgesetz nennt als eine der Fallkonstellationen, in denen minderjährige Kinder zur Bedarfsgemeinschaft gehören: "Dies sind die dem Haushalt angehörenden minderjährigen unverheirateten nicht erwerbsfähigen Kinder (Anm.: hier die Antragstellerinnen) eines nicht erwerbsfähigen Hilfebedürftigen (Anm.: hier Herr M.) , wenn dem Haushalt auch ein minderjähriges unverheiratetes erwerbsfähiges Kind eines nicht erwerbsfähigen Hilfebedürftigen angehört (Anm.: hier C.K.), soweit sie nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts beschaffen können" (BT-Drucks. 15/2997, S. 24; die Passage ist abgedruckt bei Spellbrink/G. Becker in: Eicher, SGB II, § 7 Rn. 108, 3. Spiegelstrich). Anders als der Antragsgegner zu meinen scheint, bezieht sich die Formulierung "Kinder eines nicht erwerbsfähigen Hilfebedürftigen" nicht lediglich auf Kinder, deren Elternteil die Erwerbsfähigkeit im strengen Sinne des § 8 Abs. 1 SGB II fehlt. Vielmehr ist die Formulierung weit zu verstehen und umfasst die Kinder aller Personen, die im Haushalt leben, ohne selbst erwerbsfähiger Leistungsberechtigter im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind. Auch im Gesetzestext weist die Verwendung des Begriffs "nichterwerbsfähig" über die Kriterien des § 8 Abs. 1 SGB II hinaus. So gehören zu den "nichterwerbsfähigen Leistungsberechtigten" in § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II vor allem Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren, denen aber die Erwerbsfähigkeit nicht aus gesundheitlicher Sicht fehlt, sondern die schlicht die Altersgrenze für den Arbeitslosengeld II-Bezug noch nicht erreicht haben. Im Übrigen hat die nach Auffassung des Antragsgegners bestehende Beschränkung, selbst wenn sie vom Arbeits- und Wirtschaftsausschuss beabsichtigt gewesen sein sollte, keinen Eingang in die gesetzliche Regelung gefunden. § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II erfasst nach seinem eindeutigen Wortlaut alle unverheirateten Kinder "der in den Nummern 1 bis 3 genannten Personen", ohne zu unterscheiden, ob diese Personen selbst erwerbsfähig oder nicht erwerbsfähig sind. Dabei kann es sich nicht um ein Versehen handeln, denn an anderer Stelle werden die Regelungen des § 7 durchaus auf erwerbsfähige Personen beschränkt. § 7 Abs. 3 Nr. 2 SGB II verlangt etwa, dass der einzubeziehende Elternteil Vater oder Mutter eines erwerbsfähigen Kindes ist.

2. Die Antragstellerinnen haben auch glaubhaft gemacht, zur Abwendung wesentlicher Nachteile auf eine sofortige gerichtliche Regelung angewiesen zu sein. Das folgt bereits aus dem existenzsichernden Charakter der begehrten Leistungen.

3. Das Verfahren ist für alle Beteiligten gerichtskostenfrei. Die Entscheidung zu den außergerichtlichen Kosten beruht auf dem Rechtsgedanken des § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG und berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens. Eine Kostenerstattung zugunsten der Beigeladenen erscheint nicht angemessen, weil diese sich mit ihrer Stellungnahme zwar am Rechtsstreit beteiligt, aber keinen Antrag gestellt hat.
Rechtskraft
Aus
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